Spiegelzeltblog 2013
18. Mai 2013
DER FACHMANN
Wie oft haben sie den „Ring des Nibelungen“ gesehen: gar nicht, einmal, fünfmal oder sogar 76mal? Letztere Fantreue gibt es nach Aussage von Stefan Mickisch wirklich. Das Opernmonument dauert sechzehn Stunden, somit dürfte der benannte Augenarzt 1216 Stunden seines Lebens mit Richard Wagner verbracht haben. Das setzt eine gehörige Portion Sitzfleisch voraus.
An vier Abenden hat das Spiegelzelt Stefan Mickisch geladen, um sich „Rheingold“, „Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ fachkundig zu nähern. Diese Kooperation mit der Stadt Weimar ist und bleibt ein großes Wagnis. Denn erstens ist Manchem die diesjährige „Jubiläumswagnerei“ schon ein bisschen zuviel geworden und außerdem ist das Zelt für Opernliebhaber leider noch ein zu ungewöhnlicher Ort. Aber es kann durchaus funktionieren, wie die „Tosca“-Übertragung im vor zwei Jahren eindrucksvoll bewiesen hat.
Dass Stefan Mickisch zum Wagner-Experten geworden ist, war durch seinen Lebensweg quasi vorgezeichnet. Der deutsche Komponist und Musikwissenschaftler mit deutlich fränkischem Akzent lernte durch seinen Vater Klavier, gewann erste Preise bei „Jugend musiziert“, studierte Musik in Nürnberg und Hannover, und wurde nach verschiedenen Klavierwettbewerben, die er preisgekrönt absolvierte 1998 zum Nachfolger von Erich Rappl, der bis zu diesem Zeitpunkt die Einführungsvorträge zu den Bayreuther Festspielen hielt. Neben diversen Kompositionen, die sich um den Kosmos Wagners rankten, profilierte sich Mickisch vor allem durch die Transkriptionen des Meisters und sein musikdidaktisches Werk zum Opernschaffen des deutschen Komponisten.
Der „Rheingoldabend“ eröffnete den Vortragsreigen. Stefan Mickisch erwies sich dabei als profunder Wissensspeicher und brillanter Pianist, der wie kaum ein Anderer in die Materie des „Rings“ eingetaucht ist. Zu Beginn gibt er zu, dass ihn das Werk immer aufs Neue fasziniert, und er trotz intensiver Beschäftigung auch nach fünfzehn Jahren noch Entdeckungen macht. Er weist 36 Charaktere und 261 Leitmotive in der Tetralogie nach, und dürfte damit den Zählerrekord halten. Und er weiß viel über Verbindungen zu erzählen: dass Brahms die „Rheingold“-Partitur nicht zurückgeben wollte, dass große Musikwerke wie die „Zauberflöte“ oder die „Eroica“ ebenso wie der „Ring“ in Es-Dur beginnen, dass Wagner heute wohl eher Rot-Grün-Wähler als Konservativer sei, und dass Fricka als Tonart eine Art „Keif-Moll“ zugewiesen bekam. Das ist erheiternd und lehrreich, aber dieser Humor erschließt sich nicht jedem. Es ist wie bei manchen Musikerwitzen: nur die Insider können wirklich lachen. Und da liegt auch das Problem des Abends.
Mickisch ist ein versierter Kenner und ein toller Instrumentalist: ein Pädagoge ist er eher nicht. Zwar weiß er locker zu erzählen, aber er nimmt nur den Insiderteil des Publikums mit. Wer den „Ring“ nicht gesehen hat und dazu auch nicht musiktheoretisch bewandert ist, wird an dem Vortrag nur begrenzt Freude haben. Zwar gibt es eine gewisse Chronologie, aber Mickisch schweift oft ab, und verästelt sein Wissen in viele Spezialkanäle. Der Experte setzt viel voraus, doziert aber sehr sprunghaft und bietet damit nur den Wagner-Kennern ein Gourmet-Menü. Vielleicht wäre eine humorvolle Handlungsangabe angebrachter gewesen, als über Vertragsthema, Schmiede- und Goldherrschaftsmotiv, die Schwertidee oder die Regenbogenbrücke zu referieren. Und wenn Mickisch Zusammenhänge mit Komponisten wie Rachmaninoff, Smetana und Debussy pianistisch darstellt, ist das sicherlich gut zu hören, aber auch spekulativ. Denn Tonarten unterliegen nicht nur dem Zeitgeist oder der Vorbildwirkung, sondern auch der individuellen kompositorischen Befindlichkeit, so reizvoll das intellektuelle Gedankenspiel auch sein mag. Auch die Sternenkonstellationen mögen ein manchmal zutreffendes Konstrukt sein, aber sie erklären auch nicht alle Schöpfung. Insofern ist der Vortrag von Stefan Mickisch zwar unterhaltsam und ob seines Wissens beeindruckend, aber nur bedingt mitreißend. Das kundige Publikum, welches sich überwiegend aus Wagnerverein und Staatskapelle speist, spendet nach mehr als zwei Stunden und einem kraftvollen pianistischen „Rheingold“-Finale im wolkenbruchgeplagten Zelt den verdienten Applaus. Man hätte dem Abend mehr Publikum gewünscht, aber so viele Wagnerianer gibt es halt nicht auf einen Haufen; es sei denn, man wohnt in Bayreuth. Und für einen Fachvortrag ist die Zahl von über 200 Besuchern dann schon wieder beachtlich, wenn auch nicht Spiegelzelt-Normalität. Insofern ist das Wagnis zwar legitim, aber kaum zukunftsfähig.
FAZIT
Insiderabend mit einem unterhaltsamen Experten und brillanten Pianisten.
SPRUCH DES TAGES
„Ich bin ein wahnsinniger Freund des Nachdenkens“.
Stefan Mickisch
SPLITTER
Hinter dem „goldenen“ Verkaufstisch im Spiegelzelt saßen diesmal nicht die üblichen Verdächtigen Oliver Wickel und Kristjan Schmitt. Helene Engler und Antonia Kühn vom Weimarer Goethegymnasium haben die Aufgabe, welche von ihren Müttern vermittelt wurde, freiwillig übernommen. Denn so viel Lehrstoff wird den musikbegeisterten Zehntklässlern nicht alle Tage geboten. Jüngster Zeltgast dürfte aber an diesem Abend die dreijährige Carlotta gewesen sein. Die Tochter von Stadtkulturdirektorin Julia Miehe hat das „Zauberflöten“-Motiv schon erkannt, aber das mit der Fricka muss die Mama dann noch erklären. Da möchte man ja Mäuschen sein...