Tagebuch von Matthias Huth 2010

 

25. November 2010


Zauber der Mechanik


Martin Gobschs mechanisches Märchentheater und seine Schauwerkstatt sind ab Sonntag auf der Krämerbrücke zu bewundern


Wenn man seine kürzlich bezogene Werkstatt betritt, fühlt man sich unwillkürlich in ein vergangenes Jahrhundert versetzt: Es riecht nach Leim, und unter der Hobelbank liegen Holzspäne. In eingelassenen Schränken hängt ein Arsenal von Feilen und Stechbeiteln und eine Wand des kleinen Raums an der Krämerbrücke 2 zieren historisch anmutende Hampelfiguren. Handgedrechselte Windlichter flackern im Fenster und in dieser Atmosphäre gediegenen Handwerks werden Kindheitsträume wach.


Martin Gobsch hat mit dieser Schauwerkstatt einen passenden Ort für seine Puppenbau-Passion gefunden. Und Erfurts berühmteste Kunsthandwerksstraße ist um eine gewichtige Attraktion reicher. Denn hinter einem der Schaufenster verbirgt sich sein eigengefertigtes Theatrum mundi, welches ab Sonntag per Euroeinwurf für ein oder zwei Minuten aktiviert werden kann.


Diese Theaterform hat lange Tradition. Auf Schaustellermärkten stellten beispielsweise erzgebirgische Bergleute, welche invalid oder arbeitslos waren, ihre kunstvoll gestalteten und mechanisch ausgeklügelten Schaubergwerke vor, und viele Puppenbühnen benutzen dieses automatische „Welttheater“ als Pausenfüller für den Umbau oder als separate Vorführung. Die Vorläufer der Kino-Bilder illustrierten Schlachten oder biblische Szenen und galten als Hauptanziehungspunkte des fahrenden Gewerbes.


Martin Gobsch hat an seiner Version ein Jahr lang gebastelt und konstruiert. Siebzehn Puppen erzählen, wie von Zauberhand bewegt, das Märchen von Schneewittchen. Ein ovaler Spiegel von 80 Zentimetern Höhe und 65 Zentimetern Breite, gehalten von einer fast zwei Meter großen Königin-Figur lässt das Grimmsche Märchen in parallelen Bildern entstehen und wird in seiner Perfektion sicherlich kleine und große Zuschauer verzaubern.


Zwei Freunde haben Martin Gobsch bei der Realisierung geholfen. Jörg Dumont sorgte für Licht und Verkabelung und Immanuel Kiehm steuerte die sparsame aber notwendige Elektronik bei. Gobsch legt Wert darauf, dass sein Theatrum mundi vorrangig ein traditionell dominiertes Kunstwerk ist. Unterschiedlich große Riemenscheiben bringen das komplizierte Geflecht der Mechanik in Bewegung, und auf Wunsch wird auch Einblick in die „Innereien“ des Automaten gewährt. Im Laufe der Zeit, verrät der Erbauer, werden noch drei Zwerge hinzugefügt. Das entspricht seiner Intention, denn das automatische Märchenspiel wird stetig attraktive Ergänzungen und Ausfeilungen erhalten. Auch das entspricht alter Puppenbauertradition.


Martin Gobsch, gebürtiger Erfurter hat seine ersten künstlerischen Erfahrungen im „Ti(c)K“, dem Vorläufer der „Schotte“ gesammelt. Dort spielte er beispielsweise den Mercutio und kümmerte sich um den Ton. Nach einer Tischlerlehre und Ausbildung zum Theaterplastiker bekam er im „Waidspeicher“ Anstellung, wo er noch heute als Teilzeit-Tischler beschäftigt ist. Gobschs Kreativität fordert inzwischen mehr Freiraum, denn seine Auftragslage ist gut. So fertigt er momentan für vierzig Puppen der Marionettenoper Lindau am Bodensee Köpfe und Hände.


Eine große und ehrenvolle künstlerische Herausforderung, die viel Zeit fordert. Warum trotzdem diese fast durchgehend geöffnete Schauwerkstatt? „Ich möchte, dass Kinder auch mal Späne sehen, und nicht nur von industriell gefertigten Plastepuppen umgeben sind“, erläutert Gobsch sein Credo. Wobei die Werkstatt keine Puppendoktorstube ist, sondern den Prozess des Puppenbauens sinnlich erfahrbar machen soll. Der Verkauf von Bastelbögen und Windlichtern sowie der Erlös des Münzeinwurfs ermöglichen Gobsch materielle Unterstützung bei seiner freiberuflichen Produktion. Seine Puppen haben jetzt schon internationale Spitzen-Qualität, und weisen auf eine gewichtige künstlerische Zukunft.


Heute feiert Gobsch seinen 32. Geburtstag. Und zu diesem Anlass und seinem einmaligen „Theatrum mundi“, welches am Adventssonntag um 17 Uhr erwacht, sei ihm herzlich gratuliert. Und man muss kein Prophet sein um vorauszusehen, dass sein Schaufenster zu einem der begehrtesten touristischen Anziehungspunkte Erfurts und der Krämerbrücke gehören wird. Aber auch Verliebte werden in den Nachtstunden sicherlich dem Zauber des Märchens verfallen.



24. November 2010


Ohne Botschaft


René Mariks “Kasperpop” in der Weimarhalle mit starken Figuren und kleinen Schwächen


Da sind sie wieder: der Frosch Falkenhorst, die Lappen, der Maulwurf und Eisbär Kalle. Die ausverkaufte Weimarhalle erweist sich als großer Fanclub des Puppenspielers René Marik.

Marik hat mit seinen Figuren Kultobjekte erschaffen, die in dadaistischer Manier durch die Welt reisen und höheren Blödsinn fabrizieren.


So etwas muss man mögen: diese pointenlosen Geschichten, welche ziellose Momentaufnahmen bleiben. Diese verquere Sprache des Maulwurfs und die berlinerische Proll-Attitüde von Eisbär Kalle. Brüllend komisch, wenn Frosch Falkenhorst Probleme mit der Synchronität hat, oder ein Lappen dem anderen Lappen gesteht, dass er kein Faschist werden kann, weil er Jude ist. Und damit auch Grenzüberschreitungen markiert, ob sie nun den 11. September oder Afghanistan thematisieren.


“Kasperpop” ist eine Gratwanderung, die mit der Aussage “Alles ist Pop” entschuldigt wird. Das Zielpublikum mag Marik, weil er keine Botschaft hat, aber auf der richtigen Seite zu sein scheint. Alles ist lustig, fast unverbindlich, unterhält mit Niveau und trägt den zweistündigen Dienstagabend doch nicht ganz. Es gibt viele Kodierungen aus dem Medienalltag, die man kennen sollte, um manche Gags genießen und verstehen zu können.


Marik singt auch und spielt Gitarre, und lässt sich von “Professor Inge” alias Ingo Günther mit viel Keyboardsoundarbeit begleiten. Kompositionen und Texte sind weder zündend noch tiefsinnig. Auch sein neuer Hasskasper pöbelt unbeholfen, und lebt erst durch Ideen seines Publikums, welche durch archivierte Einspielungen Reiz bekommen.


Insgesamt ein schwereloser Abend mit drei Zugaben, einigen recycelten Witzen und ausgereizten Figuren, der sich auf seine treuen Fans verlassen kann.



22. November 2010


Planlos im Kesselsaal


DNT-Liederabend-Premiere als ideenlose und überambitionierte Nummernfolge


Liederabende wecken Erwartungen, und deshalb war der Kesselsaal im Weimarer e-Werk fast überfüllt. Sieben DNT-Schauspieler und vier Studenten der örtlichen Musikhochschule boten unter dem Motto „und den ganzen Kummer will ich auch“ am Sonntagabend eine Performance über ein großes Gefühl und seine Wirrungen.


Das hätte durchaus spannend werden können, doch war es größtenteils eine seelenlose Peinlichkeit. Das lag überwiegend an mangelnden sängerischen und interpretatorischen Fähigkeiten der Darsteller. Fast alle scheiterten an den großen Originalen die „Element of Crime“ und Hans-Eckhardt Wenzel, die „Doors“ oder Damien Rice lieferten. Dabei wäre es vermessen, einen sängerischen Duktus von Jim Morrison oder Sven Regener zu erwarten. Aber ein bisschen Gestaltungswille oder eine inszenatorische Idee wären schon angebracht gewesen.


Dabei ließ sich der Abend nach dem Einstieg mit Florian Jahrs Schlagerparodie von Nickis „Wenn I mit dir tanz“ noch ganz schwung- und humorvoll an, und auch Jahrs melancholische Cindy-Lauper-Interpretation von den Mädchen, welche Spaß haben wollen ließ durchaus vokale und schauspielerische Begabung bei Sänger und Backroundchor erkennen. Ulrike Knobloch erprobte sich intonationsrein und achtbar an Georg Kreisler. Wenzels „Herbstlied“ geriet dagegen zur braven und bedeutungsschweren Vorführung. Richtig ärgerlich wurde es bei den Versuchen von Philipp Oehme, sich Stars wie Dylan, Morrison oder „Prince“ zu nähern. Mangelnde Stimm- und Bühnenpräsenz und eine hölzern agierende Band beim „Doors“-Cover blieben durchgängig auf Amateur-Niveau.


Überzeugen konnten die Begleitmusiker in der kleinen Besetzung mit Rahel Hutter am Klavier, Kontrabassist Philipp Martin und Schlagzeugerin Imogen Gleichauf. Deutlich hörbare Schwächen wiesen die Saxophonsoli von Mona Hügel auf, die besonders bei den schlagerhaften Titeln harmonisch neben dem Chorus agierte. Michael Wächter, der auch die Leitung des Abends innehatte, versuchte instrumental zu punkten, konnte aber weder dem „Ganz leicht“ von Regener oder Damien Rice „Rootless Tree“ nennenswerte Aspekte abgewinnen. Und auch der später als Zugabe von allen zelebrierte „Rudi-Völler-Song“ erfordert noch ein paar a-capella-Proben.


Geborgte Identitäten machen eben noch kein Konzept, und planlos rauchende und trinkende Akteure in einer Sitzreihe auf der Bühne keine coole Inszenierung. So bleibt als Fazit ein planloser und sehnsuchts-unerfüllter Novemberabend, der den abschließenden Jubelapplaus eher wie eine Solidaritätsadresse erscheinen ließ.



14. November 2010


Nostalgischer Zauber


Puppentheater „Waidspeicher“ mit einer überzeugenden Märchenpremiere von Hans Christian Andersen


Es beginnt mit einem lebensgroßen Schattenspiel und der beschwörenden Stimme von Tomas Mielentz. Die Puppentheaterbühne ist in Dämmerlicht getaucht und die Silhouette, welche dem Märchenschöpfer so ähnlich sieht, beginnt das Imperfekt zu beschwören. Und das wird auch der Duktus der Premiere „Die Hirtin und der Schornsteinfeger“ im Puppentheater „Waidspeicher“ bleiben.


Poetisch, zauberhaft, magisch: das sind die Worte, welche einem bei dieser Inszenierung von Stefan Wey sofort in den Sinn kommen. Denn die Zuschauer werden auf eine intelligent nostalgische Art entführt in ein Jahrhundert, als man sich Zeit zum Ausschmücken der Erzählung nahm und in der auch die opulenten Details ein Märchen prägten.

Das Zentrum der Geschichte von dem großen dänischen Poeten Hans Christian Andersen ist ein Küchenschrank, in dem Hirtin und Schornsteinfeger ihr verliebtes Leben fristen. Der alte Chinese aus Porzellan hat sie aber dem Ziegenbocksbein-Oberunduntergeneralkriegskommandeurwachtmeister (man bekommt während des Stücks Gelegenheit, dieses Wortungetüm zu lernen) versprochen, und damit ist der kleine Konflikt umrissen.


Und es ist eine Lust zu sehen, wie der Küchenschrank mit Tischpuppen und anderen Konstruktionen durch Kristine Stahl und Tomas Mielentz zum Leben erweckt wird. Wie Stahl blödelnd den Chinesen singt und wie die Hirsche Hubert und „Ul-Ricke“ als Intarsien die Handlung kommentieren. Und wie der ungeliebte Militär als Ziehharmonika seine Begehrlichkeiten an den Chinesen richtet und mit seinen Besitztümern prahlt. Alle Figuren sind von Christian Werdin mit viel Liebe zum Detail und sehr sinnfällig gestaltet. Von den Akteuren umsichtig und präzise geführt erwacht die romantische kleine Welt der Liebenden als Miniatur anmutig und unverkitscht zum Leben. Die Biedermeier-Geschichte wird immer wieder subversiv-humorvoll unterwandert, ohne den Grundton des Märchens zu verlassen. Die Freiheitsanmutung unter Sternenhimmel, das martialische Besteck-Ballett (welches textlich etwas unverständlich daherkam) und das Schattenspiel in der großen Vase sind Gestaltungspunkte, welche dieses Märchen so sinnlich erlebbar machen.


Eine faszinierende Ensembleleistung, welche durch die einfühlsame Musik von Udo Hemmann verstärkt wird und sechzig Minuten anspruchsvolle Unterhaltung bietet und an keiner Stelle langweilt. Wey nimmt sich Zeit zum Erzählen, und ein Publikum ab fünf Jahren wird das garantiert genießen können. Aber auch Erwachsene lassen sich durch solcherart inszeniertes Märchen verzaubern, wie der begeisterte Premierenapplaus am Samstagnachmittag bewies. Eine Aufführung, wie geschaffen für vorweihnachtliche Stimmungen und die Wiederbelebung kindlicher Sehnsüchte in uns. Bravo!



4. November 2010


Musiklebenskunde


Wissen Sie, was eine “Doppelquartiersperre” ist? Welche berauschende Wirkung die Muskatnuss hat? Oder was man unter dem Wort “Ogromny” in der damaligen Sowjetunion als Musiker zu verstehen lernte?


Frieder W. Bergner, posaunistisch-jazziges Urgestein aus Ottstedt erzählte in der “kurz&klein-Kunstbühne” in Jena im Jazzmeilenrahmen aus seinem Musikerleben und bescherte dem kleinen Auditorium ein vergnügliches und abwechslungsreiches Zeitzeugenprogramm. Bergner stellte Kapitel seines geplanten autobiografischen Hörbuchs vor, welches sich im Wesentlichen auf die künstlerischen Entwicklungen der DDR konzentriert.


Wer unter dem Motto “Jazz unter Ulbricht und Honecker” Geschichten von Restriktionen erwartete, wurde enttäuscht. Denn der profilierte Jazzer erzählte mehr von den Möglichkeiten unter der Diktatur, ohne in verklärenden Duktus zu fallen. Das strenge Reglement der Thüringer Sängerknaben und die musikalische Ausbildung an der Musikhochschule Dresden haben Bergner geformt. Er erzählt von seinem Jazz-Erweckungserlebnis bei den Dresdner Tanzsinfonikern berührend und authentisch, und lässt die Zuhörer auch an den Alkoholproblemen bei Gastspielen mit der Hannes-Zerbe-Blechband“ teilhaben.


Neben der Lesung gibt es illustrierende Musik von Chick Corea bis Manfred Hering und ein humorvolles “Rondo a la Weimar” aus eigener Feder. Ein lebendiger, mit herzlichem Applaus bedachter Erzählabend, der in zeitgeschichtlichen Foren kreativ aufgehoben wäre.



25. Oktober 2010


Qualitätsunterschiede in Fantasiewelten


Abschlussabend der zehnten Thüringer Puppentheatertage mit durchwachsenen Bilanzen


Aufschlussreicher Abschlussabend der Thüringer Puppentheatertage: in der Weimarer Stadtbibliothek boten Puppenspieler und Puppengestalter Ausblicke auf ihre nächsten Vorhaben.


Der schwach besuchte Erwachsenenabend war nicht repräsentativ für das vierzehntägige Festival, denn bis auf eine weitere Früh-Vorstellung konnten die Organisatoren über Publikumsmangel nicht klagen. Mit vierzehn Veranstaltungen in

Weimar und zwölf in Erfurt zeigte die LAG Puppenspiel Thüringen einen Großteil ihres Angebots. Dabei gestaltet sich das Niveau sehr unterschiedlich. Während im requisitorischen und bühnenbildnerischen Bereich sehr Kreatives zu sehen ist, hapert es oftmals an Textvorlagen und Sprecherleistungen.


Dass es auch anders geht, bewiesen Monika Bohne und Angelika Hellwig mit ihrer Version vom “Raub der Katharina von Bora”, welche den Abschlussabend eröffnete. Vierzehn hüfthohe Schaumstoffpuppen, gestaltet von dem Musiker Frank Truckenbrodt, werden von den beiden Spielerinnen sehr lebendig geführt. Stimmlich überzeugend und als humorvolle Annäherung an Objekttheater und Religionsgeschichte erntete die Geschichte um Luther herzlichen Applaus. Antje Willems aus Ilmenau stellte im zweiten Teil des Freitagabends einen Teil ihrer Inszenierung von “Jorinde und Joringel” vor. Leider blieb die sprecherische Leistung weit hinter dem einfallsreich modellierten und poetischen Geschehen auf einem Bügelbrett zurück. Doch Willems steht am Anfang ihrer Karriere und ist somit schauspielerisch entwicklungsfähig.


Der Weimarer Lokalmatador Henning Hacke öffnete seine brandneue Spielkiepe, welche seinen gestalteten Rundgang im Ilmpark eindrucksvoll unterstützt. Mit viel technischem Geschick entsteht da ein Frauenballett oder ein Schattenspiel auf engstem Raum und birgt im touristischem Bereich viel Zukunftsfähiges. Überraschung des Abends waren aber die faszinierenden Puppen von Martin Gobsch. Der Erfurter versteht es mit viel Feinsinn für Mechanik und Psychologie, seinen Schöpfungen Bewegungsleben und Ausstrahlung zu verleihen. Ab ersten Advent kann man seine Figuren im Spiel auf der Erfurter Krämerbrücke bewundern, und diesem Puppenschöpfer ist schon jetzt eine internationale Größe zu bescheinigen.


Die Thüringer Puppenspielwoche kann gesamt in der Bilanz zufrieden sein, und wird auch im nächsten Jahr wiederkehren. Allerdings wollen sich die Macher dann weiter auf ländliche Gebiete verbreiten, und die bestehenden Strukturen von Bibliotheken und Museen nutzen.



23. Oktober 2010


Engagierte Ehrung ohne Ehrfurcht


“Suis-je Liszt?” im Belvederer Musikgymnasium als frische Collage und Musikerlebnis


Die zehnte Klasse des Weimarer Musikgymnasiums nähert sich ihrem Namenspatron. Sie bauen einen kleinen Denkmalsockel, erstarren nicht vor Ehrfurcht und packen ihre eigenen Träume und Vorstellungen vom Musikerdasein hinzu. Die szenisch-musikalische Collage “Suis-je Liszt?” erweist sich als lockerer und musikalisch hochgradig untersetzte Hommage an Liszt.


Unter der Regie von Bernd Lange entsteht ein chronologisch angelegter Streifzug durch das Leben und Leiden des schwierigen Zeitgenossen und genialen Interpreten. Die achtzehn jungen Musiker liefern mit Sprechtexten und motiviertem Instrumentalspiel eine geschlossene Ensembleleistung, und man merkt ihnen das Brennen und die Darstellungsfreude an.


Der Zugang zu Liszt gestaltete sich immer schon schwierig. Der Komponist gilt mit seinem Unbedingtheitsanspruch als unnahbar und die Melodien eines Mozart oder Beethoven sind eher im kollektiven Gedächtnis verankert, sieht man von einem bestimmten Klingelton ab. Auch seine Beziehungen zu Kollegen wie Chopin und Wagner scheiterten kontinuierlich, und das wird in diesem Stück szenisch sensibel untermalt. Die Schüler schlüpfen in historische Rollen, zitieren aus Briefen und Zeitzeugnissen und untermalen mit sinnfälligen Stücken aus Klassik und Moderne.


Und sie erzählen ein wenig von sich, von ihren Träumen, Zwängen und Hoffnungen, auch wenn das manchmal etwas bieder gerät. Aufhorchen ließen vor allem junge Talente wie Lisa Kapanadze mit einer furiosen Liszt-Interpretation, Erik Jirsak am zeitgenössischen Akkordeon und Conrad Mauersberger an Trompete und Klavier mit unterschiedlichen stilistischen Ausrichtungen. Dass die Collage nicht wie ein Pflichtprogramm wirkt, liegt am authentischen Zugang der Akteure.


Und so ist der frenetische Applaus im gut besuchten Saal des Musikgymnasium Belvedere am Freitagvormittag sehr verdient und gilt letztlich auch dem engagierten Wirken der Deutschlehrerin Birgit Quilitzsch und den musikalischen Köpfen Annette Schicha und Professor Christian Müller. “Suis-je Liszt?” bietet sich zur Wiederholung im Jubiläumsjahr geradezu an: ein frischer Zugang, der verstaubte oder allzu versierte  Huldigungen angenehm unterwandert.


PS. Die naheliegende  Anregung des ehemaligen Hochschulrektors Professor Wolfram Huschke wird im Programmheft explizit erwähnt. Man darf eben keinen Lorbeerkranz vergessen.


PPS. Für Statistiker: die „Ururenkelin“ war nicht anwesend.


PPPS. Ein Schüler, im Stück repräsentativ nach seinen außerklassischen Musikvorlieben befragt, gibt ACDC und Deep Purple an. Ist die Zeit in Belvedere stehengeblieben?


PPPPS. Ach so, ein Staatssekretär kam zu spät und  freute sich in einer Schablonenrede, das alles so war, wie es war. Muss aber nicht erwähnt werden, oder?




20. Oktober 2010


Sanfter Sinnsucher


Manchmal scheint es in unseren Breiten schon verpönt, harmonische Musik zu machen. Das mag vielleicht daran liegen, dass selbsternannte Esoteriker mit wabernden Synthesizerakkorden substanzlos Spiritualität zaubern wollen. Aber es gibt auch niveauvollere Ansätze.


Einer, der seit Jahren auf professionellem Niveau musikalisch meditativ wirken will, ist der Pianist Lutz Gerlach. Mit wechselnden Besetzungen komponiert er ruhige Klanglandschaften, welche mit erkennbaren, eingängigen Themen an Andreas Vollenweider oder Claude Debussy erinnern. Die Virtuosität, welche er in seinen frühen Jahren beispielsweise bei der Jazzrockband „Flair“ erfolgreich bewiesen hat, steht nicht mehr im Vordergrund. Auch bei seiner aktuellen CD-Produktion „Fine Arts“ dominieren wieder ausgeklügelte Melodien, welche teils kontrapunktisch, teils improvisatorisch mit seinen Mitmusikern korrespondieren. An seiner Seite stehen Thomas Loefke an der keltischen Harfe, und der hochkreative Cellist Jens Naumilkat, der vielen noch durch seine Zusammenarbeit mit Mikis Theodorakis oder Gerhard Schöne bekannt sein dürfte.


Jeder der Musiker versteht sein Fach und lotet sein instrumentales Können tiefgründig und präzise aus. Es geht nicht um Schnelligkeit, sondern um emotionale Tiefe, und das vermitteln die achtzehn Kompositionen der CD auf eindrückliche Weise. Auch die Ostseelandschaft bei Ahrenshoop, wo diese Musik entstand hat diese seelenvollen Stücke wesentlich inspiriert.

Gerlachs Œuvre mit vierzig, vorwiegend pianistischen CD-Einspielungen besitzt vielfältige Substanz, deren Exzerpt „Fine Arts“ darstellt. Er fährt das Trio bewusst zurück, statt eitel virtuos zu brillieren. Schon der Opener „With a smile“ baut auf eingängige Melodiosität und nachvollziehbare Chorusarbeit. Mit sehr filigranen und perlenden Klavierarpeggien fasziniert auch „Like a brook“, welches als Hommage an Chopin verstanden werden kann. Kammermusikalische und folkloristische Einflüsse bündeln sich zu einem schlüssigen Konzept, das mit „Wide ears“ eine der schönsten Ausformungen bietet.


Gerlachs Klavierkunst im Duo mit der Pianistin Ulrike Mai kann man am Samstagnacht mit einem Jazz-Klassik-Mix in der Toskana-Therme Bad Sulza genießen. Ansonsten sei der Kauf der CD allen Entspannungssuchern wärmstens empfohlen.



Lutz Gerlach und Ulrike Mai , Sa, 23. Oktober, 22 Uhr Toskana-Therme Bad Sulza

CD: „Fine Arts“ LGM-Records



17. Oktober 2010


Auf gutem Weg


Kabarett die „Arche“ beweist mit humorvoller Premiere wieder Mut zur politischen Satire


Es ist mit Bravour wieder auferstanden: das politische Kabarett in der „Arche“. Und wie die Publikumsreaktionen bei der samstäglichen Premiere zeigten, befindet sich das Ensemble mit dem Programm-Motto „Wohin soll denn die Reise gehn?“ auf dem richtigen Weg.

Gutes Kabarett arbeitet wie ein Seismograph der politischen Stimmungen, ohne diesen hinterherzulaufen. Und so war es für Regisseur Harald Richter folgerichtig, sich, seinen Textern und den Schauspielern im aktuellen Programm die Frage zu stellen, was eigentlich noch alles passieren muss, damit sich der deutsche Bürger aus der Registrationshaltung wieder zum Demonstrieren erhebt. Das wird anfangs schon provokativ von Gisela Brand („Volkszorn“) beleuchtet, indem sie politisch Skandalöses der Regenbogennachricht gegenüberstellt. Dass wir über den Kapitänsanspruch von Lahm und Ballack diskutieren, während die Atomlobby von der Regierung bedient wird. Sicher ist solcher Ansatz nicht neu, wird aber im Programm volksnah durchgespielt und thematisiert damit treffsicher das allgemeine Unwohlsein des Volkes mit seinen Regierungen. Sehr gelungen auch die Geschichten aus dem Bordrestaurant mit Andreas Pflug als informiertem Kellner, der zwischen Erfurt und Berlin pendelnd, die Lokalpolitik hinterfragt. Da geht es dann um Maßkleidung für Lieberknecht, Krawattenpossen im Landtag und einen rührigen Rechtsanwalt als Mafiavertreter.

Konzeptionell erfrischend wirkt, dass auf die sattsam bekannten Kneipen- und Hausmeistergespräche verzichtet wird, und neue Themenkomplexe angesprochen werden. So ist Sybille Tanckes Nummer von „Traummann per Mausklick“ der analytische Blick auf Anspruchsdenken und Computermentalität. Locker gespielt auch die „Raucherlounge“. Wenn auch mit Kalauern durchsetzt, ist das Thema nicht nur einseitig beleuchtet, und gewinnt dadurch an Brisanz. Selbiges gilt für die Problematik Sarrazin: das leidige Gut-Böse-Schema ist hier endlich aufgebrochen und wird mit Szenenapplaus belohnt.

Auch die Rahmenhandlung im unbesetzten Kompetenzzentrum eines Bahnhofs ist ein intelligenter Ansatz, um über politische Zukünfte und Richtungslosigkeiten zu diskutieren. Das wachsende Unbehagen an Regierungsentscheidungen bei der Finanzkrise und Gesundheitspolitik bricht sich auch bei der Nummer „Windräder“ bahn. „Sexy Armut“ bedient nicht den gängigen Mitleidsblick, sondern lässt in einer absurden Konstellation Brand und Pflug als bonigesättigtes Bankerpaar die Hartz-Realität als modisches Accessoire erleben Und wenn Pflug als Julius Cäsar mit historischem Blick aktuelle Bequemlichkeiten geißelt fühlt sich das Publikum durchaus selbst angesprochen.

Richter kann sich auf ein gut eingespieltes und komödiantisch versiertes Schauspielertrio verlassen. Brand, Tancke und Pflug wissen, wann sie ihrem Affen Zucker geben können, ohne den Anderen an die Wand zu spielen. Sie agieren präzise mit wenigen Requisiten, setzen korrekte Anschlüsse und machen einige schwache Schlusspointen durch ihr Vorspiel wett. Diese von Richter sicher geführte Ensembleleistung trägt wesentlich zum Gelingen der Premiere bei. Mit Wolfgang Wollschläger, Christian Wiedenhövt und Burkhard Wieditz können die Akteure zudem auf sicheres und kreatives musikalisches Fundament bauen. Hier sei beispielsweise die Abba-Coverversion „Danke für’s Regieren“ benannt, welche die Zielrichtung des Abends auf den Punkt bringt. Lobend erwähnt sei auch das schlüssige Programmheft mit sehr tiefgründigen Karikaturen von Nel.

Starker Applaus belohnt diese engagierte, würdige und humorvolle Premiere, welche Positionen erkennen lässt, ohne platte Lösungen zu präsentieren und die „Arche“ endlich wieder als satirisches Theater erkennbar macht. Daraus entsteht zwar noch keine Revolution, aber es ist immerhin ein Anfang.



16. Oktober 2010


Gitarristisches Hochamt


Der Konzertabend „Guitarmania“ begeisterte mit hervorragenden Musikern im „Mon ami“


Fünf hochtalentierte Gitarristen mit unterschiedlichen modernen Spielweisen sind das Konzept von “Guitarmania”. Der hinreißende Konzertabend am Freitag im Weimarer “mon ami” kann schon jetzt zu den Highlights der diesjährigen Jazzmeile gerechnet werden. Vor ausverkauftem Haus stellte sich zunächst Gianluca Caliva mit der Eigenkomposition “Grido di Gioia” vor. Der 18jährige Schüler aus Schulpforta, der von Falk Zenker unterrichtet wird, konnte mit seinem konzentrierten und virtuosen Spiel durchaus mit den nachfolgenden Profis mithalten. Der Brasilianer Lucas Imbiria, am Vortag noch als Solist mit der Jenaer Philharmonie gefeiert, eröffnete seinen Part mit einer akkordisch raffinierten Samba und eroberte das Publikum schon mit den ersten Takten. Mit einer Jobim-Interpretation überzeugte er zudem als sanfter Sänger, bevor er mit einem rhythmischen Carimbo-Feuerwerk sein Herkunftsland überragend repräsentierte und auch dafür stürmischen Applaus einheimste.

Falk Zenker gilt mittlerweile als Thüringer Gitarreninstitution und entführte das Publikum mit Gedankenreisen. Zwischen Tradition aus dem 13. Jahrhundert und kraftvollen Blues verzauberte der Klangkünstler mittels verschiedener Perkussionsinstrumente und dem geschicktem Einsatz von Soundeffekten. Kontrapunktische Balladen und leitmotivisches Spiel im Berliozschen Sinne werden mit Gitarre, Zither und Kalimba zu einem betörenden und sensiblen musikalischen Kosmos verdichtet, der Zenkers Kreativität und Spielfreude ausreichend Raum gibt ohne auszuschweifen. Sein eigenständiges Konzept wurde denn auch mit viel Beifall belohnt.

Das Duo “Hands on strings” setzte dann den Glanzpunkt des Abends. Thomas Fellow und Stephan Bormann bewiesen neben humorvollen Entertainerqualitäten ihre Ebenbürtigkeit zu Gitarrenstars wie Pat Metheney oder Al Dimeola. Akkordisch originell und mit atemberaubend virtuosen Unisono-Passagen interpretierten sie Songs von Gloria Estefan (“Conga”) und Michael Jackson (“Billie Jean”). Eigenkompositionen wie “Chewbacca” und “Childhood dream” versetzten durch furioses Tempo und kompositorische Brillanz das Publikum in Ekstase und erwiesen Bormann zudem als einen der chorussichersten Gitarristen Deutschlands. Das abschließende Zusammenspiel der Saitenkünstler mit “Brasileira” und dem “Girl from Ipanema” beendete einen grandiosen Abend, der sich trotz organisatorisch spontanem Entstehens zwingend als Wiederholung und Fortsetzung empfiehlt.




11. Oktober 2010


Ein Fest für Puppen und Menschen

 

Die zehnte Puppenspielwoche mit großer Bandbreite für alle Altersstufen

 

Eine Thüringische Puppenspielwoche dauert vierzehn Tage. Seit Montag präsentiert sich die Leistungsschau in Erfurt und Weimar. TA sprach mit der Organisatorin und Leiterin der LAG Puppenspiel in Thüringen, Monika BOHNE.

 

Die Puppenspielwoche zeigt sich zum zehnten Mal in Thüringen. Gibt es landesspezifische Eigenheiten?

 

Wir können im Hinblick auf unser Angebot sagen, dass hier noch relativ traditionell gespielt wird. Die Puppe steht im Vordergrund, während das Objekttheater mehr in den westlichen Bundesländern dominiert.

 

Ist das kleine Festival in Thüringen angekommen?

 

Unsere Veranstaltungen sind gut ausgelastet und werden vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst und der Kulturdirektion der Stadt Erfurt großzügig unterstützt. Allerdings könnten wir uns vorstellen, unser Angebot auch auf mehrere Städte zu erweitern. Doch das hängt immer mit dem persönlichen Engagement vor Ort zusammen. Da wünschten wir uns manchmal mehr Entgegenkommen.

 

Die LAG Puppenspiel Thüringen ist Motor der Veranstaltungsreihe. Wie sind sie strukturiert?

 

Die LAG besteht aus 30 Mitgliedern, von denen viele als Ensemble und Solisten spielen. Damit verbindet sich nicht nur eine ausgedehnte mobile Tätigkeit sondern auch pädagogisches Anliegen. Das Gros unserer  Mitglieder verdient seinen Lebensunterhalt als Puppenspieler. Ein Fachstudium, wie es seit 1972 angeboten wird, ist keine Bedingung. Wir haben auch viele „Quereinsteiger“, die sich erfolgreich auf dem Markt behaupten.

 

Kann man vom „freien“ Puppenspiel leben?

 

Im Hinblick auf unsere Mitglieder kann ich erfreut konstatieren, dass die soziale Situation zufriedenstellend ist. Durch die hohe Mobilität spielen wir viel in Kindergärten und Schulen, welche dieses Angebot gerne annehmen. Allein unsere Spielstätte in der Erfurter Marktstraße bereitet uns etwas Sorgen...

 

Warum?

 

Die Zuschüsse vom Land sind in diesem Jahr halbiert worden. Das „Atelier Puppenspiel“ fasst bei pädagogischen Veranstaltungen dreißig Zuschauer, von denen wir nicht mehr als 2,50 Euro Eintritt verlangen können. Ein Techniker, der die Räume  betreut, will auch bezahlt werden. Eine kostenmäßige Eigenständigkeit ist da nicht möglich, aber die Veranstaltungen sind sehr begehrt. Denn egal ob es um Gesundheits- oder Bewegungsangebote geht: die Kinder werden in unsere Mitspielinszenierungen einbezogen. Es wäre schade, wenn diese Projekte aus finanziellen Gründen nicht mehr stattfinden könnten. Und wenn aus institutionellen Kreisen Anregungen wie: „Dann spielt doch für Erwachsene, da nehmt ihr mehr ein!“ kommen, zielt das am Anliegen vorbei und ist wenig ermutigend.

 

Was kann das Publikum in diesem Jahr erleben, und welche Altersstufen spricht das Programm an?

 

Relativ neu dürfte für die Kinder das  Marionettentheater „Rotkäppchen“ von Antje Glanz und das „etwas andere Rumpelstilzchen“ von Kolja Liebscher sein. Und für Erwachsene bietet sich beispielsweise die „Herakles-Geschichte“ vom „Erfreulichen Theater Erfurt“ an. Insgesamt gibt es eine große Bandbreite von Spiel- und Erzählarten. Ein Magnet sind auch die Familiennachmittage. Und wer direkt mit den Künstlern kommunizieren will, sollte den „Talk mit Puppen“ nicht versäumen.

 

Und was ist zukünftig geplant?

 

Wir wollen im nächsten Jahr unser Angebot in städtischen Museen und Bibliotheken in Thüringen ausweiten. Meist ist zum Jahresende bei den Etats dieser Institutionen noch etwas möglich: diese Reserven wollen wir bündeln, um in ganz Thüringen präsent zu sein.



Ausführliches Programm unter: www.puppe-thueringen.de

 


26. September 2010


Erzähltheater


Puppentheaterpremiere im „Waidspeicher“ als überambitionierte Illustration


Die Adaption von Bestsellern verspricht gute Besucherzahlen. Man will schließlich das, was gefallen hat, auch in anderen Umsetzungen sehen. So war es denn erwartbar, dass die Premiere von „Tintenherz“ im Erfurter Puppentheater „Waidspeicher“ am Freitagabend vor ausverkauftem Raum stattfand.


Die Koproduktion mit dem Landestheater Rudolstadt ist für Kinder ab acht Jahren gedacht. Ein gutes Lesealter, denn darum geht es in der Buchvorlage. Vater Mo hat die Gabe, die Autorenwelt durch Lesen in Realität zu wandeln, was ihn seine Frau kostete und üble Gangster in die Gegenwart fügte. Basta, Flachnase und ihr luziferischer Anführer Capricorn verfolgen Mo auf der Suche nach ihrem Ursprungsbuch um ärgeres Unheil herauslesen zu lassen. Diesem perfiden Plan treten Mos zwölfjährige Tochter Meggie, der Gaukler Staubfinger sowie der Dichter Fenoglio entgegen.


Es ist der Kampf Gut gegen Böse, der seinen inszenatorischen Spielort in einer historisierenden Bibliothek findet. Die vier Akteure Anna Fülle, Tomas Mielentz, Martin Vogel und Paul Günther lassen die Fabel durch Tischpuppen entstehen, welche den bekannteren Stabpuppen verwandt sind. Durch doppelte Führung der einzelnen Figuren, bekommen diese hohe Flexibilität. Das Quartett beweist handwerkliche Perfektion und hohe Koordinationsgabe und müht sich in 90 Minuten redlich, die Fantasie der Zuschauer anzuregen. Und es gibt eine poetische Szene: wenn Meggie die Gabe des Vaters nachahmt, und eine zierliche Tänzerin in die Realität zaubert.


Angereichert mit Effekten und Hintergrundprojektionen versucht Regisseurin Kristine Stahl „Tintenherz“ zu erzählen. Aber leider illustriert sie nur. Die Figuren bleiben leblos und unerklärt, Capricorn ist eher Abziehbild denn gefährlicher Diktator. Für Zuschauer, welche die Vorlage nicht kennen, dürfte es zudem schwer werden, der komplexen Handlung zu folgen. So bleibt bei herzlichem Applaus Bewunderung für technische Perfektion, doch wenig für den Bauch. Deswegen sei die Inszenierung nur bedingt empfohlen.



23. August 2010


Abschied und Vorfreude


19. Kulturarena mit guten Besucherzahlen und ausgewogenem Angebot


Eine leise Wehmut begleitet das Arena-Ende, denn es läutet die letzten Sommerabende ein. Auch der neunzehnte Jahrgang brachte trotz verregneter Konzerte die gewohnten Besucherzahlen (70600), sowie gelungene Neuerungen. Dazu zählen der Comedy-Abend, die Lesung in der Villa Rosenthal und die Akustik-Konzerte im Volksbad. Letztere hatten auf akustische Duobesetzungen gesetzt und boten vor ausverkauftem Saal leise und feine Highlights.


Das ausgesuchte Kinoangebot hatte oft mit dem Regen zu kämpfen, doch harrten bei der Kurzfilmnacht immerhin eintausend Filmfreunde tapfer aus. Die Kinderarena ist mittlerweile als Familienfest etabliert.


Hauptanziehungspunkt waren wie immer die Konzerte auf dem Theatervorplatz. Da gab es Neuentdeckungen wie „CocoRosie“, „Katzenjammer“ oder „Sa Dinding“ mit exotischem Outfit und schrägen Popvariationen. Weltmusik war überhaupt wieder reichlich vertreten, sodass Freunde von Salsa, Tango und anderen Tanzrhythmen abwechslungsreich bedient wurden. Stars wie „Milow“ oder „2raumwohnung“ zogen zuverlässig auch jüngere Jahrgänge, während die Besucherzahlen von Manu Katche und Rebekka Bakken (jeweils 1800) eher ernüchternd ausfielen. Höhepunkte waren das japanische „Shibusa Shirazu Orchester“ mit 27 ausgelassen agierenden Musikern und Tänzern sowie Jan Josef Liefers und seinen Interpretationen von „Ostsongs“.


Dagegen sollte bei dem Theaterangebot zur Eröffnung doch etwas gefeilt werden. „Die Nibelungen“ konnten dem inszenatorischen Anspruch vergangener Jahre (erinnert sei an Claudia Bauers „Weber“) wieder nicht genügen. Auch der „Gastronomiegürtel“ hat es sich zu bequem gemacht. Hier gäbe es durchaus mehr Chancen zu schmackhafteren und abwechslungsreicheren Offerten, welche dem bunten Bühnenangebot entsprächen.


Insgesamt gibt es dennoch viel Grund, das Arenateam zu feiern, und zudem eine große Vorfreude: im Jubiläumsjahr konnte Rainald Grebe gewonnen werden. Und das ist schon die halbe Miete.



8. August 2010


Ein Fest für Verliebte und Romantiker


Erste „Klassiknacht“ im Erfurter Zoo mit guter Resonanz und schlüssigem Konzept


„Großer“ Empfang im Eingangsbereich des Erfurter Zoos: das Leipziger Feuerkünstlerduo „Inflammati“ empfing die Besucher der „Klassiknacht“ auf Stelzen. Der Samstagabend galt als Auftakt eines engagierten Versuchs, die Besucher außerhalb der Zooroutine an sich zu binden. Mit 2600 Gästen konnte Direktor Thomas Kölpin denn auch zufrieden sein: „Am Anfang gab es natürlich auch Widerstände, weil wir mit Gewohnheiten wie dem Zoofest gebrochen haben. Aber nach und nach konnte ich meine Mitarbeiter für die Idee begeistern.“

Zunächst lässt dieses Konzept das Areal anders erleben. Die sanfte Musik lenkt den Blick nicht nur auf die Tiergehege, sondern lässt in der sommerlichen Abendruhe den Parkcharakter und die vielfältige Baumwelt erleben. Der Rundgang wird auf den weitläufigen Wegen zur lohnenden Naturentdeckung. Dabei sind Begegnungen mit Lamas und kleinen Eseln möglich, die von kostümierten Zoomitarbeitern geführt werden. Den Nashörnern kann man beim familiären Kuscheln zusehen und preiswert afrikanisches Kunsthandwerk erstehen. Und den Elefanten bei der nächtlichen Nahrungsaufnahme zuzuhören, hat seinen eigenen Charme.

Der Reiz der „Klassiknacht“ liegt hauptsächlich in der Musikauswahl. Sanft und anspruchsvoll beispielsweise das Arnstädter Oboen-Gitarrenduo Frank Below und Harald Streeck mit romantischem Angebot, welches die Besucher quasi am Wegesrand zum Verweilen brachte. Das „Salonorchester Erfurt“ hatte die Festwiese reserviert, und wartete mit Filmmusiken, Schlagern und „Schmachtfetzen“ der Unterhaltungsmusik auf. Zwar blieben mehrere Stühle vor der Bühne unbesetzt, doch wird das wohl kaum an dem nicht immer homogenen Streicherklang gelegen haben. Hier wäre vielleicht ein versierter Conferencier angebracht.

Diese Qualitäten bewies Felix Reuter, der mit Verve und virtuosen Klavierspiel auf der Plateaubühne seine Zuhörer bestens unterhielt. Seine „Klassikcomedy“ kam zwar manchmal etwas bemüht witzig daher, doch versteht der Weimarer Künstler exzellent, große Orchesterwerke von Mozart, Beethoven, Tschaikowski und Gershwin mit kraftvollem Jazz und Popballaden eines Richard Clyderman zu verbinden. An gleichen Ort zeigte „Inflammati“ mit Jonglage und tänzerischer Leichtigkeit zu Musik von Vivaldi ein fantasievolles Spiel mit dem Feuer, welches  besonders in der Dämmerung gut zur Geltung kam. Tenor Stan Meus, pianistisch begleitet von Sierd Quarré vom Staatstheater Meiningen begeisterte sein  Publikum mit Arien wie „Sole mio“ und deutschen Schlagern der Hollaender-Ära, und präsentierte das Ganze mit zurückhaltendem Augenzwinkern.

Auch gastronomisch hatte der Zoo Vielseitiges zu bieten. Neben einfallsreich gefüllten Picknickkörben war neben den Konzertbühnen auch ausreichend für leibliches Wohl gesorgt. Zu dem obligatorischen „Bratwurstbullettensteak“ -Angebot kamen die Naschkatzen im Schokoladensalon „Marrakesch“ mit Erdbeervariationen zu echten Gaumenfreuden. Und in dem weiten Areal kam trotz der vielen Besucher nie das Gefühl von Gedränge auf.

Insgesamt war die erste Klassiknacht vor allem ein Fest für Romantiker und Verliebte. Ein bengalisches Feuerwerk mit passender Musik von Händel beendete den sommerlichen Abend und entließ Tiere, Besucher und Mitarbeiter in die verdiente Ruhe. Wer dieses schöne Event verpasst hat, sei getröstet: am 21. und 28. August wird die „Klassiknacht“ wiederholt und sei hiermit wärmstens empfohlen.



4. August 2010


Unterhaltungskunst


Clare Teal und Michael Kaeshammer mit leichtem Jazz in der Arena


Der Mittwochabend in der Arena stand diesmal im Zeichen des leichten Jazz. Die Britin Clare Teal zeigte solides stimmliches Handwerk und Entertainerqualitäten in einem gefälligem Konzept: ein bisschen Latin, ein bisschen Swingstandard und dazwischen ein paar Popcover und humorvolle Ansagen.


Annie Lennox und „Snow Patrol“ wurden balladesk verarbeitet und besonders im Duo mit dem Pianisten Grant Windsor entwickelte Clare Teals warme Altstimme starke Intensität. Mit Kontrabass (Simon Little) und Drummer Ben Reynolds blieb das Quartett sowohl als Besetzung wie auch in der musikalischen Auffassung im klassischen Stil: unaufgeregt, nett und passend zum Sommerabend.


Den zweiten Konzertteil bestritt der Kanadier Michael Kaeshammer, und brachte mit Gesang und Boogie-Woogie-Piano sowie Standardvariationen vor allem sein Können als Animator dar. Vergleichbar etwa mit Joja Wendt zog er das Publikum mit virtuosem und witzigem Klavierspiel auf seine Seite. Mitsingen, Mitpfeifen, Mitklatschen: bei Kaeshammer ist das Programmbestandteil und er verkauft das auch mit jugendlichem Charme.


Da wird der Flügel zur Perkussionsfläche, und das Zuspiel mit Marc Rogers an E- und Kontrabass und Mark McLean am Schlagzeug zu perfekt austarierten Shownummern mit ausgiebigen Solo- und Unisonopassagen. Zwischen Samba und Pop, Reggae und Funk wird frech gemixt und mitreißend musiziert: ein bisschen seelenlos aber geschmeidig und in jedem Falle unterhaltsam.


Schöner Abend, mehr nicht.



1. August 2010


Betörendes Konglomerat


Die chinesische Sängerin Sa Dingding verzaubert die Kulturarena


Sie steht farbenprächtig gekleidet und zart auf der Bühne. Und sie zieht mit ihrem energetischen Sopran die Arena am Samstagabend sofort in den Bann. Ihr Bandquartett sorgt mit Synthesizer (brillant: Zhang Zheng), Schlagzeug Bass und Pferdeharfe für den rhythmisch markanten Hintergrund, es ist kraftvoller Pop, angesiedelt zwischen Björk, Maria Joao, Enya und traditioneller Folklore. Samples, Sequencer, Rhythmuscomputer und Synthesizerflächen korrespondieren mit traditionellen Instrumenten wie Guzheng und Pipa.


Sa Dingding singt Alltagsmärchen auf englisch, tibetanisch und ihrer Landessprache und moduliert zwischen Sprechgesang, Falsett und Vokalise. Dabei erfindet sie diePopmusikwelt nicht neu, aber sie kombiniert mit ihrer Band intelligent Techno, Rock, Rap und Folklore.


Die chinesische Sängerin Sa Dingding ist in ihrer Heimat längst ein Superstar, in der Kulturarena eine echte Entdeckung und zudem in diesem Rahmen erste künstlerische Vertreterin ihres Landes. Wie die 26-Jährige tanzt oder anmutig den Tambourin führt ist ein ästhetisches Gesamterlebnis mit multikulturellen Wurzeln.


Die tausend Zuhörer lauschen gebannt den perfekt inszenierten Songs und genießen die exotische Magie der Klänge und der schwebenden Stimme. Am stärksten ist sie mit ihren Balladen, die ein bisschen an die Produktionen von Pat Metheneys Keyboarder Lyle Mays erinnern. Mancher Song ist zwar harmonisch etwas schlicht gestrickt, doch nie wird es auf Dauer langweilig. Ein Arenahöhepunkt, verbunden mit einem ausdrücklichem Lob an die sensible Sound- und Lichtregie.



25. Juli 2010


Zwei Welten


CocoRosie und Fred Wesley begeisterten in der Kulturarena


Eines der großen Verdienste der Kulturarena ist es, musikalische Welten zu vereinen. So erlebten die Zuschauer am Freitag- und Samstagabend völlig unterschiedliche Generationen und künstlerische Ausdrucksformen auf der Bühne.


Das französische Schwesternduo „CocoRosie“ setzt mit seiner Bandverstärkung auf exaltierte Show. Ihre Welt ist die Burlesque, angereichert durch gesungene (Alb)Träume mit Märchen- und Bibelverweisen. Konsequent dadurch auch das im Bühnenhintergrund eingespielte Videokunstmaterial, dass ebenso surreal wirkt wie das Outfit von Bianca Casady alias Coco mit Bodysuit und kleidhaftem Mantel. Coco nutzt ihre Opernstimme für arienhafte Vocalisen während Rosie (Sierra) gesanglich eher an Björk erinnert.


Die Schauermärchen von Hinrichtungen („Gallows) oder existenziellen Spielen („Undertaker“) sind gepaart mit einem musikalischen Konzept, dass stark an Kate Bush oder frühe Genesis-Jahre erinnert: nur ist es harmonisch nicht so ausgefeilt. Mit verschiedenen Flöten, Harfen, Harmoniumtönen und Geräuscheffekten setzt sich „CocoRosie“ in Szene, und das hat durchaus etwas Magisches. Wertvollster Neuzugang ist der Jazzpianist Gaël Rakotondrabe, der an Flügel und Synthesizer akkordisch einfallsreich zuarbeitet. Dazu kommt „Tez“ als Beatboxsänger mit wuchtigen Grooves und faszinierendem Solo sowie „Bolsa“ mit diffizilem Schlagzeug im Hintergrund. Der strömende Dauerregen hielt die 2500 Fans nicht ab, begeistert dem exzentrischen Popkonzert bis zu den zwei Zugaben zu folgen: ein intensiver Showabend für Traumweltler.


Dagegen setzte Fred Wesley mit seinen „New JBs“ auf sein bewährtes Feld und sparsame Show-Effekte. Die Instanz des amerikanischen Soul, der schon Tina Turner und Van Morrison mit seiner Posaune und exzellenten Bläsersätzen diente, spielt tanzbaren Jazzfunk. Schon das Eingangscover „Chameleon“ von Herbie Hancock zeigt, wo die musikalisch routinierte Reise hingeht, und sogleich bewegen sich auch die 1300 Besucher zu angenehmen Temperaturen rhythmisch im Takt.


Wesleys Septett versetzt die Hörer solide und erfahren in die heißen Soulzeiten des James Brown und transponiert das Ganze mühelos in die Gegenwart des Acidjazz. Bemerkenswert neben Wesley besonders der Saxophonist Phillip Whack, der sehr inspiriert und mit langem Atem seine Solis zaubert. Barney McAll gibt am Fenderpiano das nötige Retrofeeling für den Bläserdreisatz, und so feiert die Arena die funkige „House Party“, amüsiert sich bei der acapella-Version der deutschen Hymne und lässt sich von dem mitreißendem Groove der Zugabe „Bop to the boogie“ begeistert verführen.


Fazit: Zwei Konzertwelten, unterschiedlich temperiert und der anspruchsvollen Vielfalt der Arena überzeugend Rechnung tragend.




23. Juli 2010


Kraftvoll in die Tiefe


Jochen Distelmeyer überzeugt in der Arena mit seinen Texten und seiner Band


„Dies ist ein Rock’n Roll-Konzert“, verkündet der Hamburger Sänger und fordert die Arenabesucher damit auf, dass sie noch näher zur Bühne kommen sollten und auch durchaus zu seiner Musik tanzen können. Denn Distelmeyer ist kein unnahbarer Popguru, sondern einer, der die Bodenhaftung nie verloren hat.


„Blumfeld“ war so eine Adresse von ihm, überhaupt die „Hamburger Schule“ mit Bands wie „Tocotronic“  oder den „Goldenen Zitronen“: gitarrendominierter, schnörkelloser Rock mit Punkelementen und deutschen Texten. Diesem Konzept ist Jochen Distelmeyer auch mit seiner neuen Band treu geblieben.


Doch der Frontmann war immer etwas anders, etwas romantischer, etwas aussagetiefer, etwas griffiger. Und so steht er da am Mittwochabend in der Kulturarena, mit weißen Hemd und diesmal längeren Haaren, und er singt „Wohin mit dem Hass?“ und von korrupten Göttern. Das geht in Beine und Hirn, denn Distelmeyer ist ein genialer Texter, der schon längst zu den Großen der Branche aufgeschlossen hat. Ein unbedingter Poet, der seine Botschaften wie zufällig in sein begeistertes Publikum streut.


Dazu eine starke Band mit ihm, Henning Watkinson und Daniel Florey an den Gitarren. Benni Thiel treibt die zündenden Grooves am Schlagzeug und Lars Precht bleibt am Bass ein druckvolles Element. Florey unterstützt auch noch am Keyboard, und so entsteht ein moderner, ballastfreier Sound. Natürlich darf auch sein Überhit „Tausend Tränen tief“ aus der „Blumfeld“-Ära nicht fehlen. Das gibt es allerdings als Playback-Version.


Und dann die wunderschönen Liebesballaden wie „Alles geht nur mit Dir“ oder „Ich bin am Ziel“. Letzteres als zweite Zugabe, und danach kann der Himmel seine Freudentränen über dem Arenahimmel nicht mehr zurückhalten. Distelmeyer hat sich wieder mit Klasse bewiesen, nur wären ihm mehr als 700 Zuschauer zu gönnen gewesen.



21. Juli 2010


Männer auf dem Mond


„Moon“ ist ein kluger, philosophischer und spannender Sci-Fi-Thriller


Raumschiff verschollen, Truppe findet Raumschiff, böses Alien/Wesen/Monster dezimiert die Truppe, Held überlebt oder auch nicht. „Moon“ ist anders. Und sehr klug gemacht.


Das Energieproblem der Erde wird vom Mond aus gelöst. Die Eingangssequenz ist ein Werbespot, welche über diese Arbeit aufklärend wirbt. Und schon das Artdesign (Hideki Arichi) lässt aufmerken.


Sam Bell, genial gespielt von Sam Rockwell ist der einzige Mensch, der von der Rückseite des Mondes die Energieraketen zu Erde schießt. Alles läuft automatisiert, der Computer GERTY steht ihm freundlich zur Seite, und die schmeichelnde  Synchronstimme Kevin Spaceys verrät dem Kinoliebhaber, dass hier irgendetwas faul ist. Zu diesem Eindruck trägt vor allem der spannende und oscarpreiswürdige Soundtrack von Clint Mansell bei: eingängige Popmusik mit verstimmten Instrumenten. Überhaupt ist dies ein atmosphärischer Film: die glatten Flächen der Raumstation, das Neonhell der Räume und das unwirtliche, dunkle und kalte Draußen.


Sam Bell ist ein Techniker, und nach einem Unfall und einer Bergung beginnt das ganze System zu wanken. Schon oft ist das Doppelgängermotiv in utopischen Filmen variiert worden: allerdings noch nie so grausam und konsequent. Sam Bell erlebt eine Tragödie ohnegleichen. Anfänglich amüsiert sich der Zuschauer fast noch über den Wahn des Helden, bis er die schockierende Wahrheit erkennt.


Duncan Jones hat mit seiner Geschichte und Regie einen faszinierenden Erstling vorgelegt. Mit Verweisen auf „2001“ oder „Solaris“ zeigt er eine nüchterne Welt, regiert von Computern und Licht. Doch in diesem Thriller ist nichts verlässlich, und Gegner mutieren zu Verbündeten. Rockwells Spiel mit sich selbst, die fast lineare Erzählung und eine schlüssige Bildregie erzeugen einen Sog, der an Spannung bis zum Schluss nicht verliert. Das ökonomische Erzählen fordert den Zuschauer, denn der Horror kommt als Kammerspiel und ist menschgemacht.


„Moon“ ist ein kleines Juwel dieses Kinojahres und mit gutem Willen sogar Popcorn-kompatibel. Am Schluss steht die düsterste Zukunftsaussicht: die schnöde Profitgier wird auch zukünftig regieren.




15. Juli 2010


Bewährtes


Eröffnungskonzert der Kulturarena brachte musikalischen Stilmix


Mit eintausendfünfhundert Besuchern war das diesjährige Eröffnungskonzert der Kulturarena nicht gerade üppig bestückt. Trotzdem fühlte sich der Sommerabend wie ein großes Familientreffen an. Um jeden der Gäste etwas zu bieten, hatte sich das Organisatorenteam für ein musikalisches Mehrspartenangebot plus Moderatorin Shelly Kupferberg entschieden, welches  gleichzeitig einen stilistischen Ausblick auf die Offerten der nächsten Wochen vermitteln sollte. „Hoffentlich treten dann nicht nur Coverbands auf“, lästerte ein Bekannter, und dem konnte man eingeschränkt beipflichten. Denn die belgische Sängerin Selah Sue soulte unentschieden  zwischen Amy Winehouse und Aretha Franklin. Nachfolgend erinnerte der niederländische Jungstar „Hamel“ mit Smooth-Jazz-Konzept und exzellenter Band sehr an den Marktführer Jamie Cullum. Trotzdem gelang es ihm, die gefühlten Siedetemperaturen des Abends angenehm zu steigern, denn „Hamel“ ist ein großartiger Entertainer, und seine androgyne, ausdrucksstarke Stimme, gepaart mit energievoller Jugendlichkeit nötigten auch gestandenen Jazzern den verdienten Respekt ab.

Dritte im Sängerbunde war die amerikanische Folkbardin Rupa und ihre Band „The April Fishes“. Politisch engagiert sang sie über Guantanamo und Obama und bot trotzdem mit ihrem bunten Weltmusik-Stilmix zwischen Ska, Klezmer und Balkanbrass eher in den Arenajahren schon besser Gehörtes oder stilistisch allzu Routiniertes. Mit Akkordeon und Cello in der Bandbesetzung gab es musikalisch bunte Färbungen, und es war der bewährten und sensiblen Sound- und Lichtregie von „adapoe“ zu verdanken, dass der Abend so insgesamt zum Bühnen-Erlebnis wurde. Letztlich war der Mittwochabend ein wiederholtes Jahrgangstreffen der Arenajünger, welches einer Abmoderation  von Shelly Kupferberg nicht bedurft hätte. Fazit: Immer wieder schön, und es wird spannender. Versprochen!



9. Juli 2010


Porträt eines Außenseiters


„Till Eulenspiegel“ und Christiane Weidringer begeistern im Hof des Erfurter Naturkundemuseums


Mutter Witgen sucht ihren Sohn. Er ist ein Schalk, ein Außenseiter und ein Lebenskünstler. Die Marketenderin hat ihn lange nicht gesehen, das Publikum liebt ihn für seine Streiche. Denn der Sohn heißt Till Eulenspiegel.

Im lauschigen Hof des Naturkundemuseum feiert der Erfurter Theatersommer am Donnerstagabend seine zweite Premiere. Und um es vorwegzunehmen: es ist ein hinreißender und zu Recht bejubelter Abend. Denn Christiane Weidringer spielt und lebt die Geschichte des Schalks in den unterschiedlichsten Rollen aus und läuft dabei unter der bewährten und klugen Regie von Harald Richter zu solistischer Höchstform auf. Getreu der historischen Vorlage wird mit deftigem Volkshumor nicht gegeizt, doch lässt es der Abend auch nicht an lokalsatirischen Spitzen nicht fehlen. Weidringer stellt die Geschichte Eulenspiegels chronologisch dar: über die Dreifachtaufe im Braunschweigischen, den Seiltanz mit linken Schuhen zum Musettetakt, via Erfurter Uni und lesenden Eseln zum Lübecker Bier und vor die Stadttore Hannovers. Diese Deutschlandreise wird zum Panoptikum der deutschen Bürgerseele, zur Kampfansage gegen Spießigkeit und einem mitreißendem Dokument der Lebensfreude.

Christiane Weidringer schöpft den reichhaltigen Fundus puppenspielerischer Darstellungsarten geschickt und mit Witz aus: vom Objekttheater über Handpuppen, Schattenspiel und Stabmarionette bekommt der Zuschauer fast zwei Stunden ein vielseitiges und temporeiches Agieren geboten. Dazu kommen Volksliedeinlagen, Mitmachaktionen, poetische Momente und verblüffende Multifunktionalitäten der Requisiten (Ausstattung: Matthias Hänsel). Aber das ist man von den erfolgreichen Produktionen des „Erfurter Theatersommers“ (Parzival, Don Quichotte, Ärger auf Walhall) schon gewohnt; es scheint eine Art Markenzeichen für dieses engagierte und erfolgreiche Klein-Unternehmen zu sein.

Natürlich hätte diese Aufführung auch ideal in das „Haus zur Narrenschelle“ gepasst. Aber da die engstirnigen Humorverwalter angeblich sehr besorgt um ihre Fußböden sind, zog der „Theatersommer“ nach vergeblichen Bemühen in den lauschigen Hof des Naturkundemuseums und hat dort auch einen angenehmen Platz gefunden. Die Karnevalisten sind wieder um eine Attraktion ärmer, aber vielleicht zittern sie ja immer noch wegen der Gefahren des diesjährig abgesagten Faschingsumzugs...

Nach Bravorufen und begeistertem Applaus im ausverkauften Hof gibt es Schellen. Und wenn die kleinen Glöckchen auf dem sommerabendlichen Nachhauseweg klingeln, dann ist die Botschaft angekommen: Till lebt! Bravo!


Nächste Aufführungen 10., 14., 16., 17., 21., 23., 24., 28., 30. und 31. Juli sowie 04. und 07. August um jeweils 21 Uhr im Innenhof des Naturkundemuseums Erfurt, Große Arche 14 (bei Regen im Trockenen). Weitere Vorstellungen im September



7. Juni 2010


Im Bann


Die Halbzeit bescherte der Erfolgsgeschichte des Spiegelzelts in Weimar am Sonntagabend einen gewichtigen Höhepunkt. Georgette Dee, eine der profiliertesten Diseusen Deutschlands zelebrierte ihr 30jähriges Bühnenjubiläum vor ausverkauftem Rund unter dem Motto "Wo meine Sonne scheint".


Schon der Eingangssong "Like a bird" wird von ihr mit solcher Inbrunst gesungen als ob es kein Morgen gäbe, und mit dieser unbedingten Intensität zieht sie das Publikum drei Stunden lang in ihren Bann. Melancholische Stimmungen wechseln mit schwarzhumorigen Moderationen, die Diva nimmt sich und ihr Altern auf die sarkastische Schippe und sie bleibt, ob sie singt oder conferiert immer authentisch und grandios.


Und es gibt sie wieder, diese magischen Momente, welche sie bisher in jedem ihrer Programme beschert: etwa, wenn sie den Song "Sound of silence" von Simon & Garfunkel in deutscher Fassung interpretiert oder den Roland-Kaiser-Schlager "Lieb mich ein letztes Mal" mit todesverachtender Hingabe zu einer Neuentdeckung macht. Sie erzählt hinreißende Fabeln von den beschnittenen Wolkenflügeln der Berge, setzt treffsichere Bonmots

("Putzen hat keinen Sinn aber man sieht es wenigstens"), parliert mit sarkastischen Vorschlägen über die aktuelle Ölpest und reduziert den Nahostkonflikt auf die menschliche und damit berührendere Ebene.


Der Abend wird wieder ein sanftes und humorvolles Lehrstück über unsere inneren Schweinehunde und Verklemmtheiten: Georgette Dee seziert und analysiert da gnadenlos. Denn sie hat als pommersche "Evangelsche" ihr Leben erfahren ("hochbegabt und ungefördert") und sie lässt das Publikum teilhaben an ihren Selbsterkenntnissen und Zweifeln.

Sie singt von Dingen, die wirklich wichtig sind: von Apfelblüten und schwulen Palästinensern oder die Berührungen von Zugschaffnern, und macht aus Oldies und Schlagern von Caterina Valente und Vicky Leandros Neubegegnungen.


Spätestens hier seien die kongenialen Begleiter Roland Cabezas (git) und Jürgen Attig am Kontrabass und die einfühlsame und perfekte Arbeit von Licht und Ton erwähnt, welche dieses Konzert zu einem Ereignis höchster Güteklasse machen. Drei Zugaben entlassen das Publikum bewegt und inspiriert in einen schwachen Sommerregen. Und manchen wird dabei Georgette Dees Kommentar zur Wetterlage erinnerlich: "Wenn man reifer wird, friert man schneller". Ganz großes Theater, bravo!



18. Mai 2010


Zwiespältig und vielseitig


Das Weimarer Backup-Festival in seiner 12. Auflage – eine Nachlese


Schon die Vorbereitungen erweisen sich als Belastungstest: 1200 internationale Einsendungen wollen gesichtet und bewertet sein. Schließlich sind 62 Kandidaten ausgesiebt um an den Wettbewerbsabenden bestehen zu können. Vergegenwärtigt man sich das Verhältnis zwischen Angebot und Ausscheid, spricht das für die Attraktivität der Veranstaltung. Trotzdem hinterlässt das 12. Backup-Festival in Weimar, welches am 9. Mai 2010 endete eine zwiespältige Bilanz.


Einerseits können sich die 90 studentischen Macher sowie die engagierte Leiterin Juliane Fuchs über generell ausverkaufte Vorführungen und übervolle Konzeptpartys freuen. Auch das humorvolle „Kinokaraoke“, welches Bluescreen-Verfahren und Improvisationstheater verbindet, erwies sich als ausbaufähige, wenn auch noch ein wenig unprofessionell gestaltete Idee. Die Besucherzahl hat sich gegenüber dem Vorjahr deutlich gesteigert, die Akzeptanz des Kurzfilmfestivals in der Stadt konnte weiter ausgebaut werden.

Andererseits bot die Auswahl in den vier Wettbewerbsblöcken eher Tendenzen, denn Innovationen. Die fachlich prominent besetzte Jury, so beispielsweise der „Schnitt“-Chefredakteur Nikolaj Nikitin und die Filmemacherin Deborah Schamoni, hatte laut Eigenaussage auf die erzählerische Kurzform gesetzt. Doch ging diese Vorgabe im Wettbewerb nicht ganz auf, mehrere selbstreferentielle Experimente forderten ohne Sinngewinn und mancher Überlänge die Geduld des Zuschauers. Als Beispiele seien hier Stuart Pounds „0-19 Dance“, Gabriel Foster Priors „Fractal“ oder „HYPN“ von Philippe Rony genannt. Zudem gab es formal bestechende, wenn auch inhaltsleere Kurzfilme, wie der architektonische Kopfstand „Parallax“ von Inger Lise Hansen oder „Kaleidoscape“ von Rita Laslberger und Günter Stöger.


Sicherlich ist es in der Medienwelt schwer, neue filmische Erzählweisen zu finden. Andererseits ist dies kein Grund, mittels formaler Spielereien, narrative Komponenten komplett zu vernachlässigen. Hier wäre in der Vorauswahl ein kritischerer Bewusstseinswandel wünschenswert.


Eine weitere deutliche Tendenz des Wettbewerbs war die Hinwendung zur ausdrucksvollen Schwarz-Weiss-Ästhetik. Stellvertretend seien hier „The End“ von Agnieszka Pokrywka (erhielt eine lobende Erwähnung des Festivals), „Teslavision“ von Hanna Nordholt und Fritz Steingrobe sowie die leider nur formal bestechende Ehebeobachtung „Am Sonnenberg“ von Kristin Franke erwähnt. Überzeugendste Ausformung war für mich in dieser Hinsicht der Musikclip „Chalk stars“ von Thomas Hicks und seiner „Fadengeschichte“.

Womit wir bei den Soundtracks angekommen sind. Oftmals meinten die Macher ihr Publikum mit einfallslosen und monotonen Geräuschcollagen nerven zu müssen („O.K. I love You“ von Bettina Disler oder „Nanu the runner“ von Wei-Ming Ho). Dagegen standen perfekte Symbiosen zwischen Bild, Erzählung und Musik, auch außerhalb des Clip-Awards. Die poetische Geschichte „Ergo“ von Geza M. Toth (2. Preis des Wettbewerbs), die wunderschöne Meditation „Stundensekunden“ von Anja Großwig oder die Musikvisualisierung „Avani“ von Carmen Büchner vermochten die Zuschauer nachhaltig in Bann zu ziehen. Der Kurzspielfilm „Endzeit“ von Alexander Schulz wartete sogar mit einem orchestral durchkomponierten Soundtrack auf, doch war die „FlashFoward“-Variante leider zu dilettantisch gespielt und in Szene gesetzt.


Den Clip-Award heimste die Bauhaus-Produktion „Kaffee un Kippen“ (J.M. Keuchel und D. Wacker) wohl wegen ihrer humorvollen Umsetzung ein, formal war da das schon erwähnte „Chalk stars“ oder „lightning strikes“ von Sönke Held (mit überzeugenden Darstellern) wesentlich weiter. Das Publikum favorisierte „We are hype“ von Rafael Cano Garcia und Florian Schneider“, obwohl es sich hierbei um einen munteren Ideenklau der „Toilet-Posters“ handelte.


Selbstverständlich waren auch einige Perlen dabei, die nicht prämiert wurden. Allen voran die witzige und handwerklich perfekt erzählte Postkarten-Liebesgeschichte „La Carte“ von Stefan Le Lay. Faszinierend auch die kluge Bildsprache der Beziehungsanalyse „Zeitriss“ von Quimu Casalprim i Suárez und die schwarzhumorige Ernährungskritik „einzelschicksal“ von Daniel Plath und Giacomo Blume. Letzterer auch ein Bauhaus-Uni-Beitrag, der seine Geschichte wesentlich stringenter erzählte als das im Thema gleichartige „Body“ von Frédéric Cousseau. Neue Formensprachen präsentierte „Unicycle Film“ von Thomas Hicks. Damit konnte zwar der „Fernsehfilm“ von Daniel Faigle nicht aufwarten, dafür aber mit einer sehr einfallsreichen und witzigen Geschichte.


Der Hauptpreis ging verdient an den Weimarer Bauhaus-Beitrag von Sophie Klevenow „Noesis“, einer poetisch animierten Entwicklungsgeschichte mit klarer Erzählstruktur. Hier zeigte sich der Wettbewerb sofort (es war der erste Beitrag!) von seiner besten Seite: bestechende Formensprache, kluger Inhalt und kurze, sinnfällige Umsetzung.


Letztlich hat sich der diesjährige Backup-Jahrgang wieder als kreativer Tummelplatz der internationalen Kurzfilmszene bewährt, und seine Alleinstellung im experimentellen Bereich durchaus erfolgreich verteidigt. Das Weimarer „Lichthaus“ erwies sich wiederholt als toleranter, flexibler und engagierter Gastgeber. Oder wie Kinobetreiber Dirk Heinje es etwas sarkastisch zu dem Klang fallender Bierflaschen formulierte: „Es riecht nach backup!“


Doch im zwölften Jahr stellt sich gerade im Angesicht der Bauhaus-Uni-Wettbewerbserfolge drängend die Frage nach zuverlässiger institutioneller Förderung. Ein solches Festival bringt trotz studentischem Idealismus und Engagement die Betreiber über die Grenzen der Belastbarkeit. Die langen Partys dienen zwar erfolgreich der Refinanzierung, aber wären bei solider finanzieller Unterstützung sicherlich auch als Outsourcing denkbar. Und letztlich ist bei den Produktionsleitern wie beispielsweise Ralf Denke und den Gründern um Juliane Fuchs ein Know-how gewachsen, dass man endlich mit festen und ausreichenden materiellen Zusagen binden sollte.


Dann könnte man sich unbeschwerter auf den „Geruch“ des backup 2011 freuen.



18. April 2010


Poetischer Leuchtturm


Grandiose Premiere von „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ im „Waidspeicher“


Ein wunderbares und poetisches Plädoyer für Toleranz, basierend auf der Novelle Eric-Emmanuel Schmitts „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“: der elfjährige Junge Momo dürstet in einem Pariser Vorort nach Liebe.


Seine Mutter hat ihn verlassen, der Vater ist in sich gefangen. Momo geht zu den Huren, er klaut Konserven und wird durch die Güte des alten Kolonialwarenhändlers Monsieur Ibrahim erlöst. Momo ist ein Jude, Ibrahim der „Araber“, welcher durch Liebe und Lebenserfahrung die Welt des Minderjährigen mit Lächeln und Selbstbewusstsein füllt. Tomas Mielentz imaginiert diesen Literaturbestseller im „Waidspeicher“ und um es vorwegzunehmen: die Premierengäste erlebten am Samstagnachmittag grandioses Theater.


Schon das konzentrierte Bühnenbild (Ausstattung Kathrin Sellin) zwingt zur Intensität. Eine Tür, ein Schaufenster, zwei Stühle und ein Regal mit Requisiten reichen aus um Welten zwischen Europa und dem „goldenen Halbmond“ zu zaubern, denn inmitten dieser Objekte agiert ein kluger und virtuoser Schauspieler, der fesselnd und mitreißend zu erzählen weiß.


Umsichtig geführt von Regisseur Atif Hussein schlüpft Mielentz fließend und glaubhaft in unterschiedliche Rollen: den trotzigen Momo, der lächeln und vertrauen lernt, den traumatisierten Vater, die amüsierten Huren, die herzlosen Polizisten und den wortkargen, weisen Ibrahim. Sprachlich und gestisch präzise entsteht ein Entwicklungsroman, der mit dem Begriff „Solotheater“ unzureichend umfasst wäre. Denn wie Mielentz die Vaterbüste erweckt, wie er mit ein paar Händen Sand eine Strandillusion erschafft, wie er zu Musetteklängen eine Pariser Silhouette zaubert und dabei mit traumwandlerischer Textsicherheit die Spannung fast 90 Minuten hält, sucht auf Deutschlands Bühnen seinesgleichen.


Spätestens hier sei auch das Zusammenspiel mit Andreas Herrlich (Licht) und Hartmut Wagner (Ton) gelobt, denn erst durch die präzise Abstimmung können Effekte so faszinierend wirken. „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ ist in dieser „Waidspeicher“-Interpretation ein Erwachsenenabend mit orientalischer Erzähltradition, ein modernes und gleichzeitig wunderbar altmodisches Objektheater. Für Kinder ab zehn Jahren stellt es ein gewagtes Unterfangen dar, da es volle Konzentration erfordert und sehr tiefschürfend arbeitet.


Doch ungeachtet des Risikos: diese Aufführung ist ein Leuchtturm der Erfurter Theaterlandschaft. Verdienter und langer Applaus.



28. März 2010


Amüsantes Schneckenhaus


„Unser bestes Stück“ – die aktuelle Arche-Produktion hatte am Wochenende Premiere


Eine Frau (Beatrice Thron), ein Mann (Ulf Annel) und viele bekannte Geschlechter-Probleme. Damit ist die aktuelle Arche-Produktion „Unser bestes Stück“ eigentlich schon beschrieben.


Was da vor vollbesuchtem Haus am Samstagabend Premiere feierte, ist eine Art Comedy-Mixtur: ein bisschen Mario Barth, ein wenig Mirja Boes: wie Amüsierfernsehen, bloß live und stellenweise schlechter gespielt. Es tut niemandem weh. Aber es stellt sich die Frage: Was hat das mit Kabarett oder gar Satiretheater zu tun?


Es ist ein Unterhaltungsprogramm. Thron spielt die spitzzüngige, abgeklärte Frau: schlagfertig, kokett und als begehrter Mittelpunkt. Annel gibt den konservativen Männertroll: dialektgefärbt, archaisch, technikverliebt und bierliebend. Die vorgeführten Geschlechterrollen bieten ausreichend Wiedererkennungswert, und viele komische Momente. Anfangs, wenn die Thron schellenschwingend Annels Trauerpauke unterbricht, oder muskelbepackten Schweriner Mähdrescherfahrern aus den LPGs nachtrauert. Wenn die Beiden sinnieren, ob ein Computer männlich oder weiblich ist; auch wenn das mancher schon aus dem Internet kennt, ist es doch hübsch gespielt.


Annel setzt viel auf Wortwitz, damit aus dem seligen Patriarchat keine „Muttibude“ wird und hat sich von Mittermeiers methanpupsenden Kühen in seiner Öko-Nummer kräftig inspirieren lassen. Dazwischen wiederkehrend die Rubrik „Wussten sie schon?“ mit launigen Kommentaren, sowie eingängige Lieder mit teilweise wortwitzigen Texten („Der Gott-Song“ und die Grönemeyer-Parodien). Spätestens hier sei auf den wirklichen Zugewinn des Ensembles verwiesen: den Gitarristen Christian Wiedenhövt. Musikantisch hochwertig begleitet er die Schauspieler durch den Abend, solidarisiert sich ab und zu spielerisch mit Annel und sorgt mit seinen Zwischenspielen für einfühlsame Atmosphären.


Um die kabarettistische Würde nicht zu verlieren, lässt  Regisseur Fernando Blumenthal in seiner Nummernwahl auch tagesaktuell-politische Texte zu, und da wird es richtig peinlich. Westerwelles Englisch-Sprachkurs bei Merkel baut auf phonetische Verwechslung: das kennt man von Otto Waalkes. Ansonsten arbeitet man sich an Äußerlichkeiten ab, und das haben Lieberknecht und Merkel keinesfalls verdient: dafür ist ihre Macht(nicht)ausübung zu brisant.

„Unser bestes Stück“ erinnert an künstlerische Schneckenhäuser: während gesellschaftliche Verwerfungen deutschlandweit beuteln, zieht sich die „Arche“ ins behagliche Familiennest zurück und lässt die kalten gesellschaftlichen Winde einfach draußen. Selbst in Annels Butt-Märchen verbleibt der kritische Ansatz im Seichtgewässer, da konnte man schon bei den Faschingslaien des mdr vor einem Monat durchaus regional Bissigeres sehen.


So bleibt dem Publikum ein voraussehbarer, routinierter und netter Abend mit gemütlichen Pointen und viel Applaus. Subventioniertes Kabarett hat hoffentlich einen anderen Auftrag. Zum erklatschten Zugaben-Schluss entschuldigt Annel das Fehlen des Regisseurs auf der Bühne: der würde gerade im „Weißen Rössl“ singen. Und irgendwie klingt das wie ein Offenbarungseid.




23. März 2010


Erinnerungsgut


Tagung in Weimar zu Leben und Werk von Gertrud Kolmar


Im langen Schatten der Buchmesse versuchte am Wochenende eine Tagung in Weimar das Leben und Schaffen Gertrud Kolmars in Erinnerung zu rufen. Die jüdische Dichterin, welche 1943 in Auschwitz ermordet wurde, ist vielen kundigen Literaten ein leuchtendes Beispiel für lyrische Formenvielfalt der Versmaße und sprachliche Bildhaftigkeit.


Dem rührigen Goetheforscher Ettore Ghibellino war es zu danken, dass er Germanisten aus Belgien, Amerika, Australien und Deutschland zusammenbrachte, um sich über neueste Forschungsergebnisse, Quellenfunde und rezeptorische Zukunft auszutauschen. Mitinitiator Jochanan Trilse-Finkelstein widerlegte beispielsweise die Legende, dass Kolmar in innerer Emigration lyrisch unpolitisch war, und Ilse Nagelschmidt beleuchtete fundiert das dramatische Schaffen der Dichterin in Verbindung mit ihrer Frauenpersönlichkeit.


Kolmars Werk bezieht seine Aktualität auch durch die Unbedingtheit und sprachliche Radikalität, welche sie den damaligen gesellschaftlichen Begrenzungen entgegensetzte.  Rolf Hochhuth und Ulla Hahn würdigten die Poetin bei gut besuchten Lesungen im mon ami. Hahn deutete Kolmar als frühe ökologische Mahnerin und ordnete sie in einer Reihe mit Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler ein: „Gertrud Kolmar nötigte ihre Sprache nicht zur Dichtung“.


Ein musikalisch hochkarätiges Konzert in der Jakobskirche begeisterte mit einer Kolmar-Hommage von Julian Marshall. Dieter Weidenbach, Bärbel Hain und Wolf Becker  steuerten eigens für die Tagung eindrucksvolle Gemälde und Skulpturen bei. Abschließender Konsens: Kolmars Werk muss  intensiveren Platz in der Erinnerungskultur finden und im nächsten Jahr soll eine Kolmar-Gesellschaft gegründet werden.



11. Februar 2010


Ambitioniertes Amateurtheater


Das Jenaer Theater „Zink“ überzeugt mit der Uraufführung von „Pathologie der Liebe“


Der gemeinsame Freitod des französischen Existenzialisten Andre Gorz mit seiner Frau Dorin war sowohl Liebesbeweis, als auch Anlass für ein Theaterstück. Angela Mund, Studentin der Medienwissenschaft, hat sich des Themas mit „Pathologie der Liebe“ angenommen, beleuchtet es aus der Perspektive des Paares Gorz und koppelt es mit gegenwärtig korrespondierenden Spielszenen. Die Jenaer Studententheatergruppe „Zink“ brachte das Stück am Mittwochabend zur Uraufführung und bescherte dem ausverkauften Saal der Philosophenmensa einen spannenden und mitreißenden Abend.

Das Stück spiegelt in seinem radikalromantischen Ansatz das Gefühl heutiger studentischer Generation, welche wieder wahrhaftige Werte einfordert, ohne konservativ zu erstarren. Der Philosoph Andre Gorz liefert mit seinen Schriften und Voraussagen zu Marktwirtschaft  und Rollenverständnis eine aktuelle und verbindliche Plattform. Dem Rätsel des gemeinschaftlichen Selbstmords nähert sich das Stück im Rahmen eines pathologischen Instituts, deren Mitarbeiter in erläuternden Szenen unterschiedliche Spielarten der Liebe durchdeklinieren. Daneben vermitteln sie episodenhaft Lebensabschnitte des Ehepaars Gorz, ohne die Biografien zu verklären oder vordergründig zu deuten. Das siebenköpfige Laien-Ensemble spielt unter der Regie Gregor Leichsenrings in ständig wechselnden Doppelrollen sehr homogen und erbringt fast professionelle Leistung. Herausragend vor allem Julian Nolte, der als diktatorischer Pathologieprofessor Tschorb oder als sardonischer Fernsehmoderator zu überzeugen weiß. Sicher könnte manch szenischer Übergang gestrafft, und auch die sprachlichen Fertigkeiten verbessert werden, doch tut das der Intensität und Aussagestärke des Abends keinen Abbruch. Ambitioniertes und fesselndes Theater, welches tiefgründige Fragen stellt und genau beobachtet. Unbedingt empfehlenswert.


Nächste Aufführungen am 12. und 13. sowie 17. und 18. Februar in der Mensa am Philosophenweg, Jena




3. Februar 2010


Poetische Akribie


Joachim Werneburg mit Gedichten zwischen Thüringen und Mittelmeer


Die lyrischen Stimmen haben es in den Tagen der Wirtschaftsdiktate schwer, aber das ist kein ungewohnter Zustand. So blieb die Zuschauerzahl im Goetheinstitut am Dienstagabend überschaubar als Joachim Werneburg eine Gedichte-Reise zwischen Thüringen und Syrakus darbot. Konrad Paul, trotz Ruhestand immer noch unermüdlich sprach in seiner erläuternden Einführung von Schillers lyrischen Trompetenton. Im Vergleich ist Werneburg eher ein poetischer Harfenist. Sein Augenmerk gilt der Natur. Pflanzen, Gesteine und Waldeinsamkeiten werden allegorisch gedeutet und besonders bei seinem 1980 entstandenen Zyklus über die Unstrut sinnlich erfahrbar. Werneburg bereitet akribische Verbindungen zwischen Geschichtswissen, Naturkunde und Mythologie. Sein Blick richtet sich auf bodenständig Vertrautes, welches in der Hektik schnell übersehen wird. Die  Deutungen in Form von kurzen Epigrammen oder Elegien haben oftmals kosmische und philosophische Dimensionen. Darin lag allerdings auch im zweiten Teil des Abend das Problem: allzu viel spezifisches Wissen über Antike und europäische Geschichte setzte der stille Thüringer Poet  voraus. Weniger Gedichte und mehr Hintergrunderläuterungen wären wünschenswert gewesen. So entließ der Abend die Zuhörer mit Bewunderung für die Sprachfertigkeit Werneburgs und vielen ungelösten Rätseln bei den beschriebenen Sehnsuchtsorten.

2005Tagebuch_Huth_2005.htmlTagebuch_Huth_2005.htmlshapeimage_1_link_0
2004Tagebuch_Huth_2004.htmlTagebuch_Huth_2004.htmlshapeimage_2_link_0
2003Tagebuch_Huth_2003.htmlTagebuch_Huth_2003.htmlshapeimage_3_link_0
2007Tagebuch_Huth_2007.htmlTagebuch_Huth_2006.htmlshapeimage_4_link_0
2008Tagebuch_Huth_2008.htmlTagebuch_Huth_2006.htmlshapeimage_5_link_0
2009Tagebuch_Huth_2009.htmlTagebuch_Huth_2009.htmlshapeimage_6_link_0
2011Tagebuch_Huth_2011.htmlTagebuch_Huth_2011.htmlshapeimage_7_link_0
2006Tagebuch_Huth_2006.htmlTagebuch_Huth_2006.htmlshapeimage_8_link_0
2012Tagebuch_Huth_2012.htmlTagebuch_Huth_2012.htmlshapeimage_9_link_0
2013Tagebuch_Huth_2013.htmlTagebuch_Huth_2013.htmlshapeimage_10_link_0
2014Tagebuch_Huth_2014.htmlTagebuch_Huth_2014.htmlshapeimage_11_link_0
datenschutzDatenschutz.htmlDatenschutz.htmlshapeimage_12_link_0