Spiegelzeltblog 2013
24. Mai 2013
DER TASTENARTIST
Er beginnt mit temporeicher Virtuosität, und steigert sich im Laufe des Abends. Eigentlich war der Weimarer Spiegelzeltauftritt von Joja Wendt überfällig, und so ist er in dieser Saison der dritte Hamburger, welcher die Spielstätte rockt und als Marlene-Anwärter gehandelt wird.
Eigentlich stammt Joja Wendt aus Bad Langensalza. Ich verfolge seine Karriere schon seit 1999. Er hat in den Anfangsjahren auch vor sehr wenigen Zuschauern gespielt und sich in der kleinen Clubszene seine Sporen verdient. Umso mehr ist es diesem Ausnahmekünstler zu gönnen, dass er nun verdientermaßen große Hallen füllt; das Spiegelzelt war diesmal wirklich bis auf die letzten Platzreserven ausverkauft.
Wendt kann brillant Klavier spielen. Sicherlich gibt es viele Pianisten, welche ebenso versiert Ragtime, Shuffle und Boogie Woogie intonieren können, aber er weiß auch im schwierigsten Klassikrepertoire zu punkten, und diese pianistische Universalität sichert ihm, zumindest in Deutschland, ein Alleinstellungsmerkmal. Er führt das Publikum „Mit 88 Tasten um die Welt“, und diese Reise ist ebenso rasant wie unterhaltsam. Es gibt die Jazzklassiker wie „Stompin at the Savoy“ und „Little baby elephant walk“ von Henry Mancini, er tobt sich bei „ A handful of keys“ von Fats Waller aus und vermittelt mit „Sunny side of the street“ und „When the saints go marching in“ echtes New-Orleans-Gefühl. Aber man hört auch Vivaldis Sommer-Presto und Rossinis Tarantella „La danza“, und er wagt sich sogar in die Gipfel des Klassiker-Virtuosen-Olymps mit den Horowitz-Bearbeitungen von Bizets „Carmen“. Fast beiläufig wird das von ihm gespielt ohne die interpretatorische Klasse aus den Augen zu verlieren, er kennt keine Genregrenzen, und das macht ihn so großartig.
Doch Wendt ist nicht nur ein überragender Pianist, sondern auch ein Geschichtenerzähler. Er nimmt sein Publikum mit, umschmeichelt es mit humorvoller Distanz und kommt in keiner Minute elitär oder abgehoben daher. Er ist wirklich der „nette Junge“, freut sich immer noch fast kindlich über jeden Applaus, als ob er nicht glauben könne, dass er ihn mehr als verdient hat. Seine Zuhörer danken es ihm mit großer Aufmerksamkeit und viel Zwischenbeifall, bis sich das Zelt am Schluss zu Standing Ovations erhebt.
Wendt erzählt Geschichten, und illustriert sie pianistisch mit hohen melodiösen Wiedererkennungswert, so wenn er den „Gordischen Knoten“ ausdeutet, die Erlebnisse einer kleinen Wasserschildkröte schildert, oder den Regen in einer gefühlvollen Ballade tropfen lässt. Meist arbeitet er kontrapunktisch oder mit komplizierten ostinaten Strukturen in der linken Hand, koppelt klassische Ohrwürmer mit Shufflerhythmik und Straight Piano und erweist sich als ein Rekordanwärter bei Tonrepetitionen (wenn man den gleichen Klavierton ganz schnell hintereinander spielt). Er arbeitet natürlich stark auf Effekt, aber das ist legitim, und ist durch hohes instrumentales Können untermauert. Das Publikum wird einbezogen, dient als Regenmacher, Elefantenherde und Leistungschor bei Liedern aus dem Amazonas. Später werden Wendt und seine Techniker rückwärts singen, und intonieren den „Stern mit deinem Namen“ und Beethovens „Ode an die Freude“. Hier kommt auch die Technik ins Spiel, welche das Bühnenprogramm ebenso sinnfällig wie angenehm ergänzt. Es gibt einen gut gemachten Einspieler, die Kamera zeigt auf großer Leinwand live das Tastaturgeschehen, und für die Sangesfreudigen werden auch mal Texte eingeblendet.
Nach Wendts Fassung des Oldies „The Wanderer“, aus dem er den „Pianomann“ macht, und diese Nummer spielt und singt, folgt abschließend „Guantanamera“ als große Dankeshymne für Zeltcrew und Publikum, bis es in den langen Zugabenteil geht. Der bringt eine Wiederbegegnung mit Wendts Paradenummer, dem „Hummelflug“ und endet mit dem wunderschönen Wiegenlied von Humperdinck „Es schaukeln die Winde“.
Joja Wendt hat mit seiner sympathischen Art und pianistischer Klasse das Zelt schnell für sich begeistert. Es wäre sehr schade, wenn wir ihn an diesem Ort, mit oder ohne „Marlene“, im nächsten Jahr nicht wieder begrüßen könnten. Eigentlich hat er sich nämlich mit diesem Einstand einen Zeltstammplatz verdient.
FAZIT
Pianistische Artistik, gepaart mit viel Humor. Ein Marlene-Kandidat.
SPRUCH DES TAGES
„ Hat Weimar eigentlich eine Bundesligamannschaft?“
Joja Wendt kitzelt wunde Punkte
SPLITTER
Es war der Zufall, welcher dieses Gastspiel möglich machte. Martin Kranz begegnete Joja Wendt bei einem Gwildis-Konzert und man wurde schnell handelseinig. Das wurde befördert durch die Empfehlung des Soulmannes und Marlene-Inhabers: „Junge, dort musst du spielen.“ Das nennt man positive Diktatur.
Der Abend lieferte bei der Zugabe auch spontane Überraschungen. Aufgefordert, mit Wendt vierhändig zu spielen, traute sich schließlich Jakob Münch an die Tasten, und intonierte Liszts „Liebestraum“. Zwar gab es damit kein Doppelspiel, aber der junge Mann hat sich achtsam geschlagen, und Joja Wendt zeitweise die Show gestohlen. Da der Pianostar die Weimarer als Kulturstädter einordnet, kam dann auch seine bange Frage ins Publikum: „Sind bei euch alle so?“ Da kann man ihn wohl beruhigen...
Der Krrritikrrr war, wie man liest begeistert, aber manche Mütter sind eben doch kritischer. Joja Wendts Mutter war angereist, und sagte dem Sohn, dass er beim „Wiegenlied“ geschludert habe. Also, liebe Wendt-Mama: nach diesem langen und schwierigen Parcours darf sich der kleine Joja auch mal ein wenig Finger-Erholung leisten. Zumal dieses Nachtlied wirklich ans Herz ging...