Tagebuch von Matthias Huth 2014

 

30. Oktober 2014


Kinnhaken


Heute vormittag gab es im DNT auf der Studiobühne die Premiere von „Helden“. Karen Köhler hat die Geschichte des Jonas Brand fortgeschrieben. Aber es ist nicht zwingend notwendig, den ersten Teil zu sehen, da er in diesem Jugendtheaterstück noch einmal mit neuen Sichten verhandelt wird.


Dass das junge Publikum begeistert bis frenetisch applaudiert, ist berechtigt. Denn Karen Köhler ist mit diesem Text ganz nah am Puls der Zielgruppe. 75 Minuten spannendes, witziges, engagiertes und atemberaubendes Theater mit tollen Dialogen, überzeugender Umsetzung und drei Akteuren (Murat Dikenci, Katharina Hackhausen und Jonas Schlagowsky), die sich ohne Attitüden die Seele aus dem Leib spielen.


Diese Art Theater hat mich sehr berührt und begeistert, weil es so viel Authentizität und Kraft versprüht, Thema wie Publikum ernst nimmt und nebenbei ein gekonnter Kinnhaken gegen die Nazibrut ist. Die Comics von Philipp Michael Börner sind von Videokünstler Bahadir Hamdemir intelligent eingesetzt, und geben der schlichten, aber effektiven Bühne den nötigen Raum.


Ich empfinde es zudem als kluge spielplanerische Entscheidung, die „Helden“ auch als abendliche Vorstellungen anzubieten. Denn die Themen berühren alle Altersklassen.


Fazit: Nehmt eure Kinder (wenn sie älter als zwölf Jahre sind) und schaut Euch dieses Stück an. Und wenn ihr keine Kinder habt, geht trotzdem hin. „Helden“ ist wichtig, klug, politisch und unterhaltsam. Und diese vier Adjektive dürften Empfehlung genug sein.


PS. Falls jemand meckert, dass eine Handlungsbeschreibung fehlt: geht trotzdem hin!



29. August 2014


Ohne Löschblatt


Die Goethe-Gerontokratie ist zum diesjährigen Geburtstagsjubiläum des Dichterfürsten in ihrem festgefahrenen Rezeptionsbild erschüttert worden. Denn Wilhelm Solms stellte am Frauenplan auf der Freifläche des „Versilia“ sein im Mai 2014 erschienenes Buch “Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten“ vor, und es darf schon jetzt nach fast ausverkaufter Erstauflage prophezeit werden, dass es die Literaturwissenschaftsszene und die kleinstädtische Weimarer Historiendenkart unsanft aus dem Dornröschenschlaf katapultieren wird.

Doch zunächst zur Vorgeschichte.


Vor elf Jahren fand der Jurist und Hobby-Goetheforscher Ettore Ghibellino etwas heraus, was die braven Germanisten wohl seit hundert Jahren übersehen haben oder nicht wahrnehmen wollten: es weist Vieles schlüssig darauf hin, dass Goethe mit Großherzogin Anna Amalia nicht nur eine platonische Liebe verband. Frau von Stein war demzufolge nur eine Art Mittlerin. Diese These hat viele Chancen und ernsthafte Grundlagen um eingehend erforscht zu werden, da Ghibellino zudem mit seinem 2003 erstmals und inzwischen in vierter Auflage erschienenen Buch „Goethe und Anna Amalia – Eine verbotene Liebe“ eine fast kriminalistisch und auch für Laien sehr gut lesbare Steilvorlage lieferte. Doch wir sind halt in Weimar, und da laufen die Uhren manchmal rückwärts. Um die Abschriften der Weimarer-Klassik-Stiftungsforscher nicht Makulatur werden zu lassen, ließ der amtierende Stiftungspräsident nebst Gattin nichts unversucht, um Ghibellino als Person zu diffamieren oder seine Thesen beredt zu ignorieren. So fand sich beispielsweise bei der großen Anna-Amalia-Ausstellung nicht mal eine Fußnote zu Ghibellino, und auf der Website der Stiftung hat ein anonymes Autorenkollektiv nach wie vor Platz, um in einer Stellungnahme von 2008 Unwesentliches gegen besagten Autor vorzubringen. Auch die ehemalige Kunstfestchefin Nike Wagner übte sich bei einer beliebten Literatursendung in öffentlicher Abgrenzung und ist vielleicht auch deshalb bei der Goethegesellschaft immer noch ein gern gesehener Gast.

Auch überregional hielten sich die Goethe-Siegelbewahrer keineswegs bedeckt. Der Präsident der Goethe-Gesellschaft, Jochen Golz, sprach von „ingeniöser Schwindelei“, und seine Mitstreiter äußerten sich ähnlich. Da wollten natürlich auch die Thüringer Feuilleton-Edelfedern Goldberg und Hirsch nicht nachstehen, und ließen sich süffisant und ohne ernsthafte Hinterfragung über die Person Ghibellinos und seine seriöse Forschung aus. (Während Ersterer jetzt mit seinem Ruhestand kolumnistisch noch etwas hadert, muss Letzterer sich wohl nach dem Nike-Wagner-Weggang erst an die frische Luft des neuen Kunstfest-Intendanten Holtzhauer gewöhnen. Ist bei andauernder Hofiererei ja nicht so ganz einfach ...)


Man könnte also von kollektivem Rufmord sprechen. Doch Ettore Ghibellino ist ein intelligentes Stehaufmännchen, und so gründete er den exklusiven und mittlerweile auf 250 Mitglieder angewachsenen „Anna Amalia und Goethe Freundeskreis“. Dieser sammelt nicht nur Goetheliebhaber, sondern zudem gewichtige wissenschaftlich kluge Köpfe wie den Psychologen Hubert Speidel, den Historiker Stefan Weiß, den Literaturforscher Jochanan Trilse-Finkelstein oder die Germanistin Ilse Nagelschmidt (die akademischen Titel habe ich einfach mal weggelassen), die sich alle akribisch und aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Verhältnis von Anna Amalia und Goethe auseinandergesetzt haben und zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Ghibellino kommen. Und es ist dem frischen Wirken der neuen TA-Feuilletonchefin Lavinia Meier-Ewert zu danken, dass sie am Goethegeburtstag in ihrer Zeitung dem „elegant gekleideten Italiener mit Impresario-Frisur“ vorurteilsfrei begegnet und einige unfaire Gegner seiner Forschung klar benennt. (Zwar hatte Urs Jenny vom „Spiegel“ für überregionale Beachtung gesorgt, aber das ist nun auch schon sechs Jahre her).


Nun mag sich der Weimarer vielleicht fragen ob es uns heute nicht ziemlich egal sein kann, mit wem Goethe ein Liebesverhältnis hatte, und mag damit sogar partiell Recht haben, da die Stadt wichtigere Probleme plagen. Wenn man sich aber vor Augen führt, dass eine ernsthafte wissenschaftlich und kulturelle Ausbeute dieser neuen Sicht auf Goethe den Tourismus des Kleinstädtchens weltweit gewaltig angekurbelt und die Stadtkassen etwas mehr gefüllt hätte, Weimar nicht nur durch Bibliotheksbrände oder Sattelschlepperunfälle in die überregionalen  Medien käme, und sich zudem die Stiftung endlich mal wieder profilieren könnte, dann ist also dieses neue Licht auf Goethes Leben und Wirken durchaus auch ein verpasster wirtschaftlicher Faktor. Und somit geht es die Weimarer mittelbar eben doch etwas an.

Zurück zur Gegenwart und eingangs genannter Lesung. Prof. Wilhelm Solms, Jahrgang 1937, lehrte als Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg. Obwohl mittlerweile im Ruhestand, ist er seiner Goethe-Leidenschaft treu geblieben, die er mit seiner Promotion über den „West-östlichen Divan“ begründete. Das Neue an seiner Sicht auf den Dichterfürsten ist, dass er dessen Liebesgedichte biografisch und chronologisch ernst nimmt. Da gibt es zum Beispiel den „Lida-Zyklus“, der in einigen Werkausgaben einfach fehlt, weil man mit den Gedichten an eine unbenannte Frau nichts anzufangen wusste.


Liest man aber unter dem Blickwinkel der Ghibellino-These, erklärt sich das Ganze durchaus schlüssig. Da Goethe Anna Amalia nicht öffentlich lieben konnte, verbirgt er seine Gefühle auch in späteren Jahren in poetischen Huldigungen von Bäumen, Felsen oder Nymphen. Denn man darf nicht vergessen, dass eine Liaison vom Bürgertum und Adel nicht gestattet war, und Goethe somit lieber die Privilegien und das Geheimnis wählte, anstatt das Schicksal von Struensee zu teilen (dem man nach entdeckter Liebe zur dänischen Königin Caroline Mathilde die Eingeweide herausgerissen hatte). Insofern ist auch die Behauptung,  dass er durch die sexuell-asketische Disziplinierung der Charlotte von Stein zum großen Dichter gereift wäre, als geltende Lehrmeinung nun endgültig zu hinterfragen. Und Frau Stein nimmt Wilhelm Solms ebenso ernst, und verweist auf ihre böse Schmähschrift „Rino“, welche durch ihre Figurenaufstellung klar zeigt, dass Goethe wohl zunächst zwischen Charlotte und Amalia pendelte, bis die Großherzogin ihn quasi durch ihre Macht vereinnahmte, die Hofdame in gefühlsmäßige  Schwanken zwang, und damit den Liebeskampf für sich entschied. Auch die „Römischen Elegien“ und die „Venezianischen Epigramme“ (um nur zwei aufzuzählen) sind von Hinweisen über die verbotene Beziehung durchsetzt.


Wenn Solms vor vollbesetztem Auditorium darüber klar und schlüssig und mit brillanter Sprache referiert, ist es, als ob man ein Löschblatt von der Gedichtinterpretation Goethes zieht, und der Dichterfürst wird als normaler Mensch mit Leidenschaften erfahrbar. Solms holt Goethe nicht vom Sockel, aber er macht ihn erklärbar. Und folgerichtig lautet sein Appell an sein Publikum: „Weiter forschen!“ Wenn also der behäbige Weimarer Goethe-Traditionsverein zukünftig etwas verstört durch Weimar wandelt, ist das durchaus berechtigt. Nicht auszudenken, wenn sich zudem das Gerücht bewahrheiten sollte, dass der Prinz noch Briefe aus den Nachlass von Anna-Amalia bunkert. Aber wir wollen uns ja nicht in Spekulationen verlieren. Ghibellino und Solms haben ja genug neue Fakten geschaffen.



Wilhelm Solms

"Das Geheimnis in Goethes Liebesgedichten"

178 Seiten, Mai 2014, ISBN 978 3936134 4 45 • 14,90 €

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