Tagebuch von Matthias Huth 2011

 

3. Dezember 2011


Genial daneben


Comedy wäre zu kurz gegriffen. Denn was das Duo “Zärtlichkeiten mit Freunden” am Freitagabend im ausverkauften mon ami als Weihnachtsspecial lieferte, ist ein Humor der ganz speziellen und anspruchsvollen Art. Das Publikum speiste sich aus allen Altersstufen, die sich aber generationenübergreifend köstlich amüsierten.


Christoph Walter, Schlagzeuger und Moderator des Abends persifliert von Anfang an mit bewusst linkischer Geste den Stil einer mittelmäßigen Tanzkapelle. Die geschraubte Sprache führt schon in der “Aufwärmphase” zu skurrilen Publikumsanimationen bis man dann im Duo den “kleinen Zweig” als “Feliz Navidad” interpretiert. Womit sich dann auch Gitarrist Stefan Schramm einbringt, und ab da nimmt ein blödeliges Miteinander den erbarmungslosen Verlauf, bei dem beispielsweise die “Güttlerose”, die Beziehung von Rock’n Roll und Roggenbrötchen, sowie Uhrzeitangaben wie “eindrittelzehn” wortwitzig und in bester Karl-Valentin-Manier abgehandelt werden.


Natürlich spielt die Riesaer Heimat und der damit verbundene Dialekt eine gewichtige Rolle. Und wenn Walther dann als Nachwuchsschlagzeuger “Riggoh” den Hit “Venus” im Wortsinne “vertrommelt”, dann ist das Zwerchfell schon längst  stark malträtiert worden. “Zärtlichkeiten mit Freunden” ist für mich das Witzigste, was momentan auf deutschen Bühnen zu sehen ist, und gleichzeitig schwingt bei diesen Künstlern auch ein Hauch von Genialität mit. Denn solch perfektes Rollen- und Zusammenspiel wirkt zwar spontan, ist aber präzise getimt und intelligent erdacht.


Zusätzlich verpacken die Beiden politische Botschaften subtil und engagiert. Da geht es um Regenwald, Kinderarbeit und griechische Panzer, und die Pointen sind messerscharf und fern von Gefälligkeit gesetzt. Das ist das wahre Kunststück: Unterhaltung, Humor und kabarettistischen Biss zu verbinden. Wenn schließlich als Zugabe die Süßlichkeit des “Weihnachten in Familie”-Paares Schöbel/Lacasa schwarzhumorig parodiert wird, ist das für Ostdeutsche sicher ein doppelter Genuss. Das Duo versteht es aber auch, simple Verkaufswerbung als letztlichen Knaller zu präsentieren, und so wird das Publikum nach frenetischem Applaus erst nach fast drei Sternstunden entlassen. Dafür hochbegeistertes Bravo!




22. November 2011


Angebot für Kenner


Er gastierte in der New Yorker Carnegie Hall oder beim Jazzfestival in Montreux. Am Dienstagabend wurden Stefan Schultzes Stücke im Fürstensaal vom Jazzorchester der Musikhochschule interpretiert. Damit ehrte der unermüdliche Bigband-Leiter Bernhard Mergner auch einen Kollegen, denn Schultze ist seit diesem Sommersemester Lehrbeauftragter an der Weimarer Musik-Kaderschmiede.


Der junge Komponist saß auch ab und zu am Klavier und konnte seine Werke in Bigbandfassung erleben. "Run" eröffnete den überwiegend kommilitonisch besuchten Abend mit eng gesetzten Bläsersätzen und  Retrofeeling bis sich das Ganze im ruhigen Tempo boleroartig steigerte. „Granada“ lieferte dann Tempo mit anspruchsvollen Rhythmusstrukturen zwischen Minimal und Latin und ermöglichte Saxophon-Talent Stefan Hoffmann Raum zur Entfaltung.


Schultze forderte das Ensemble mit Unisonopassagen und ausgefeilten Sätzen und erwies  sich als versierter Ensemble-Arrangeur. Zudem bewies er sich als impressionistisch inspirierter Pianist. Sein  Konzept erinnerte an den sinfonischen Jazz um den Bassisten Eberhard Weber oder die Balladen eines Manfred Schoof. Nicht alles gelang, so blieb "Oracle night" trotz gitarristischer Finesse von Moritz Bossmann akademisch aufgebaut. Dafür überraschte das an John Scofield erinnernde "War in the 5th domain" mit einem virtuosen E-Bass-Solo von Hyun-Kyung Kim. Filigran und intensiv gestaltete sich die Duettarbeit von Schultze und Tenorsaxophonist Christoph Klan, der damit die instrumentale Entdeckung des Abends wurde.


Das sehr frei operierende  "Karawahn" und eine hymnische Passage aus "Wonderland" als Zugabe beendeten ein sehr artifizielles und ideenreich arrangiertes Konzert, welches die Leistungsfähigkeit des Jazzorchesters überzeugend unter Beweis stellte. Insgesamt aber mehr ein legitimes Insidervergnügen.




7. November 2011


Neuer Aufruhr


Die Ostberliner Band  „Pankow“ vor dreißig Jahren: die Groupies drängeln in die vordersten Reihen, die Säle und Plätze sind brechend voll. Heute füllt  der Sonntagabend das Erfurter „dasdiebrettl“ gut, aber überschaubar. Es ist ein Sitzplatzkonzert, die Groupies sind schöne Blumen mit wohlsituierten Männern. Vielleicht hat die IM-Tätigkeit des Jürgen Ehle das Rebellenimage geschwächt, vielleicht ist Geschichte auch einfach ungerecht, denn die Ostrockhallen füllen leider andere.


Die Supportband „The Baby Universal“ ist richtig gut, aber mit englischen Texten etwas deplatziert. Doch dann geschieht das Wunder. Nach Klängen von Prokofjew betritt  das Quintett die Bühne, und schon beim ersten Song hat „Pankow“ sein Publikum erobert. Da sind sie wieder, André Herzberg mit seinem provokativem Punk-Gesang ist wieder der Derwisch und Magier, der mit wenigen Sätzen alles sagt. Jürgen Ehle bleibt der Gitarrengott, der mit Herzberg die Refrains schmettert und Stefan Dohanetz trommelt die Welt zusammen. Neben der Urbesetzung schlägt sich Kulle Dziuk souverän an den Tasten und Ingo York am Bass scheint schon immer zur Band gehört zu haben.


„Pankow“ ist nach wie vor ein Gesamtkunstwerk mit griffigen und sezierenden Texten, hoher Musikalität und dem Rock’n Roll von dem Andere nur träumen können. Die Tour heißt wie die aktuelle  CD „Neuer Tag“, und das passt auch richtig. Denn die frischen Songs bestehen locker neben den zeitlosen Hits der Band, die natürlich auch erklingen. „Ich bin ich“ kommt noch druckvoller, „Doris“ ist immer noch die Liebe, „Gaby“ fliegt wieder mal durch das kleine Zimmerfenster und „Inge Pawelczyk“ bekommt diesmal eine langsamere Gangart. „Babel“ zielt auf den Zeitgeist des Einkapselns, doch „Es gibt keine besseren Zeiten“ verkündet Herzberg verlässlich und freut sich über die „Arschwackler“ und „Nachdenker“ im Publikum.


Mittlerweile stehen die Groupies tanzend am Bühnenrand, die Männer folgen willig und der Saal schmettert die Hits einmütig mit. Da ist Aufruhr in den Augen und die Rebellen sind wieder erwacht. Nach zwei Stunden und Zugaben zu denen neben „Kille, kille“ auch ein berührender Renft-Song („Was willst du mehr“) gehört, ist der Saal ein Hexenkessel, und die Band ein frischer Star. Manche Legenden leben halt weiter.



6. November 2011


Stilecht


Er macht das ja nun schon ziemlich lange, dieses Neu-Auflegen alter Schlagerschätze und Ohrwürmer. Aber der musikalische Tausendsassa und „Zimmer frei“-Gastgeber Götz Alsmann hat in seinem neuem Programm „In Paris“ wohl seine eigentliche Bestimmung gefunden.


Die fast ausverkaufte Weimarhalle erlebte am Samstagabend eine perfekte Zeitreise in die Sechziger, als Gilbert Becaud noch der Star in deutschen Kulenkampff-Wohnzimmern war, und die Baskenmütze als cool galt. Alsmann erliegt nicht dem Zeitgeist des Ironisierens: er nimmt seine erklärten Vorbilder ernst, er übersetzt adäquat ins Deutsche und erweist sich zudem als Perlenfischer, wenn er beispielsweise die Poesie und Lebensweisheit von Eddie Constantins „Vagabund“ wieder entdeckt.


Und er kann sich zudem auf ein versiertes Team verlassen. Die alten Hasen Altfrid Maria Sicking (vb, xyl, tp), Michael Ottomar Müller (b), Rudi Marhold (dr), Markus Paßlick (perc), wie der Meister babyblaue Sakkos gekleidet, lassen den musikalischen Geist vergangener Chansonzeiten mit Rumba, Cha-Cha-Cha und Musette so stilecht auferstehen, dass man über die Virtuosität und Hingabe nur verzückt staunen kann. Alsmann selbst agiert brillant und souverän mit Klavier, Ukulele, Akkordeon und der markant einschmeichelnden Stimme.


Zudem gibt er den Entertainer, der seine Womanizer-Attitüden humorvoll auslebt und nebenbei seine Weimarer Ortskenntnisse perfekt ausspielt. Ein sehr gelungener Abend und eine ehrliche Verneigung vor den Großen des Chansons wie Trenet, Aznavour, Salvador und Gainsbourg. Alte Schule mit vielen verminderten Schlussakkorden und modernem Geist gekoppelt:  das ist selten, und dadurch wertvoll.


Deshalb vier stürmisch erklatschte Zugaben. Bravo!



15. Oktober 2011


Gewohnt perfekt


Um es vorauszuschicken: “Friend ’n Fellow” ist einer der professionellsten und musikalisch hochwertigsten Weimar-Exporte und das mon-ami-Konzert am Freitagabend im Rahmen der Jazzmeile zudem ein audiophiles Erlebnis. Doch es stellt sich die Frage, wo es hingeht, wenn man alles kann. Zwanzig Jahre sind eine beachtliche Zeit für dieses Duo, man ist aufeinander eingespielt und versteht sich blindlings.


Doch es fehlt das Feuer. Und so wird die „Discovered“-Tour zu einer bilanzierenden Leistungsschau ohne wirkliche Überraschungen aber bezwingender Substanz. Es ist als ob man alte Bekannte trifft, die man nicht missen will, aber deren Geschichten man mittlerweile kennt. Dass die Zuhörer im ausverkauften Saal größtenteils älteren Semesters sind, sollte in diesen popflachen Zeiten kein Manko sein.


Das Duo entspricht den hohen Erwartungen: Constanze Friend lotet mit ihrer bezwingenden Altstimme sämtliche Facetten zwischen Scat und gefühligem Blues, Rap und kraftvollem Rock effektiv und faszinierend aus. Ihre Bühnenpräsenz wirkt nie aufgesetzt, sie bewegt sich sparsam und anmutig und im Laufe des Konzerts kommt auch ihr mimischer Humor zur Geltung, beispielsweise wenn ihr Bühnenpartner sein Instrument allzu sorgfältig stimmt.


Thomas Fellow agiert wieder als kongenialer instrumentaler Part. Sein Gitarrenspiel ist virtuos und teilweise atemberaubend schnell. Fellow erweist sich auch wieder als Harmoniefuchs, wenn er beispielsweise den Johnny-Cash-Hit "Ring of fire" in ein rasantes Picking-Abenteuer wandelt. Auch eigenkomponierte Ohrwürmer wie "Favourite girl" oder "Blue in you" bekommen einen Temposchub. Insgesamt lässt das Duo noch mehr jazzige Passagen zu, und ist vor allem dann am Stärksten, wenn es miteinander improvisiert. Dann verschmelzen stimmliches und instrumentales Können zu einem routinierten Feuerwerk, welches im Laufe der Bühnenjahre immer mehr an Perfektion gewonnen hat.


Nur kennt man das schon von vergangenen Auftritten. Sicher, Manches ist noch mehr ausgefeilt, und dem fachkundigen Fanpublikum werden partiell noch raffiniertere Arrangements geboten. Doch so richtig spannend ist das nicht mehr, es ist eher Reminiszenz denn Neuland. Es fehlen die stilistischen Brüche, alles bleibt im Rahmen kraftvoller Rhythm & Blues und Funkinterpretation. Das entspricht allerdings internationaler Spitze. Aber es bleibt auf dieser Niveauebene, man wagt weder Klassik, Bebop oder Latin, und so shuffelt das Ganze energiegeladen, aber auch schmalspurig auf der Zielgeraden.


Dass “Friend ’n Fellow” sich ihr Bühnenjubiläum vorwiegend mit Hits, beispielsweise von den Eurythmics oder AC/DC bestücken ist legitim, und liegt auch im allgemeinen Trend. Größen wie Sting, Peter Gabriel oder Rumer wildern in jüngster Zeit durchaus souverän in der Pop- und Jazzlandschaft, und auch die Tribute des Duos sind durchaus ernsthaft, wie beispielsweise die Gänsehautballade "Throw it away" als würdige Verneigung vor Abbey Lincoln. Aber das Duo hat noch eine andere Stärke, und die sollte vielleicht in Zukunft noch mehr ausgebaut werden. Thomas Fellow ist ein begnadeter Entertainer und Geschichtenerzähler. Wie er beispielsweise seinen gitarristischen Werdegang oder die erste musikalische Begegnung mit Constanze beschreibt, ist nicht nur äußerst humorvoll, sondern dramaturgisch beispielhaft gesetzt.


Nicht zu vergessen sei abschließend eine Komponente, welche das Konzert zu einem außergewöhnlichen Hörerlebnis macht. Was der Sound von “adapoe” da zaubert, erfasst raumfüllend und audiophil selbst die kleinste stimmliche Nuance. Die Lautstärken von Gitarre und Gesang sind so perfekt aufeinander abgestimmt, dass man stellenweise glaubt, in einem Tonstudio zu sitzen. Dabei wirkt der Bühnensound aber keineswegs steril, und das effektvolle Licht tut ein Übriges, um den Abend zu einem sinnlichen Erlebnis werden zu lassen.


Drei lustvoll erklatschte Zugaben mit Mitsingegelegenheit beenden das Heimspiel von “Friend ’n Fellow”, denn die Anfänge liegen in der Klassikerstadt, und darauf kann man mit Recht stolz sein. Das nächste Album soll nach Newsletter-Angaben etwas was ganz Anderes offerieren. Das wäre zu wünschen, damit das Duo nicht im Bestand von Constanzes Heimatstadt museal erstarrt.




8. Oktober 2011


Ohne Tiefenschärfe


Es ist mager, dieses „Schwein oder nicht Schwein“ als aktuelle Arche-Kabarettpremiere am Samstagabend. Dabei bemüht sich das Trio Gisela Brand, Andreas Pflug und Dominique Wand unter der Regie von Harald Richter durchaus, den aktuellen Problemen lokale Bezüge zu geben. So bekommt „unser Onkel Paul“ gleich im Entree treffsicher für seine „Ost-Erklärungen“ eine gekonnte Breitseite, der Vorschlag, dass der Papst doch lieber im Winter kommen sollte, damit Erfurt schneefrei sein könnte, sorgt für verdiente Lacher und die Hamburger Werbekampagne für Thüringen wird angemessen gegeißelt.


Der erste Programmteil plätschert dann vergnüglich dahin und findet mit „Online“ von und mit Dominique Wand, der Studie eines Internet-Besessenen, einen kleinen Höhepunkt. Auch die musikalische Frühst-Erziehung mit „Muttermundmusik“ ist von Brand und Wand gut erdacht und gespielt, zumal die Bezahlung durch den Bildungsgutschein die Szene beklemmend wandelt. Andreas Pflug als „Bauer Heinz“ verzweifelt an den Euro-Normierungen, aber es fällt kein Wort zu dem Missstand, wie viele wertvolle Lebensmittel weggeschmissen werden. Das hätte der Nummer sicher bessere Tiefenschärfe gegeben. Das Medley „Ein Lied für Europa“ ist vor allem eine Paradenummer für die exzellenten Musiker Wolfgang Wollschläger (keyb), Christian Wiedenhöft (git, b) und Burkhard Wieditz (dr).


Nach der Pause geht es dann satirischer weiter. „Einhundert Tage arbeitslos“ thematisiert präzise den Wert von Menschen ohne Job in diesem System. „Opfer“, ein Text von Philipp Schaller und großartig gespielt von Dominique Wand ist eine sehr klug gesetzte Geschichte von gesellschaftlicher Verantwortung und ist für mich der Höhepunkt des Abends. Wand ist ein sehr talentierter Neuzugang, er singt und spielt präzise und versucht Stereotypen aus dem Weg zu gehen. Das gelingt seinen Kollegen nicht immer. Sie kokettieren oft mit ihrem Ego und Gisela Brand hat auch unter Berücksichtigung der Premierensituation eine hohe Versprecherdichte.


Das Problem des neuen Programms ist einesteils die Pointenarmut und andererseits das fehlende Durchdringen von politischen Zusammenhängen. Auf die Euro-Krise und FDP-Worthülsen wird eher in Comedy-Manier geschaut, die aktuellen mdr-Skandale finden keinerlei Erwähnung. So bleibt ein vergnüglicher und professionell gespielter Abend ohne Tiefenschärfe. Trotz verdienten Beifalls: da hat man bei der Arche schon Bissfesteres gesehen...




14. August 2011


Anarchisches Heimspiel


Zwei restlos ausverkaufte Abende sprechen für sich: hier wird ein Star empfangen. Rainald Grebe mag zwar in Berlin Waldbühnen füllen, aber die Arena ist sein Zuhause. Die gedrängte Besuchermenge erzeugt Zwiebelmarktfeeling, und erwartet einen gutgelaunten Entertainer mit absurdem Humor, Clownerie, das Orchester der Versöhnung und natürlich die exklusive Konzertlänge. Da die Sondergenehmigung ausgestellt ist, bleibt keiner der Wünsche unerfüllt.


Eberhard vom Streichquartett sitzt zunächst allein auf der Bühne. Bass- und Balalaikaspieler Serge Radke eröffnet verhüllt und im Kleid mit einem Alphorn aus Abwasserrohren bis der Meister seinen Bürostuhl am Klavier besetzt und launig über den kürzlichen Auftritt in Saalfeld plaudert, („Mann, waren wir da bekifft!“), Eberhard für seine Pünktlichkeit lobt, verschiedene Hitansätze probiert bis er schließlich mit versammelter Besetzung den Song vom „Angeln“ zelebriert. Da hat er die Massen mit launigen Sprüchen und der anarchischen Dramaturgie schon längst erobert, und sie werden ihm an den Wochenendabenden fast drei Stunden lang fasziniert, amüsiert und hingebungsvoll lauschen.


Grebe ist ein Bühnenmagier, der es versteht, sich beständig zu persiflieren. Sein Dasein als Star der Szene karikiert er mit Königskrone durch den Song „Oben“ und lässt dabei kein Klischee der Upperclass aus. Gleich danach stoppt er seine Protzparade um dem Publikum zu versichern, dass er ja einer von ihnen ist, um dann lapidar zu verkünden: „Doch eher nicht!“ Es sind diese Brüche, die seinen Auftritt so spannend machen, diese ungehemmte Art, mit sich und dem Publikum zu spielen.


Doch hinter der komischen Attitüde steckt auch sicheres politisches Bekenntnis: wenn er als „Diktator der Herzen“ politisches Establishment geißelt, den Biedermeier des Prenzlauer Berges erneut fokussiert, oder mit „T.I.A.“ arrogante touristische Haltungen gegenüber Drittweltländern verdeutlicht. Er singt mit schnarrender Stimme, begleitet sich selbst auf dem Flügel, conferiert intelligent und arbeitet mit seinen Musikern scheinbar spontan, aber mit bestechender Präzision.


Die älteren Herren vom Berliner Streichquartett sind sowohl frotzelnder Angriffspunkt als auch klassischer Ruhepol mit Vivaldi und Mozart. Der Jenaer DJ „Smoking Joe“ arbeitet zuverlässig in Generalsuniform Sound- und Zitatcollagen zu. Martin Brauer (dr), Markus Baumgart (git) und Buddy Casino (keyb) sorgen für den rockigen und erdverbundenen Schwung und nehmen mit Fantasiekostümen und Klischeeverhalten auch gerne ihren Berufsstand auf die Schippe. Grebe singt vorrangig Repertoire aus seiner letzten Produktion: unter Anderem die Mediensatire „Maik aus Cottbus“ (mit männlichem Stripper) den „fetten Rolf“ und das „Zwanzigste Jahrhundert“.


Aber er gewährt mit „Autonomie“ auch Einblick in seine neue CD „Zurück zur Natur“, welche im September erscheint. Da geht es um Landflucht aus städtischem Stress, und es endet nach Art des Meisters im erneutem Chaos. Zum Ende des Abends holt er dann Frauen zum „Handtaschentanz im Haus der Kulturen“ auf die Bühne, und beschließt offiziell mit seinem „letzten Tag“, bei dem er Gevatter Tod ein Schnippchen schlägt.


Der lange Zugabenteil enthält neben dem „Präsidenten“ noch mal alle Neubundesländerhymnen, die natürlich begeistert mitgesungen werden, bis das melancholische „Es ist gut“ das Heimspiel beendet. Und alle, welche dabei waren, werden künden: das war wieder mal ein Arenafest mit Kultcharaker.





31. Juli 2011


Mitreißende Dreierkombination


Anarchisch, intelligent und durchgängig witzig präsentierte sich die Arenacomedy zur Halbzeit des Festivals. Und obwohl die Arena schon verregneteren Abenden standgehalten hatte, zog man am Sonntagabend ins Volksbad. Wahrscheinlich wären sich die 500 Besucher auf der Freifläche auch verloren vorgekommen. Dass im Vergleich zum Vorjahr noch einmal 300 Zuschauer weniger gekommen waren, hatten die Akteure nicht verdient, denn die Organisatoren bemühten sich auch bei der zweiten Ausgabe, dem verflachenden Trend des Genres etwas entgegenzusetzen.


„FiL“ moderierte und dominierte den Abend mit einem hinreißend komischen Solo. Linkisch, und sich ständig selbst reflektierend ironisiert er sowohl Liedermacher- als auch Esoterik-Szene. Seine mit Gitarre begleiteten Kurzsongs sind pointierte Zwei- bis Vierzeiler, werden aber durch seine absurden Erklärungen von Befindlichkeiten und Inhalten zusätzlich mit Witz aufgeladen. Dabei bleibt „FiL“ immer sanft und hintergründig, und das macht den Reiz seiner Performance aus.


Steve Rawlings aus England war denn auch ein kontrastierender Gegenpol. Der Jongleur hat seine Wurzeln im Vaudeville-Theater und geht atemberaubend offensiv auf sein Publikum zu. Man bestaunt fasziniert, wie er Tennisbälle ausspuckt und wieder mit dem Mund fängt, Möbel durch die Luft wirbeln lässt und volle Tabletts mit seinem Kinn ausbalanciert und gleichzeitig noch moderiert. Dass ist perfektes Handwerk, gepaart mit meist derben Witz und reißt das eher verhaltene Auditorium zu Applaus-Salven hin.


Dritter im Bunde war der Vorjahres-Abräumer Michael Hatzius, der mit seiner Echsenpuppe eine sehr originelle Bühnenfigur geschaffen hat. Er führt das fast mannsgroße Macho-Reptil äußerst präzise, und lässt es über Evolution und Religion schwadronieren. Die Echse ist eine echte Kultfigur, die schließlich sogar Publikumsfragen schlagfertig beantwortet. Leider hatte Hatzius aus seinem Figurenarsenal nur noch das schüchterne Huhn mitgebracht. Die Stabpuppe leitete seinen Auftritt zwerchfell-strapazierend ein, doch geriet der Part des Puppenspielers im Vergleich zu den beiden anderen Akteuren doch etwas zu kurz.


In Erinnerung wird sicherlich die virtuose Novelle von „FiL“ bleiben, in der er in alphabetischer Folge Wörter zu einer grotesken Handlung reiht, sowie die rasante Feuerjonglage von Steve Rawlings inklusive brennender Kopfbedeckung. Von solcherart Hitzeentwicklung begeistert und nach frenetisch beklatschtem Humorfeuerwerk sei es folgerichtig, der zweiten Arena-Halbzeit etwas wärmere Temperaturen zu wünschen.



28. Juli 2011


Jena liebt Anna (und Anna liebt Jena)


Es ist ihre Open-Air-Premiere und zugleich Einstand in der Arena. Anna Depenbusch lockt 1700 Besucher in das Jenaer Areal, und die wurden bestens unterhalten.


Depenbusch gilt als Senkrechtstarter in der deutschen Chanson-Szene. Diese Position hat sie sich redlich verdient. Mit Beharrlichkeit hat sie trotz des unverdienten Misserfolgs ihrer Debüt-CD „Ins Gesicht“ an sich geglaubt, und mit „Die Mathematik der Anna Depenbusch“ ein weiteres Album vorgelegt, welches textlich und musikalisch fasziniert, und in den Verkaufscharts vordere Plätze belegt.


Ihr Konzert speist sich aus beiden Produktionen. Dazu hat sie sich ihre Hausband mitgebracht. Ulle Rode gibt sich an der Gitarre sowohl filigran als auch rockig, Anne de Wolff bedient souverän Geige, Posaune und Akkordeon und Oliver Karstens sowie Martin  Engelbach sorgen an Kontrabass und Schlagzeug für solide Gerüste.


Anna Depenbusch ist an diesem Mittwoch keine typische Frontfrau vor diesem Quartett. Die zierliche Hamburgerin verortet sich im sensiblen Chanson, welches eigentlich intimere Rahmen fordert. Dass das Konzept trotzdem auf großer Bühne aufgeht, liegt an ihrer suggestiven Stimme, ihrem versierten Klavier- und Gitarrespiel und dem natürlichen Auftreten, welches sie mit einer kleinen Prise Exaltiertheit paart. Die musikalische und intelligent arrangierte Bandbreite reicht zudem von Country über Tango bis zu rockigen Ausflügen; zwischendurch serviert sie eindringliche Balladen.


Letztlich sind es Depenbuschs Texte, welche das Publikum in den Bann ziehen. Sie ist eine analytisch genaue Beobachterin von Beziehungsproblemen, und versteht es genial, diese in leichter, tiefsinniger und eingängiger Lyrik zu verpacken.  Wenn sie bei „Astronaut“ Gefühlskälte und Ichbezogenheit anprangert oder in „Kommando Untergang“ herzzerreißend das Leid der Verlassenen schildert, dann sind das intensive Balladen zum Niederknien. Daneben  steht die Leichtigkeit des Ohrwurms „Tim liebt Tina“, der den ewigen Liebesreigen pointiert beschreibt.  Spätestens da liebt Jena Anna. Denn Depenbusch interpretiert nicht nur, sondern singt ihre Seele.


Diese Authentizität quittiert das Publikum sowohl mit Aufmerksamkeit, als auch frenetischem Applaus. Drei Zugaben beenden einen großartigen und intensiven Abend, der sicherlich zu den diesjährigen Arenahöhepunkten gezählt werden kann.




21. Juli 2011


Zu kurz gespielt


Schade, es hätte am Mittwoch ein perfekter Arenaabend werden können: die Temperaturen sommerlich, der „adapoe“-Sound stimmig, die Arena mit 800 Besuchern zwar mäßig, aber drängelfrei gefüllt und eine entspannte, intelligente Musik aus Norwegen.


“Beady Belle” ist ein Quintett, welches sich dem Nu Jazz verschrieben hat. Diese Klassifizierung bezeichnet eine Stilart zwischen Pop, Elektronik und Jazzelementen, welche durch Klangflächen und starke, meist tanzbare rhythmische Strukturen gekennzeichnet wird. Es war eingängig, was da von der Arenabühne schallte, und die Musiker zudem unaufgeregt aufeinander eingespielt und virtuos.


Frontfrau Beate S. Lech zeigt schon mit dem eingangs gespielten “Closer” kühlen Charme und kraftvolle Stimme, die modulationsfähig und mit vielen Scat-Einlagen zu betören weiß. Pianist Jørn Øien zaubert auf Fenderpiano, Synthesizer und Klavier hypnotische Collagen oder funkige Clavinetsounds und brilliert bei solistischen Einlagen. Überhaupt lässt das Konzept Platz für die choristische Entfaltung von Tommy Kristiansen (git), Marius Reksø (b) und Schlagzeuger Erik Holm. Letzterer liefert gekonnt Strukturen, die elektronischen Beats sehr ebenbürtig sind.


So entsteht eine mitreißende musikalische Melange, die manchmal im elegischen Blues verharrt, kraftvoll im Motown-Funk wildert (“Irony”) oder mit sanften Flächen und intensivem Gesang betört (“Come home”). Nach einer dreiviertel Stunde Spielzeit kündigt Beate S. Lech den letzten Titel an, und zwanzig Minuten später gibt es dann mit dem atmosphärisch dichten “When my anger starts to cry” eine und dazu abschließende Zugabe.


Das verstimmt, denn solch kurzes Konzert war weder vom Veranstalter vereinbart, noch der Publikumsreaktion angemessen.


Es hätte ein perfekter Abend werden können.



27. Juni 2011


Dornröschens Zukunft

Eine Weimarer Ermunterung



Stellen Sie sich vor: die Kinder spielen an einem Strand, an dem die Ilm vorbeifließt. Sie schauen zu, trinken einen preiswerten Kaffee, sitzen im Grünen und wenn Sie Lust haben, gehen Sie auf dem Gelände ins Theater oder ins Kino. Sie können sich dort aber auch einfach nur mit ihren Freunden treffen, den innerstädtischen Verkehr auf dieser Erholungsinsel vorbeifließen lassen und in Weimar Ruhe und Entspannung finden.


Dass diese Vision Wirklichkeit werden kann, verdanken wir den Prinzen Sven Opel und Dirk Heinje. Sie haben das Dornröschen namens E-Werk-Gelände am Kirschberg mit ihrem Programmkino schon teilweise wachgeküsst, und einen cineastischen Anziehungspunkt geschaffen, der mittlerweile generationsübergreifend angenommen wird. Mit viel Elan und Idealismus und ohne öffentliche Bezuschussung machten sie aus ihrer Kinoleidenschaft eine Berufung, und die Zuschauerzahlen bezeugen, dass gute kulturelle Ideen durchaus auch wirtschaftlich sein können.


Seit Mai 2010 haben die Beiden nun ihr Konzept zur langfristigen Entwicklung dieses Geländes vorgestellt. Die Idee ist älter, und die Beweggründe lagen auf der Hand: die Erhaltung des Straßenbahndepots und damit natürlich auch die eigene Investitionssicherung. Die Anfänge, das Areal kulturell zu erschließen, lagen schon beim ersten Kunstfest. Da hatte Barbara Rauch vom ACC hier schon ein kleines Theaterfestival veranstaltet. Folgerichtig holte man später das DNT ins Boot, welches eines der Gebäude als Experimental-Außenstelle nutzt, und trotz jetzigem Intendantenwechsel den Mietvertrag aktuell verlängert hat.


Das Gelände gehört den Stadtwerken, und die würden es Sven Opel und Dirk Heinje auch gerne verkaufen. Haben sie doch schon dauerhaft bewiesen bekommen, dass die beiden Jungunternehmer das Potential des E-Werks  längst erkannt haben, und es im städtischen Sinne betreiben. Zumal Opel und Heinje weimarumfassend denken und planen: das Schießhausgelände soll eine infrastrukturelle Anbindung bekommen. Mittels einer kleinen Ilmbrücke wäre der Weg für Radfahrer und Fussgänger fern vom Autoverkehr geebnet.


Ebenso könnte das Schlachthofviertel für die neuen Bewohner mit kurzem Weg zum E-Werk attraktiver werden, und Wanderer könnten von Weimars Innenstadt noch bequemer den Tiefurter Park erreichen. Nebenbei würden die Prinzen mit Schießhaus und Schlachthof daran beteiligt sein, gleich noch zwei Dornröschen aus langem Schlaf zu holen.


Und weil wir gerade bei Vergangenheiten sind: auch ein neues Ilmbad schwebt Beiden vor. Historische Bilder bezeugen ein damalig fast 50 Meter langes Becken und reges Badetreiben an der Stelle, wo Ilm und Asbach zusammenfließen. Mit Sauna, Strandlandschaft und kleiner Gastronomie wäre das sicher ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt.


Das Zentrum des E-Werks soll aber eine Art Sommer-Rondell sein, welches Möglichkeiten zum Verweilen und Open-Air-Veranstaltungen bietet. Mit kleinen Flohmärkten hat man da schon mal einen attraktiven  Vorgeschmack ermöglicht. Aber die Ideen reichen noch weiter. Das Tasifan-Zelt fände dort temporär einen Stellplatz, die Bauhaus-Universität Weimar könnte seine Projekte präsentieren und kleine Märkte ein Publikum aller Altersstufen locken. Eine Gastronomie mit fairen Preisen würde sich etablieren. Überhaupt sind die Beiden offen für gewerbliche Ansiedlungen, die dem Konzept dienlich sind.


Was diese Visionen aber noch so bestechend und realitätsnah macht ist der Aspekt, dass Opel und Heinje dafür von der Stadt kein Geld wollen, sondern nur wünschen, dass Weimar die Planungen wohlwollend und gegebenenfalls bei Genehmigungen beschleunigend unterstützt. Allerdings haben die Beiden schon jetzt erfahren, dass ihnen bei den Ämtern und Institutionen viel Wohlwollen und Ermutigung zuteil wird. Zudem können sie auf einen gewichtigen Pool von Handwerksbetrieben, Universitätsmitarbeitern und Stadtpolitikern bauen. Denn ein solches Projekt kommt allen Weimarern und ihren Besuchern zugute und bildet dauerhaft ein dringend benötigtes Gegengewicht zur manchmal erdrückenden Hochkultur Weimars.

Das Konzept zu solcherart Ausbau des E-Werk-Areals samt Anbindungen erfährt schon jetzt soviel kollektive Zustimmung, dass die Umsetzung eigentlich kein Problem darstellt, wenn alle an einem Strang ziehen. Denn natürlich gibt es auch ein paar Hürden und Wünsche.


Die Parkplätze könnten beispielsweise zwar auf dem E-Werk-Gelände ausgewiesen werden, aber optimaler wären andere Varianten. Der private Eigentümer des Mühlgrabens könnte mit ausreichendem Entgelt der Ausschachtung seines Geländes zustimmen, und sommerliche Geruchsbildungen vermeiden. Auch das Land wäre gut beraten, die Lichthaus-Betreiber bei der Entsiegelung des Kerngeländes zu unterstützen, damit Altlasten im Boden endlich verschwinden, und die Begrünung nachhaltig erfolgen kann. Fördergelder und gesetzliche Möglichkeiten sind ja schon längst denkbar gewesen, aber jetzt liegt endlich auch ein schlüssiges Konzept vor.


Ein Ämterworkshop wäre sicherlich auch konstruktiv, und könnte Kräfte sowie Erfahrungen bündeln. Und letztendlich könnte man damit auch Anwohnern eventuelle Bedenken nehmen. Denn Opel und Heinje haben als Veranstalter schon in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass es nicht zu exzessiven und störenden Nachtgelagen kommt, und die Nachbarn dadurch nicht unzumutbar gestört werden.

Schon in diesem Jahr soll ein ansprechender Eingangsbereich mit Infobox an der Fußgängerzone Ecke Friedensstraße/Kirschberg entstehen. Sanierungen sind zudem zeitnah fällig.


Für die Realisierung des Gesamtkonzepts veranschlagen die Prinzen fünf bis zehn Jahre. Sie haben dafür das Schlagwort "Slow culture" kreiert, dass  inhaltlich ein wenig an die Slowfood-Idee erinnert. Denn um Nachhaltigkeit zu erreichen, soll unter diesem Slogan nicht alles schnell auf einen Schlag entstehen, um weiterhin offen für Entwicklungen und Ideen zu sein. Dazu gehören landschaftsplanerische Gestaltungen ebenso wie die Ansiedlung regenerativer Energien, die eine dauerhafte ökologische Nutzung ermöglichen.


Es ist also viel zu tun, aber es ist machbar. Das E-Werk-Konzept ist nichts für Kleingeister und Burgherrenpolitik. Während der "Kosmos Weimar" vor sich hindümpelt, könnte hier ein neuer, frischer Planet entstehen, der sowohl attraktiver innerstädtischer Treffpunkt, als auch eine originelle Visitenkarte Weimars sein könnte.


In diesem Sinne: lasst uns Idealismus bündeln und die Weimarer Dornröschen wachküssen. In den historischen Hecken sind wir lange genug hängengeblieben.




21. Juni 2011


Gesangsmagier


Dieser Mann ist ein Orchester in Personalunion. Das mag unglaublich klingen, aber die 1900 Besucher, welche Bobby McFerrin am Montagabend im restlos ausverkauften Leipziger Gewandhaus erlebten und jubelnd feierten, werden das bestätigen können. McFerrin ist der vokale Superstar schlechthin, und er wird von Tour zu Tour noch besser. Für das gastgebende A-cappella-Quintett „amarcord“ aus Leipzig ging mit diesem Auftritt ein Wunschtraum in Erfüllung.


2009 hatten sie angefragt, und vor einem Jahr kam die ersehnte Bestätigung. Die Karten waren natürlich sehr schnell ausverkauft. Denn McFerrins aktueller Tourplan führt ihn in Deutschland nur noch am 9. Juli nach Baden-Baden, und so darf sich das kleine und feine A-cappella-Festival schon als Ehre anrechnen, dass der Star hier gastierte. McFerrin war schon am Samstag in Leipzig gelandet, und nutzte die Zeit, um mit den Sängern von „amarcord“ das „Bachhaus“ zu besuchen. Er ist seit langem großer Verehrer des Komponisten, was auch sein Projekt „Singing Bach“ verrät.


Viele werden McFerrin nur durch seinen Superhit „Don’t worry, be happy“ kennen, aber das ist nur eine winzige Facette dieses Sangesgenies. Er kommt nur mit einer Wasserflasche und einem Mikrofon auf die Bühne, und beginnt mit einem afrikanischen Volkslied. Gleichzeitig imitiert er den Bass, das Schlagzeug und singt die Melodie. Er hat dazu eine spezielle Technik entwickelt, zwischen Oberton- und normaler Stimme zu wechseln, und schlägt zudem den Rhythmus mit der Hand auf seine Brust.


McFerrin zu erleben, ist ein intensives Erlebnis. Sein Repertoire ist breit zwischen Blues, Klassik, Pop, Folk und Latino gefächert. Da erklingt das „Ave Maria“, „Blackbird“ von den Beatles und „Smile“ in einer Rumba-Version, und man hat das Gefühl, dass da statt eines Solisten ein Ensemble auf der Bühne steht. Er interpretiert „Baby“ aus seiner brillanten CD „Vocabularies“, erzeugt dabei vokal eine Art Echo und füllt diese Chor-Komposition so seelenvoll aus, dass die berühmten Schmetterlinge im Bauch pausenlos am Flattern sind.


Was den Abend so magisch macht: McFerrin fordert die Kreativität seines Publikums. Denn er hat sein Singspiel mit dem Publikum in diesem Programm noch weiter ausgebaut. Er fragt ins Publikum, ob jemand Lust zum Tanzen hätte, und tatsächlich meldet sich die junge Lisa, und tanzt auf der Bühne professionell zu seinen Gesangsimprovisationen. Wenig später sitzt er mit zwei Mikrofonen am Bühnenrand, und Sabine singt alle drei Strophen von „Und in dem Schneegebirge“, begleitet von den spontanen Intentionen des Stars. Dann ist der Bann gebrochen, und das Gewandhaus wandelt sich in einen Talenteschuppen besonderer Güte. Mehrere Amateur-Sänger kommen auf die Bühne und zelebrieren mit dem Meister kurze Improvisationen. Und sie haben allesamt tolle Vorschläge, und offenbaren ein gewichtiges Können.


Zwischendurch singt er mit „amarcord“ das „Tourdion“ und lockert das Madrigal mit Instrumentenimitationen humorvoll auf. Das Quintett nimmt die Bälle dankbar auf, und so wandelt sich das mittelalterliche Stück zu einem modernen Furioso. Auch Jeannifer Martin aus Panama, die Partnerin von „amacord“-Tenor Wolfram Lattke, feuert mit virtuosem Latinogesang sich und McFerrin mitreißend an, doch alle andere Publikumsbeteiligung ist spontan und ungeprobt. Das Gewandhauspublikum schmettert beispielsweise zu seiner Begleitung einstimmig und absolut notensicher den Bolero von Ravel oder den Musicalhit „Over the rainbow“.


McFerrin beherrscht seine Stimme in einer Perfektion, die auf der Welt wohl einmalig ist. So intoniert er ein bluesiges Gospelgebet sehr leise und verhalten, aber mit derartig lang ausgesungenen Blue-Notes, dass man einfach nur atemlos zuhört. Er hält das Mikro an seinen Hals und erzeugt mit bestimmter Gesangstechnik täuschend echte Autogeräusche, er dirigiert den Publikumsgesang durch Hüpfen (er ist mittlerweile über Sechzig!) und improvisiert gleichzeitig, und schließlich holt er dreißig Leute auf die Bühne, die mit ihm einen afrikanischen Chor bilden. Das Ganze kommt mit solcher Magie, Leichtigkeit und Humor daher, dass die Zuschauer vom ersten Song an hingerissen sind, und deswegen gibt’s auch eine Zugabe, bei der McFerrin auf Publikumswunsch Rachmaninoff singt. Noch eine Viertelstunde nachdem der Künstler endgültig in die Garderobe entschwindet,  hört der  tobende Applaus nicht auf, bis das Publikum beseelt in den Leipziger Sommerabend geht.




5. Juni 2011


Verzauberungen


Ein kleiner Köhlerjunge bekommt von seinem Vogelfreund eine Geige geschenkt. Er erfährt, wozu er in der Welt nützlich sein kann, wandelt Kleines in Großes, oder umgekehrt und fiedelt sich schließlich zum Mond. Dieser zauberhaften und poetischen Janosch-Geschichte hat sich das Puppentheater "Waidspeicher" angenommen, und feierte damit am Samstagnachmittag Premiere.


Es ist nicht einfach, für die Jüngsten Geschichten auf der Bühne zu erzählen, denn man muss Bewegungsdrang und Mitmachfieber einkalkulieren. Regisseurin Sylvia Wanke gelingt das hervorragend, denn sie setzt das Märchen mittels sinnlichen Figuren und permanenten, kindgerechten Einfällen sanft und spannend in Szene. Die drei Akteure Anna Fülle, Paul Günther und Martin Vogel beginnen zunächst als leise Erzähler, bis sie Josa als Puppe aus der Wäschekiste erstehen lassen. Zwei Wäscheleinen und eine Leiter werden die hervorstechendsten und wandelbaren Requisiten sein, ansonsten agiert das Trio mit Federn, Tüchern, Masken und Lichteffekten.


Die Musik von Katharina Wibmer pendelt zwischen Klezmer und Klassikzitat, kann allerdings das Vorwärts- und Rückwärtsspiel, welches für die Geschichte bedeutend ist, nicht wirklich fassbar umsetzen. Dies ist allerdings das einzige kleine Manko der Inszenierung. Wenn Anna Fülle eine Ameise vergrößert, oder Martin Vogel als Ziegenbock wächst, werden mit kleinen Mitteln und witzigen Regieeinfällen für die Zuschauer aller Altersgruppen sinnliche Erfahrungen vermittelt.


Und auch für Erwachsene gibt es viel Anlass zum Amüsieren, besonders wenn Paul Günther komödiantisch in Frauenrollen wechselt. Die einfühlsame Lichtgestaltung von Felix Bauer und letztlich natürlich auch die Puppen und Masken, welche von Regisseurin Sylvia Wanke eingebracht wurden, fügen das Figurentheater zu einem sehr sehenswertem Ganzen, welches sicherlich Jung und Alt begeistern wird, und eine würdige Janosch-Entsprechung ist. Am Ende der begeistert beklatschten Vorstellung ruft ein zweijähriger Junge: "Da bring ich noch mal alle meine Kinder mit!" Was der Kritiker hiermit auch empfehlen würde.



27. März 2011


Unter Mittelmaß


Die aktuelle Arche-Premiere ist kalauerndes Nummernprogramm ohne Tiefgang


Man hätte gewarnt sein können, denn die Arche-Premiere „Ab durch die Mitte“ am Samstag begann mit der Aufforderung der Akteure, die Erwartungen herunterzuschrauben, damit man das Programm gut fände. Dass aus der Koketterie ein Menetekel wurde, lag an einer fehlenden Idee, welche den Abend hätte tragen können.


Beatrice Thron gab versiert entweder schnippische Diva oder entsetzte Hausfrau und zweimal eine (leider auf Äußerlichkeiten beschränkte) Bundeskanzlerinnen-Parodie. Ulf Annel ist wieder philosophierender Hausmeister, Erklärbär oder Troll. Das soll erheitern, tut es durch seine schauspielerische Schmalspur aber nicht. Und es gibt eine funktional schlüssige Bühne (Martin Gobsch) mit durchdachten Requisiten. Doch Regisseur Fernando Blumenthal baut in der Kontinuität des Vorgängers mit dieser Besetzung auf ein kalauerndes Wortspiel- Potpourri, dass mit seiner Entfernung zum satirischen Theater leider wieder Maßstäbe setzt.


Das Thema heißt Mitte, und spannt sich über Mittweida, Mittermeier, Mitgift und die Mitte Deutschlands. Erkenntnisse wie „Lieber am Busen von Thüringen als am Arsch der Welt“ bestimmen den pointenarmen Abend, der mit einer Loreley-Parodie und den treffenden „Ver-Alle-Gemeinerungen“ einige gute Ansätze findet.


Doch bei der Nummernfolge „Wie du’s machst“ entgleist man vollends in Nichtssagende und offenbart zudem vor dem Hintergrund des atomaren Gaus in Japan ein problematisches Energieverständnis. Ebenso realitätsfremd die „Heinzelmännchen“-Adaption, bei der nur Gastarbeiter den Billiglohn-Sektor bevölkern.

Als Thron alias Merkel zur Zugabe Christian Morgenstern zitiert, wird endgültig ein Belustigungsniveau erreicht, dass satirischem Theater bei allen Toleranzschwellen nicht gerecht wird.


Lichtblick ist Neuzugang Björn Sauer, der seine pianistische Aufgabe zufriedenstellend erfüllt und in Vaudeville-Manier leicht anarchischen Wind in die brave Oberlehrerstube bringt. Doch kann er die Aufführung nicht retten, auch wenn es sicher  Publikum gibt, welches damit amüsiert werden kann.


Setzt man allerdings nationale Genre-Maßstäbe, kann diese Premiere nur als Offenbarungseid gewertet werden. Die Vorgänger-Produktion hatte positiv gezeigt, wohin die Reise hätte gehen können. Immerhin freundlicher Applaus. Man will sich eben nicht wehtun.


21. Januar 2011


Mentalist und Pädagoge


Hirschhausens „Liebesbeweise“ verzauberten 4000 Zuschauer in der Messehalle


Es lag viel Erwartung in der Luft. Rund 4000 Besucher waren in die Erfurter Messe gekommen, um Eckart von Hirschhausen mit seinem neuen Bühnenprogramm “Liebesbeweise” zu sehen und wurden nicht enttäuscht. Der Abend endete mit stehenden Ovationen und erfüllte seinen Zweck: das Publikum zu beseelen.


Hirschhausen ist ein Bühnenmagier. Er erzählt witzige Geschichten, versteht Pointen zu setzen und Bildung zu vermitteln. Insofern ist seine Darbietung kein medizinisches Kabarett sondern intelligente Pädagogik mit hohem Unterhaltungswert. Nach seinem Programm “Glück kommt selten allein” war die Messlatte hoch gehängt, und die „Liebesbeweise“ erreichen diesen Vorgänger nicht ganz.


Aber schon der Einstieg ist originell und lustig. Der Bühnenhintergrund zeigt eine romantische Meereslandschaft und darauf werden Sprechblasen projiziert, welche die Erwartungshaltung der Zuschauer spiegeln. Und es wird erkennbar, was Hirschhausen aus der großen Landschaft der simplen Belustiger heraushebt: intelligenter und hintergründiger Schalk. Sein Objekt ist der Mensch mit all seinem Fühlen, Wollen, Scheitern und seinen komischen Seiten.


Hirschhausen führt nicht vor. Er analysiert, bereitet wissenschaftliche Erkenntnisse sinnfällig auf und referiert über ein großes Thema, die Liebe, mit Leichtigkeit und Tiefgang. Christoph Reuter begleitet solide am Flügel, wenn Hirschhausen die textliche Sinnhaftigkeit von Liebesliedern bezweifelt. Und beide vermitteln die Alltäglichkeit gewitzt mit dem Song “Ich mag dich”. Hirschhausen liefert Erkenntnisse wie “Liebe und Rasieren sind durch elektrische Geräte nicht zu ersetzen” oder „Häufiger ist öfter als Seltenes“, und erntet mit diesen Bonmots den lachenden Saal. Einen der poetischsten und eingängigsten Vergleiche liefert er mit Topfpflanzen und Schnittblumen, um damit Partnerschaftswünsche zu symbolisieren. Und er räubert auch in anderen Revieren. Wer das Lehrstück “Anleitung zur sexuellen Unzufriedenheit” von Bernhard Ludwig kennt, wird Einiges in Hirschhausens Programm wiederfinden: das kollektive Summen oder die Schemas der Partnerwahl. Das ist legitim und  fügt sich neuartig in das Gesamtkonzept ein.


Es gibt originelle Erkenntnisvermittlung: die projizierten Lichtpunkte, welche Mann und Frau in der Bewegung typisieren, die anrührende Geschichte, wie ein Eisenbahner zu seinem Dank kommt und die lakonische Erkenntnis, dass die Befriedung in Afghanistan durch Nymphomaninnen wohl erfolgreicher wäre. Auch an aktuellen Bezügen fehlt es nicht: der Erfurter Papstbesuch würde sicher in dieser Halle stattfinden, denn wo das kirchliche Oberhaupt ist, wäre ja immer eine Messe. Und das Hochwasser wäre eigentlich der Schnee von gestern, resümiert der Bühnenprofi und zaubert aus Armstrongs Klassiker “Wonderful world” das Chanson “Richtig schlecht gehts uns nicht”: einen freundlichen Seitenhieb auf deutsche  Nörgelmentalität.


Durch Interaktion oder das Bewerten von vorher schriftlich eingeforderten Liebes- und Streitsprüchen beweist er seine spontanen Qualitäten und bezieht sein Publikum spielerisch mit ein. Mit dem Evergreen „All you need is love“ entlässt er begeistertes Publikum, und vergisst nicht zu mahnen: „Wer jetzt zuerst zum Parkplatz drängelt, hat das Programm nicht begriffen!“ Seine Botschaft wurde erhört. Bravo!

2005Tagebuch_Huth_2005.htmlTagebuch_Huth_2005.htmlshapeimage_1_link_0
2004Tagebuch_Huth_2004.htmlTagebuch_Huth_2004.htmlshapeimage_2_link_0
2003Tagebuch_Huth_2003.htmlTagebuch_Huth_2003.htmlshapeimage_3_link_0
2007Tagebuch_Huth_2007.htmlTagebuch_Huth_2006.htmlshapeimage_4_link_0
2008Tagebuch_Huth_2008.htmlTagebuch_Huth_2006.htmlshapeimage_5_link_0
2009Tagebuch_Huth_2009.htmlTagebuch_Huth_2009.htmlshapeimage_6_link_0
2010Tagebuch_Huth_2010.htmlTagebuch_Huth_2010.htmlshapeimage_7_link_0
2006Tagebuch_Huth_2006.htmlTagebuch_Huth_2006.htmlshapeimage_8_link_0
2012Tagebuch_Huth_2012.htmlTagebuch_Huth_2012.htmlshapeimage_9_link_0
2013Tagebuch_Huth_2013.htmlTagebuch_Huth_2013.htmlshapeimage_10_link_0
2014Tagebuch_Huth_2014.htmlTagebuch_Huth_2014.htmlshapeimage_11_link_0
datenschutzDatenschutz.htmlDatenschutz.htmlshapeimage_12_link_0