Tagebuch von Matthias Huth 2004

 

17. Dezember 2004

Frontmann

Der sanfte Mann mit dem scharfen Verbalschwert war in der Adventszeit noch einmal in die Klassikerstadt gekommen, und durfte sich auch am Donnerstagabend im mon ami seiner Fangemeinde sicher sein. Wiglaf Droste, Buchautor und Kolumnist bei der "taz" zählt zu den Besten der Zunft. Er teilt seine ätzende Kritik zielsicher aus, und geißelt mit seinem Sprachwitz nicht nur die üblichen Verdächtigen. Seine Kompromisslosigkeit, welche nicht aus billiger Häme sondern brillanter Analyse entsteht, spaltet absichtlich, und zeigt vermeintliche Gutmenschen wie Johannes Rau, Günter Grass oder Sabine Christiansen in ihrer Wahrhaftigkeit. Der Mix aus älterer und neuer Kurzprosa ist thematisch abwechslungsreich und bedient wenig vordergründiges Amüsement.
Neben bissigen Attacken auf Bauarbeiter ("die Flex ist die Stalinorgel des Handwerkers"), "Pur"-Konzerte, Bundeskanzler, Bundeswehr und "Vodaphone"-Spenden erklärt Droste sprachsensibel seine Liebe zu dem großen Poeten Peter Hacks.
Wenn es ein klares Feindbild bei Droste gibt, so sind es die "obszönen Nazifressen" denen er deutschlandweit immer öfter begegnen muss. Während andere diese Bedrohung immer noch verdrängen, wird er nicht geschwiegen haben...


13. Dezember 2004

Armutszeugnis

Das Wort des Jahres 2004 lautet "Hartz IV" und das ist in mehrfacher Hinsicht ein Armutszeugnis. Was diese jährliche Kür der Gesellschaft für deutsche Sprache für einen definitiven Nutzwert hat, außer Medien zu beschäftigen, sei dahingestellt.
Nehmen wir an, diese Wahl sei ein Signal. Die Menschen, welche von "Hartz IV" betroffen sind, haben das Wort sicher nicht empfohlen. Dass es viele Betroffene geben wird, steht außer Zweifel. Und Zweifel sind bei dieser Arbeitsmarktreform inklusive neuer Auszahlungsmodalitäten auch angebracht. Das vorher reformierte Gesundheitswesen hat zwar die Krankenkassen mit Milliardenüberschüssen bereichert, sich aber nicht im Geringsten auf die Beitragshöhen ausgewirkt. Stattdessen hat man viele wichtige Medikamente zur vollen Bezahlung verordnet, was den schlecht situierten Kranken zusätzliche Schmerzen bereitet.
Und da Analogien zu "Hartz IV" nicht so abwegig sind, überwiegt die Meinung, dass dies eine verschleierte Bankrotterklärung des Sozialstaats bedeutet. Von den schon jetzt bekannten Pannen abgesehen: es gibt eben kein Geld an die Bedürftigen zu verteilen, es sei denn, man zählt dazu Manager, welche die Kapitalflucht im großen Stil organisieren.
Aber "Hartz IV" steht auch für die neue merkwürdige Angewohnheit, bestimmte Programme mit privaten Personen zu verbinden. Denn wenn "Hartz IV" versagt, dann schiebt man auf den VW-Manager und lastet es nicht der Regierungskoalition an. Leider ist diese Methode den SPD-Genossen nicht früher eingefallen, sonst wäre vielleicht die LKW-Maut-Einführung als "Stolpe III" in die deutsche Versagergeschichte eingegangen
Letztlich sind über "Hartz IV" genug Worte gewechselt worden, um es als schwammiges Synonym für Arbeitslosengeldkürzungen zu etablieren.
Ob es denn einmal für wirtschaftlichen Aufschwung steht, ist unbegründete Hoffnung.
Das Wort des Jahres 2002 war "Teuro". Da haben die Propheten Recht behalten...



1. Dezember 2004

Blick von drüben

Es brauchte keine große Werbung, um den Saal des mon ami bis auf den letzen Platz zu füllen. Gerhard Polt ist ein Markenzeichen für populäres deutsches Kabarett auf Spitzenniveau. Spätestens seit seiner Filmsatire "Man spricht deutsch", hat er auch in hiesigen Landstrichen seine treuen Anhänger gefunden. An diesem Dienstagabend hatte er sich für die solistisch freie Form entschieden. Denn unabhängig von programmatischen Beschränkungen läuft der verschmitzte Star beständig zur Höchstform auf, was er auch hier zwerchfellerschütternd unter Beweis stellte.
Polt ist ein gewiefter Analytiker der Bürgerseele, und er geißelt sie ebenso liebevoll wie schmerzhaft. Er präsentiert ein Panoptikum spießbürgerlicher Welterklärer, wie den Konservator, welcher die bayerischen Idyllen liebt, und "da passt eben kein Neger rein". Oder den Arztschwiegervater, der sich über seinen Bekannten ärgert, weil der die schwarzarbeitenden Ukrainer noch mehr ausbeutet als er selbst. Und so gerät man bei dem Autofahrer, der durch die Fußgängerzone kurvt und anderen seine Toleranz erklärt in das Gruselkabinett großdeutscher, braunmelierter Kleinhirne. So skurril die Typen, so gefährlich ihr Unrechtsbewusstsein. Polt entlarvt dabei immer hintergründig, er lässt seine Personen für sich selbst sprechen. Man lauscht hingerissen, amüsiert und aufmerksam den grantelnden Tiraden und kann trotz süddeutscher Verortung auch sehr Nahes erkennen.
Polt ist Vertreter eines anspruchsvollen Typenkabaretts, fernab von seichter Comedy oder persönlichkeitsverletzendem Witz. Er hat sich, ähnlich wie etwa Emil Steinberger, einen unverwechselbaren und überzeigenden Personalstil geschaffen, der mit sanftem Redefluss durch minimale, aber genau gesetzte Nuancen zur Pointe führt.
Manchmal beweist Polt auch seine Nähe zu Karl Valentin, etwa beim "Subjekt in Form eines Individuums", der absurden Kindheitsgeschichte, geprägt durch gewaltsam verabreichten Blumenkohl, Spinat und Lebertran oder dem Nikolaus vor dem Arbeitsgericht.
Doch sein Hauptangriffsziel sind gefühlskalte Technokraten, wie in dem Nachruf auf den Allianz-Aufsteiger oder dem verstörenden Psychogramm eines bürokratischen Nichtlebensretters.
Nach drei frenetisch erklatschten Zugaben verfestigt sich beim Publikum die berechtigte Erkenntnis, einen der Besten seines Fachs erlebt zu haben.


24. November 2004

Bedrohte Stimmen

Er will Ruhe finden, weiterhin politische Dokumentarfilme drehen und gegen die Leichen in den Flüssen seines Landes anschreiben.
Erik Arellana Bautista ist dreißig Jahre alt und kommt aus Kolumbien. Diesjährig ist er unter den Weimarer Fittichen des Netzwerks "Stätte der Zuflucht", welche politisch verfolgten Schriftstellern hilft. Die Militärs Kolumbiens werden Bautista nicht so schnell in sein Heimatland lassen, so kämpft er mit medialen Mitteln als Weltgewissen für die Menschenrechte in Lateinamerika. Als lesender Gast der Veranstaltung "Writers in prison" in der Weimarer Stadtbücherei, kenntnisreich moderiert von Gisela Kraft, war er allerdings nur Teil einer poetischen Schicksalsgemeinschaft. Insgesamt 740 bedrohte Schriftsteller werden durch das PEN weltweit unterstützt. Eine erschreckende Zahl, die sich mit erschütternden Lebensläufen verbindet. Wulf Kirsten und Gisela Kraft lasen deshalb am Dienstagabend Texte internationaler Poeten, die in ihren Heimatländern verfolgt, gefangen oder ermordet wurden. Wenn der Nigerianer Ogada Ifowodo seine Haftbedingungen beschreibt oder Faraj Bayraktar in syrischen Gefängnissen ihre Erlebnisse in Lyrik wandelt, sind das eindrückliche Dokumente persönlichen Leides und Zivilcourage, welche das Publikum tief berührten. Abwechslungsreich, engagiert und dramaturgisch durchdacht präsentierten Kraft und Kirsten die Poesie von vierzehn ihrer Kollegen. Ein unspektakulärer und eindrucksvoller Abend


15. November 2004

Der kleine Muck als Bildungsgut

Der kleine Muck heilt jetzt beruflich wirksam Schnupfenprobleme und beantwortet geduldig die vielen Kinderfragen: "Wie konntest Du in dem Film so schnell laufen?" oder "Woraus waren die Eselsohren gemacht?" zeigen das wache Interesse der kindlichen Zuschauer, die im Weimarer "Cinestar" zur Auftaktveranstaltung des "Lernort Kino" am Mittwochvormittag den DEFA-Klassiker "Der kleine Muck" vorgeführt bekamen. Prof. Dr. Thomas Schmidt, mittlerweile Medizinforscher in Hannover hat als Elfjähriger die Märchenhauptrolle gespielt, und er trägt sie immer noch ein bisschen im Herzen. Obwohl der Staudte-Film in seiner Ästhetik reichlich altbacken wirkt, kann Muck die Kinderherzen immer noch erobern. Der Film ist ein Exportschlager, sogar eine chinesische Fassung wurde gesichtet.
Mit über 45 beteiligten Kinos in Thüringen erlebt das "Lernort-Projekt" in der dritten Auflage eine 40prozentige Steigerung zum Vorjahr und fast 30000 Anmeldungen lassen das "Institut für Kino und Filmkultur" als veranstaltendes Gremium schon jetzt berechtigt vom Erfolg sprechen.
Ziel des "Lernort Kino" ist, die Kinder und Jugendlichen die Sprache des Films erlernen zu lassen und das kritische Bewusstsein gegenüber dem Medium zu schärfen. 45 Filme der verschiedensten Genres und Produktionsländer werden präsentiert. Die Palette reicht von Hollywood-Kassenschlagern wie "Shrek 2" und "Troja" bis zu kleinen Perlen wie "Raus aus Amal" und "Muxmäuschenstill". Gelungene Dokumentationen wie "Omulaule" oder "Super Size Me" bereichern das breitgefächerte Angebot für verschiedene Altersstufen und werden durch aufwändige Programmhefte samt pädagogischen Anwendungen ergänzt.
Die in Köln ansässige Initiative wird in diesem Bundesland u. a. von Thüringer Kultusministerium und der Landeszentrale für politische Bildung mit rund 60000 Euro unterstützt. Eine sinnvolle Zukunftsinvestition, da das Kino für die Zielgruppe einen relevanten und meinungsbildenden Freizeitort darstellt. Darauf reagiert man auch mit einem Filmkritikwettbewerb, dessen Ergebnisse im Internet nachzulesen sein werden.
Zwar ist "Lernort Kino" für die hiesigen Kinobetreiber durch die niedrigen Eintrittspreise immer noch ein Idealismusprojekt. Umso löblicher, dass sie sich damit unspektakulär um einen wichtigen Teil der Bildung verdient machen.


11. November 2004

Freigeister

Die heutige Weimarer Literatur- und Stiftungsprominenz sowie Freunde und Wegbegleiter Harald Gerlachs hatten sich am Mittwochabend im Kirms-Krakow-Haus versammelt, um die öffentliche Vorstellung seiner Schiller-Biografie zu erleben. Das postum veröffentlichte Buch ist auch Produkt von Gerlachs gelegentlicher Arbeitsbeziehung zur Stiftung Weimarer Klassik, die ihre Intention, die ambivalente Geschichte zwischen Dichterstadt und Buchenwald zu thematisieren durch ihn unterstützt sah.
Kenntnisreich eingeführt durch Prof. Dr. Lothar Ehrlich, welcher dem Autoren freundschaftlich verbunden war, bekam der Abend, anlässlich des 245. Schiller-Geburtstages eine fast familiäre Note. Frank Griesheimer vom herausgebenden Verlag "Beltz & Gelberg" stellte in seinem Vortrag sensibel und überzeugend seine sensible Lektoratsarbeit an dem Buch "Man liebt nur, was einen in Freyheit setzt" und erläuterte Gerlachs Zuarbeit für diese jugendorientierte Biografiereihe. Griesheimer ordnete die Edition auch humorvoll in den literarischen Kanon ein ("Wer liest schon, außer Fachleuten, 1000 Seiten Biografie?") und schilderte den behutsamen Umgang mit dem Manuskript. Anschließend kam Gerlachs Witwe Bettina Olbrich zu Wort, die aus einigen Kapiteln des Buches las. Das hatte schon dadurch Berechtigung, dass Gerlachs letzte Manuskripte krankheitsbedingt durch ihre Hand gegangen waren.
Gerlachs engagiertes Essay, welches in Opposition zu gängiger Erbe-Rezeption steht, hinterlässt eine Ahnung, was aus den mit ihm geplanten Goethe, Hölderlin und Seghers-Biografien hätte werden können. So bleibt nur Griesheimer als Lektor künftigen Autoren anempfohlen.


9. November 2004

Kontrastfrei

Es wabert. Durchaus angenehm und überwiegend perfekt. Die Weimarhalle ist am Montagabend trotz hoher Kartenpreise fast ausverkauft, das Rilke-Projekt "Zwischen Tag und Traum", initiiert von den Komponisten Richard Schönherz und Angelica Fleer ist ein Erfolgskonzept, welches Lyrik, Musik und Bildprojektion vereint und überdies als CD ein Kassenschlager. Die Botschaft des Dichters ist zeitlos, verleiht Bedeutung und lässt sich gut vermarkten.
Wieder wurden Prominente gewonnen, doch Startheater ist noch kein Schauspiel. Und ein Projekt, welches sich zwingend von Sprache prägt, fordert präzises Beherrschen der Mittel und durchdachtere Dramaturgie. Während Nina Hoger mit ihrer Interpretation anspruchsvolle Texte füllt, und Prochnow seine Schauspielwurzeln versiert präsentiert, ist Robert Stadlober in einer Art Rebellenrolle von kultivierter Bühnensprache weit entfernt. Zabine wollte man eher singen hören, die Regie von Ulrich Thon und Kai Reinhardt lässt sie wie die Mitspieler bedeutungsvoll schreiten oder verharren. Alles ist mit Pathos aufgeladen, was zu vielen Texten passt, aber in der Wiederholung ermüdet. Es fehlen die innigen Momente, die Religionserfahrung und die Zweifel der Rilke-Gedichte.
Und dann Paul McCandless: diese Bläserlegende von "Oregon" mit seinem sanften Ton unterfordert sich in einem gefälligen Klangteppich vorausahnbarer Harmonien. Punktuell gelingen beeindruckende Symbiosen, beispielsweise bei Prochnows Version des behüteten Engels.
Die Projektionen positionieren sich zwischen Himmeln, Wassern, unendlichen Weiten sowie gelungenen Schwarzweissfotos. Die Bilder sind punktgenau gesetzt, aber illustrieren ohne Spannung. Das teure Programmheft bietet ausreichend Werbeflächen, aber keinen Programmablauf.
Insgesamt bleibt viel Gestus, komplexes Zusammenspiel und eine innere Leere: ein gut gemeinter und jugendkompatibler Versuch, welcher trotz aller Perfektion dem Anliegen des Dichters nicht gerecht wird.
Nach zweieinhalb Stunden und beeindruckendem Schlussbild frenetischer Beifall für eine schöne Oberfläche. Kein Kontrast, nirgends.


31. Oktober 2004

Konfliktreiche Ehrung

Man hat sich in Bad Berka entschlossen, einen Ehrenbürger der Stadt im nächsten Jahr zu würdigen. Der nüchterne Saal des örtlichen Zeughauses ist am Freitagabend gut gefüllt, denn der Bildhauer Adolf Brütt, dessen 150. Geburtstag sich 2005 jährt, hat Spuren hinterlassen, beispielsweise die Goethebüste am Berkaer Brunnen oder das Denkmal für die Opfer des 1. Weltkrieges. Brütt hatte internationale Reputation, gewann Goldmedaillen auf Weltausstellungen, brachte Rodins Werke in die deutsche Nationalgalerie und erhielt hochdotierte Staatsaufträge. Dr. Cornelius Steckner, Brütt-Experte aus Köln erläuterte in seinem kenntnisreichen Vortrag die überregionale Bedeutung des Künstlers und Wegbereiters des deutschen Jagdgesetzes, allerdings ohne kritische Wertungen vorzunehmen.
Zum Gedenken an das Schaffen und die wechselvolle Vita des Bildhauers, der die letzten fünf Lebensjahre in Berka verbrachte, will die Stadt nun mit einer Doppelausstellung, thematischen Führungen, einer Theateraufführung des örtlichen Gymnasiums und einem Bildhauersymposium reagieren. Letzteres wird mit einem neu ausgelobten Brütt-Preis beendet, der indes mit einer Dotierung von insgesamt 1500 Euro kaum namhafte Bildhauer anlocken dürfte.
Die Ehrung birgt zudem Konfliktstoff, der an diesem Informationsabend offen zutage trat. Denn das demokratisch fragwürdige Vorgehen des Berkaer Kurverwaltungsleiters Johannes Szuka, welcher die Brütt-Projekte mit einem mittlerweile bestätigten Etat von insgesamt 25000 Euro verantwortet, brüskiert den örtlichen Kulturverein zu Recht. Der größtenteils durch bürgerschaftliches Engagement getragene Verein, der in den letzten Jahren ohne nennenswerte Mittel im Coudrayhaus neben vielfältigen Ausstellungen auch die Berkaer Kunsttage initiiert, hatte seinerseits im Stadtrat vorgeschlagen, im nächsten Jahr den 100. Geburtstag des Schauspielers Martin Hellberg zu würdigen. Dieses Vorhaben wird durch den Etat des Brütt-Jubiläums und die mangelhafte Informationspolitik der Stadt höchstwahrscheinlich torpediert. Gleichzeitig steht durch die fortwährende Mittelkonzentration auf die Projekte der Kurverwaltung die Existenz des Kulturvereins auf dem Spiel. (Zur Erinnerung: Im vorigen Jahr wurden von der Berkaer Kurverwaltung für eine esoterische Bespielung des örtlichen Kurparks 40000 Euro ausgegeben!) Dem neugewählten Bad Berkaer Stadtrat steht eine komplizierte Wichtungsarbeit bevor, wobei der Kulturkreis die Notwendigkeit der Brütt-Ehrung nicht in Frage stellt.
Die eigentliche Pikanterie blieb an diesem Abend Randerscheinung: Weimar ist Adolf Brütt wesentlich mehr verpflichtet, hat sich aber in keiner Weise dazu positioniert. Brütts preisgekrönte Skulptur "Nachts" steht in der Bauhaus-Uni und den Sockel auf dem Goetheplatz zierte sein aktuell umstrittenes Carl-Alexander-Standbild. Doch in Weimar hat man ja auch schon Cranach verschlafen...



24. Oktober 2004

Sinnenrausch

Zwei bis auf den letzten Platz gefüllte Vorstellungen am Premierenabend sowie nachfolgend ausverkaufte Aufführungen spiegelten das rege Publikumsinteresse an der "Pink-Floyd" Multimediashow im Jenaer Planetarium. Es ist sich eine komplett überarbeitete Neuaufnahme der Projektion, welche ausgesuchte Hits der erfolgreichen Rockband auf der Kuppel illustriert. Unter der Regie von Jürgen Hellwig ist eine gelungene Symbiose zwischen Musik, Laserlichteffekten und Videosprache gefunden, welche die vorherige Produktion "Queen Heaven" qualitativ weit übertrifft.
Das liegt zunächst an der zeitlosen Qualität der Pink-Floyd-Titel. Die Band prägte vor 30 Jahren einen Stil, der teilweise den Ambientsound der 90er vorwegnahm, damals aber noch unter dem Begriff psychedelic Rock firmierte. Die Wiederbegegnung mit Musik aus dem titelgebenden Konzeptalbum "Wish you were here" sowie "Dark side of the moon" und "The Wall" bringt durch die hervorragende Wiedergabe mit Dolby Surround und Oktophonie hörenswerte Detail-Überraschungen zutage.
Die visuelle Umsetzung in Zusammenarbeit des Zeiss-Planetariums mit "MXZEHN" aus Weimar und Bernd Warmuth von der Intermedia aus Klagenfurth ist ein Bilderrausch, der in seiner Vielfältigkeit beeindruckt. Deutlich ist das Bemühen, über das bloße Illustrieren hinaus, interpretatorisch zu arbeiten, dadurch werden Hits wie "Us and them" oder "Money" zu kreativ beeindruckenden Verschmelzungen von Laser- und Videotechnik. Die Dramaturgie folgt der musikalischen Vorgabe punktgenau, doch bei aller Perfektion werden Sehgewohnheiten etwas stereotyp bedient, einige visuelle Ruhepunkte wären der musikalischen Intention sicher zuträglicher gewesen. Insgesamt ist dem Jenaer Planetarium aber eine sehr gelungene Eigenproduktion zu attestieren, die als Wegweiser für weitere Multimediaprojekte dienen kann. Empfehlenswert.


17. Oktober 2004

Selbstzweck

Vielleicht finden die Musiker aus Berlin eher ein hauptstädtisches Publikum. Im "mon ami" in Weimar erlitt das "Germania Jazz Debakel" am Freitagabend jedenfalls Schiffbruch, und das lag nicht an einer ignoranten Zuhörerschaft.
Die Jazzmeile ist auch in ihrem elften Jahr bemüht, junge und innovative Bands nach Thüringen zu holen. Wollte man der Eigenwerbung des Jazzquintetts Glauben schenken, dann hätte es sich durchaus als Bereicherung des Festivals beweisen können. Doch die Musiker um den charismatischen und ideenreichen Schlagzeuger Harald-Christoph Thiemann verfolgten ein Konzept, welches den ohnehin mäßig besuchten Saal kontinuierlich leerte. Dabei sind die Jazzer durchaus virtuos. Auch wenn die Besetzung durch den fehlenden und vom Publikum erwarteten Gitarristen John Schröder zum Quartett mutierte, war das musikalische Niveau durchaus beachtlich. Saxophonist Georg Fischer erinnerte bei seinen intensiven Chorussen an Garbarek, Volkmar Paschold bediente die Bassgitarre durchaus kreativ und Guido Raschke zauberte aus dem Wurlitzerpiano originelle Harmonien. Trotz dieses Fundaments fehlte der kammermusikalischen Dramaturgie der zündende Funke. Die lustlose und angestrengt humorvolle Performance unterstrich eine musikalische Selbstfindung. Kollektive Dynamik und die Themenarbeit sind präzise, doch findet das Quartett nur einen akademisch hochwertigen Nenner. Vorbilder im Cooljazz oder der frühe Miles Davis sind durchaus zu erkennen, letztlich wohnt der Darbietung eine klare Arroganz inne, ein aggressives, freies Ausspielen, was in seiner Wucht zunehmend ermüdet. Irgendwann geht der verzerrte Keyboardsound auf die Nerven, die kollektive Improvisation wiederholt sich. Sicher ist es in diesen Zeiten schwieriger geworden, neue Ausdrucksformen zu finden, aber man hat das Gefühl, dass das "Germania Jazz Debakel" nicht ernsthaft auf der Suche ist. Kompositorisch spritzig das abschließende "Deutschland kann mehr", doch da war ein Teil den Publikums verärgert gegangen. Vielleicht eher etwas für kalte Neonnächte. In Weimar jedenfalls Dilemma statt hörenswertem Debakel.



11. Oktober 2004

Qualität in Kurzform

Wenn Gott in einem witzigen Kurzfilm des "backup-Festivals" eine schlechtgelaunte Kartoffel ist, dann kann dem Papst in Weimar schon ein Unglück passieren. Michael Rosenblum, Guru der Videojournalisten, war angereist um einen Gewinner des "International Video Reporting Awards" mit Einzelunterricht zu prämieren. Doch der "Videopapst" verstauchte sich beim Zwiebelmarkt das Bein, was flink einen Kurzfilm erbrachte, und die Flexibilität des Genres unter Beweis stellte. Bauhaus-Professor Wolfgang Kissel hat den Preis initiiert, ein Studiengang wird folgen. Franz Wanner aus München kam als interviewter Interviewer zu den Ro-senblumschen Weihen, während der Brite Mike Kraus mit einem ausgeklügelten Konzept einer BBC-Miniserie als verdienter Gewinner die Meßlatte hoch legte.
Einsender des "Clip Awards" passten sich ideenreich ihrer Branchenflaute an. So konnte der Stilmix von Dokumentarfilm und Musikvideo "Die Zeit heilt alle Wunder" mit beschränkten Mitteln überzeugen.
Der zentrale "Backup Award" hatte sich durch verfeinerte Auswahl wohltuend entschlankt. Leider gingen Animationen wie das Hühnerrennen "I'm walking" oder die faszinierende Glühlampenwelt "Poporo" leer aus, dafür gewannen perfekte Konstruktionen wie "Building", eine intelligente Schwarz-Weiss-Sicht auf die Konzerthalle in Brügge. Insgesamt hat backup an Qualität weiter gewonnen, obwohl eine Mehrzahl technisch selbstverliebter Kurzfilme entbehrlich gewesen wäre. Und mancher Präsentation sind leistungsfähigere Beamer zu wünschen.


28. September 2004

Anspruch neben Zwiebeln

Parallel zum Weimarer "Zwiebelmarkt" meldet sich in der nächsten Woche ab Donnerstag "backup" zum sechsten Mal zurück. Das kleine feine Kurzfilmfestival hat schon im vorigen Jahr 3700 Besucher angezogen. Die Festivalleitung bleibt mit Juliane Fuchs in bewährten und engagierten Händen, während sich verdiente Mitstreiter aus Zeitgründen diesmal eher beratend einfügen. Getragen vor allem von der Bauhaus-Universität und Landesmitteln hat sich "backup" diesmal um eine wichtige Komponente erweitert: den "International Video Reporting Award". Dahinter verbirgt sich der europaweit erste Wettbewerb der Videojournalisten, die quasi im Eigenbetrieb mit modernsten Produktionsmitteln die Qualität der Fernsehbeiträge steigern. 300 internationale Einreichungen belegen die spontane Akzeptanz des Preises. In öffentlichen Vorentscheiden, welche noch bis morgen in Weimar stattfinden, werden ca. 20 Beiträge ausgewählt, welche dann im mon-ami-Kino gezeigt werden. Kernstück ist allerdings der mit 4500 Euro dotierte "Backup-Award". Mit über 1000 Einsendungen aus 44 Ländern hatte eine neue, mit Bauhaus-Studenten besetzte Jury die Qual der Wahl. 59 Kurzfilme sind letztendlich nominiert worden, die im e-Werk gezeigt werden. Als dritte Preisauslobung fungiert der "Clip-Award", welcher sich den kreativen Musikvideos widmet, und auf der "backup"-website zum Votieren einlädt. Zusammen mit Foren aus Osteuropa und Brasilien sowie prominenten Vertretern wie beispielsweise Michael Rosenbloom, dem Papst des Videojournalismus und interaktiven Begleiteinrichtungen verspricht auch das diesjährige Festivalangebot spannende Einblicke in moderne Medien.


24. September 2004

Blendende Selbstdarstellung

Nein, Nike Wagner hat das Kunstfest nicht erfunden. Das Festival fußt faktisch auf dreizehnjähriger Kontinuität. Es war immer umstritten, intelligent, auf keinen Fall selbstgenügsam und den Einheimischen nie egal. Es gab anspruchsvolle und flache Veranstaltungen, diffuse und klare Konzepte sowie zaghafte aber innerlich überzeugte Einbindungen lokaler Wurzeln, Belange und Dienstleister.
Nike Wagner hat trotz dieser Vorgeschichte im Selbstauftrag eine Tabula-Rasa-Position geschaffen. Das wäre ihr gutes Recht, wenn diese Haltung zu überzeugenden Ergebnissen geführt hätte, und sie ausschließlich mit Privatgeldern operierte. Doch da sie vom öffentlichen Topf mit fast 2 Millionen Euro ausgestattet wurde, kann der hiesige Steuerzahler durchaus verlangen, dass diese Summe effizient und rücksichtsvoll ausgegeben wird.
Nike Wagner hat unserer Stadt eine elitäre Kunstfestversion beschert, und sie ist gescheitert. Auch wenn jubelnde Feuilletonäre es nicht so ganz wahrhaben wollen: hier hat sich eine Intendantin an Weimar vorbeiinszeniert, den stattlichen Etat verschleudert und eine vielseitige Tradition in die programmatische Enge geführt. Das ist umso ärgerlicher wenn man bedenkt, wie knauserig es hier um die lokale Kulturförderung bestellt ist.
Unbestritten ist: es hat auch in diesem Jahr hochwertige Veranstaltungen gegeben, wobei diese sich vorrangig im musikalischen Bereich ansiedelten. Es ist allerdings keine Managerleistung, für viel Geld große Namen in etablierte Räume zu holen, und damit ein überregionales Publikum anzuziehen. Und: es ist nicht spannend. Statt beispielsweise für fast ein Fünftel des Gesamtetats den Starmusiker András Schiff verhandlungslos zu verpflichten, hätte man in China, wo Weimar bekanntlicherweise seine Beziehungen intensiviert, in der Pianistenszene genauso qualitätsvoll fündig werden können. Stattdessen wurde finanzintensiv auf bewährten Ruhm gesetzt, ohne dass sich der Klavierstar konzeptionell in irgendeiner Weise dem namensgebenden Motto Lizst's verpflichtet gefühlt hätte.
Unbestritten: Nike Wagner weiß sich zu inszenieren, der überregionale Kulturblätterwald pflegt die Verbindungen, denn Bayreuth ist so fern nicht. Die mediale Präsenz war beeindruckend, doch eher der Person denn der Programmatik geschuldet. Während sich die Wagner-Nachfahrin als unerschrockener neuer Besen in kleinstädtischer Sonderheit stilisierte, beäugten die meisten Weimarer kopfschüttelnd den narzisstischen Nike-Sockel. Denn beratungsresistent und autokratisch regierend hat sie lokale Potenzen und Räumlichkeiten verschenkt, ohne neue Impulse zuzulassen oder zu bieten.
Letztlich sind die Einheimischen den "pelèrinages" mehrheitlich ferngeblieben. Vielleicht hat das Kunstfest-Team sie nachhaltig mit dem lieblos und unprofessionell organisierten Auftakt verschreckt.
Sollte man den öffentlich präsentierten Besucherzahlen Glauben schenken, und es gibt berechtigten Anlass dies nicht zu tun, wäre jede der 13 000 verkauften Karten mit ca. 200 Euro subventioniert worden. Und da stellt sich schon zwingend die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. In solch angespannter Haushaltssituation kann sich Weimar und Thüringen solcherart elitäre Fokussierung samt dem Ruch der Vetternwirtschaft nicht leisten. Und wenn die externen Musikgourmets in Weimar ihre Kultur etablieren wollen, dann sollten sie diese auch selbst bezahlen.
In die Tradition Weimarer Verschleierungstaktiken (siehe auch Ursachenforschung Bibliotheksbrand) hat sich Nike Wagner allerdings spätestens seit ihrer Kunstfestbilanz problemlos und kreativ eingefügt. Sie präsentiert der Öffentlichkeit frisierte Auslastungszahlen sowie unsachliche Schuldenzuweisungen und lobt sich ironisch selbst, um eigenes Unvermögen zu kaschieren. Und das ist wiederum eine Tradition, die hier nicht heimisch werden sollte.
Ob sich in den nächsten zwei vertraglich festgeschriebenen Nike-Kunstfesten etwas ändern wird? András Schiff ist zumindest für diesen Zeitraum wiederum teuer erkauft.


17. September 2004

Sympathische Nähe

Die Stühle reichten am Mittwochabend im Weimarer "mon ami" kaum aus, um das zahlreiche Publikum zu fassen. Martina Gedeck las Brigitte Reimann, und hat damit eine weitere Paraderolle ihres Lebens gefunden. Die unstete und spannende Vita der DDR-Schriftstellerin zwischen sozialistischen Idealen und Systemopposition sowie Krankheits- und Beziehungsproblemen ist durch ihre literarische Authentizität fortwährend aktuell. Gedeck als Sympathieträgerin und intelligente Sucherin verstand es über eine Stunde lang, das Auditorium mit Ausschnitten aus Reimanns Tagebüchern zu fesseln. Das lag einerseits an ihrem schauspielerischen Vermögen, die Denkweise der Autorin natürlich und witzig zu spiegeln, andererseits an der spürbar persönlichen Annäherung an die erzählte Geschichte.
Die Lesung siedelt sich im Zeitraum zwischen 1956 und 1972 an, und beschreibt Reimanns Stationen in Burg, Hoyerswerda, Neubrandenburg und Berlin-Buch als tragische Odyssee.
"Gegenwärtig ist für mich ihre Emotionalität und ihr Freiheitsdrang", sagt Gedeck im anschließenden Interview, welches sich vor allem auf die Produktion "Hunger nach Leben" konzentriert. Die Filmvorführung beschließt den intensiven Abend, wirkt eher als uninspirierte Illustration der Lesung. Es bleibt aber eine aktivierende Begegnung mit einer großartigen Schauspielerin.


12. September 2004

Mogelpackung

Trotz der verhältnismäßig hohen Eintrittspreise war die Herderkirche mehr als ausverkauft. Angekündigt war ein Unplugged-Konzert mit BAP, sowie Bandleader Wolfgang Niedecken im Zwiegespräch mit Edelfeder Christoph Dieckmann. Als Finanzsäule des von Weimarhalle und Evangelischer Akademie Thüringen veranstalteten Kongresses "Kultur und Herrschaft" ist das Konzept aufgegangen, der Abend selbst war stellenweise eine Mogelpackung. Als Moderator fungierte Akademiechef Dr. Thomas A. Seidel, der Niedecken und Dieckmann mit uninspirierten Fragen unterforderte, und dem Thema "Subkultur und Volksherrschaft" keine vertiefenden Erkenntnisse abgewinnen konnte.
BAP in Quartettbesetzung lebt vom Charisma Niedeckens. Musikalisch konnte die Band mit verschiedenen Dylan- und Neil-Young-Adaptionen weniger punkten, das Rock-Konzept ist solide, aber angestaubt. Allein Pianist Michael Nass gelang es durch einfallsreiche Harmonien die gängigen Schemata etwas zu durchbrechen, sodass Cover der eigenen Hits wie "Verdammt lang her" und "Kristallnacht" zu eindrucksvollen Neuinterpretationen gerieten. Insgesamt vermochte BAP das Publikum verdient zu begeistern, doch war es eher eine Reminiszenz der Vergangenheit als Gegenwart.
Insgesamt konnte der Kongress von den Veranstaltern als Erfolg verbucht werden. Der Wechsel zwischen Vorträgen und Führungen mit durchschnittlich 50 Teilnehmern hat sich bewährt, die Hochhuth-Lesung und die Exkursion zur Landesausstellung waren weitere Höhepunkte der Tagung. Im nächsten Jahr wird man sich gleicherorts dem Thema "Kultur und Pathos" widmen.


5. September 2004

Verschenkt

Es hätte spannend werden können. "Heimweh nach der DDR", eine durch die Friedrich-Ebert-Stiftung ins Kunstfest eingebettete Podiumsdiskussion, welche Erinnerung in politischer Absicht mit Gesprächen über ein Gefühl koppeln sollte, überfüllte am sommerlichen Samstagnachmittag den lieblos inszenierten Vortragsraum im Weimarer Stadtmuseum. Trotz des immensen Publikumsinteresses konnte die von Historiker Justus H. Ulbrich verschmitzt geführte Runde kaum Anhaltspunkte zum Motto geben. Die Chance, eine wachsende mediale Annexion des "Ostgefühls" zum Angelpunkt der Diskussion zu machen, wurde vertan. So erging sich Jana Hensel, bekannt durch ihr Buch "Zonenkinder", entweder in müßigen Begriffsfestschreibungen ("Heimweh ist mir zu diffus") oder stellte die Aktualität des Mottos weltfremd in Frage. Landolf Scherzer unterhielt mit klugen Beobachtungen von seinen neuesten Grenzgängen zwischen Ost und West. Germanist Rüdiger Haufe aus Halle abstrahierte eigene biografische Ursprünge und globalisierte pauschal und der Leipziger Philosoph Thomas Ahbe versuchte sachkundig, aber mühsam, ordnende Parameter in das Gespräch einzubringen. Unentschieden pendelnd zwischen wissenschaftlicher Definition und gefühlsmäßiger Deutung versandete die mögliche Kontroverse in angenehmer Unterhaltung mit sparsamster Publikumsresonanz. Schade


26. August 2004

Tiefenschärfe

Wodurch definiert sich das menschliche Individuum? Dieser vielschichtigen Frage, die in unser konsumdeterminierten Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnt, widmete sich bei ihrem ersten Weimargastspiel am Mittwochabend die Theatergruppe "Die Täter" aus Berlin. In der stimmigen Aura des e-Werks wurde das Thema in einer Art Schauspielgruppentherapie verhandelt, wobei sich die Regisseure Anke Gregersen und Cornelius Schwalm mit identischem fünfköpfigen Ensemble den spannenden Abend teilten, und gleichwertig unterschiedliche Darstellungsformen und Sichten in das Thema einbrachten. Während Gregersen mit dialogisch exakten Fragespielen und stimmigem Musikeinsatz inquisitorische Mißstände bei Behörden und Bewerbungen und oberflächliche Persönlichkeitswertungen geißelte, pflegte Schwalm einen assoziationsreichen, von Bewegung dominierten Stil der Selbstbefragung. Das Profi-Ensemble ist sehr kommunikativ, findet oft humorvolle Spiellösungen und fesselt durch klug inszenierte Spontaneität und stringente Figurenzeichnungen. Besonders beeindruckend: Natascha Menzel mit perfekter Gestik und Stimmlage sowie hoher sanglicher Qualität in der Darstellung eitler Attitüde und lasziver Anbiederung. Insgesamt ein anregender Theaterabend, der mit einer Publikumsanfrage endete. Die begeisterten Zuschauer konnten anregen, welche Thematiken von den "Tätern" demnächst behandelt werden sollten. Mit dem gleichen Ansinnen befragten die Schauspieler und Regisseure gestern Passanten auf dem Weimarer Marktplatz. Als ein Favorit kristallisierte sich "Funktionieren in der Gesellschaft" heraus. Ein Grund mehr, die geplante Wiederbegegnung einzufordern.


23. August 2004

Doppelte Wehmut

"Es ist, als ob du in ein schönes großes Wohnzimmer kommst, dort viele alte Freunde zum Reden triffst und gleichzeitig gute Musik hörst", antwortet mein geschätzter Kollege auf die Frage, was denn für ihn den Reiz der Jenaer Kulturarena ausmache. Diese Wertung teilt er im mittlerweile dreizehnten Jahr dieses Thüringer Kultursommerereignisses mit fast allen Besuchern. Rund 68000 waren in den letzen sechs Wochen zu 53 Veranstaltungen gekommen und sorgten für 11 ausverkaufte Abende. Das sind zwar 4000 Besucher weniger als im Vorjahr, aber bei diesem verregneten Sommeranfang ist dies letztendlich ein marginaler Verlust.
Während sich zum Abschlusskonzert die "Les Babacools" mit etwas beliebigen Reggae, Ska- und Latinorhythmen und Hiphop-Gehabe ein wenig selber feiern und die Arena zum Schwingen bringen, breitet sich eine doppelte Wehmut aus. Denn das Finale der Arena bedeutet auch ein bisschen Abschied vom Sommer, von einigen mitreißenden Konzerten und einer unvergleichlich kommunikativen Aura, die stetig Besucher aus dem mitteldeutschen Raum nach Jena zieht.
Festivalleiterin Margret Franz kann zufrieden sein, hat sie es doch mit ihrem kleinen Team und dem vergleichsweise schmalen Budget von 750000 Euro geschafft, das Festival mit Niveau, Neuentdeckungen und abwechslungsreichen Genres zu bestücken und das Publikum ohne großen Staranteil beständig zu locken.
Sicher, Nigel Kennedy, Gianna Nannini, Gerhard Schöne oder Blumfeld sind Garanten für eine volle Arena, aber das Publikum reagiert ebenso aufgeschlossen auf moderne Flamencorhythmen (Gerardo Nunez und Carmen Cortès), kammermusikalischen Pop ("Naked Raven") oder kabarettistischen a-capella-Gesang ("Ganz schön feist"). Und das der ehemalige "Talking Head" David Byrne mit seinen spannenden Neudefinitionen des Rock die Arena nur halb füllte, war eindeutig dem Wetter zuzuschreiben.
Es gab neue Bands und Töne, welche die Zuhörer nachhaltig begeistern konnten: die charismatische "Lhasa" mit ihren meditativen Stimmungen, Marcus Miller mit jazzrockiger Brillanz mit Bass und Saxophon oder "Lambchop" mit alternativen Ideen.
Trotz solcher unvergesslicher Abende muss das ursprünglich von Norbert Reiff ersonnene Erfolgskonzept alljährlich wieder auf den kritischen Prüfstand, und die Bilanz weist durchaus einige Beliebigkeiten und Fehlgriffe aus. So war das Engagieren beispielsweise von "Vocal sampling" oder "The Klezmatics" eher der Angebotsvielfalt, denn der musikalischen Originalität, geschuldet. Auch in der liebevoll gedachten Kinderarena gibt es noch Reserven, Halbplaybackunterhaltung a la "Philis und Mike" sind für das jüngste Publikum zu flach, während Lakomys "Traumzauberbaum" das Areal hinter dem Theater berechtigt am Sonntagvormittag vollständig füllt.
Auch im nächsten Jahr muss sich das Thüringer Festival wieder in der Balance zwischen Kommerz und Anspruch bewegen. Denn es sind nicht die spektakulären Megaevents und Medienhypes welche im Gegensatz zu vielen anderen Festivals die Kulturarena speisen, sondern der kluge Einkauf von kommenden und unbekannten Stars und Projekten. Diese veranstalterische Experimentierfreudigkeit hat auch in diesem Jahr meistenteils erfolgreich geprägt. Solch risikoreiche und anspruchsvolle Kontinuität sollte das Land mehr honorieren als mit spärlichen 40000 Euro. Denn die Arena ist mittlerweile ein gewichtiges und intelligentes Aushängeschild für die Region geworden.
Und damit zurück zur Wehmut: einen unbestrittenen Höhepunkt setzte das Jenaer Theaterhaus mit ihrer "Sommernachtstraum"-Inszenierung. Witzig, respektlos, furios und unter kluger Einbeziehung lokaler Ressourcen gelang dem Team auch in diesem Jahr eine im besten Sinne spektakuläre Neubelebung eines klassischen Stoffes. Dass diese Mannschaft um Claudia Bauer damit ihre Abschlussvorstellung gegeben hat, ist ein schmerzhafter Verlust. Die Nachfolger werden nach diesen Vorgaben viele Erwartungen erfüllen müssen.
Last but not least ein dickes Lob für die Qualitätsarbeit der Tontechniker von adapoe-Sound, sowie für den engagierten, freundlichen und mit vielfältigem Angebot lockenden "Gastrogürtel", welche entscheidend zum Gelingen und angenehmer Atmosphäre der Arena beitrugen. Die vierzehnte Auflage bringt eine Schiller-Inszenierung und Begegnungen mit "Tower of Power", Kimmo Pohjonen und Götz Alsmann. Dann wird die dreizehnte Arena als guter Jahrgang mit kleinen Schwächen in Erinnerung sein.


22. August 2004

Schmunzelrunde

Der Mix macht's und die Arena schmunzelt. Das Trio "Ganz schön feist" aus Kassel bescherte Jena am Freitag erneut einen vergnüglichen Sommerabend mit ihrem intelligenten Mix aus eingängigen Popkompositionen, a-capella-Gesang ohne Spartengrenzen und humorvollen Texten. Ständig werden gängige Liedermacher- und Schlagerphrasen gekonnt persifliert und Erwartungshaltungen originell konterkariert. Nach lyrischen Einstiegen ("Komm bitte nich", "Du willst immer nur f.") birgt meist der Refrain eine zündende Pointe. Die gut gefüllte Arena amüsierte sich prächtig bei bissiger Lehrerschelte oder biologischen Reflexionen ("Enten haben keine Ohren"). Die charismatische, einschmeichelnde Stimme des Leadsängers Mathias Zeh lässt die schwarzhumorigen Texte um so besser wirken, Rainer Schacht überzeugt sowohl vokal als auch mit griffigen Riffs auf der Akustikgitarre und der für Beo Brockhausen eingewechselte Christoph Jess ergänzt das Trio sowohl stimmlich als auch perkussiv. Stilistisch arbeiten die Musiker abwechslungsreich, die Songs arrangieren sich souverän zwischen lateinamerikanischer Rhythmik und deutschem Schlager ("Junge, Junge") an. "Lasst uns nicht wieder zwölf Jahre warten", bittet Matthias Zeh nach langem Zugabenteil. Dieser Wunsch sollte ihm unbedingt erfüllt werden.
Heute ging die Arena mit einem rhythmisch und musikalisch mitreißenden Feuerwerk der "Les Babacools" zu Ende.


16. August 2004

Konfliktstoffe

Nachdem der herderspezifische Themenkongress im Vorjahr eher überregionale Sphären erreichte, will man nun das Verhältnis von "Kultur und Herrschaft" beleuchten. Von 9. bis 12. September werden die Evangelische Akademie Thüringen und die Weimarhalle ihre Potenzen synergetisch nutzen, um mit Vorträgen, Führungen, Gottesdiensten und Konzerten ein kulturinteressiertes Publikum zu erreichen. Die jetzigen fünfzig Anmeldungen will man mindestens verdoppeln, um das deutschlandweite Geistestreffen auch kommerziell zu untermauern. Dazu dürfte auch das integrierte Unplugged-Konzert mit BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken in der Herderkirche beitragen (11.9.). Moderiert von Christoph Dieckmann, der Aspekte von West- und Ostrockmusik im Interview mit dem Kölner Sänger erörtert, ist dies sicherlich einer der öffentlichkeitswirksamsten Höhepunkte des Kongresses.
Ebenso spannend dürften die Doppelporträts in Vortragsform werden. Die problematischen Beziehungen zwischen Carl Alexander und Liszt, Hitler und Riefenstahl, Ulbricht und Brecht sowie Herbert Grönemeyer und Gerhard Schröder bieten sicherlich ausreichend aktuellen Diskussions- und Lehrstoff.
Der Jenaer Historiker Justus H. Ulbricht, der mittlerweile selbst zum Weimarer Kulturgut gehört, führt zu den Spuren totalitärer Gegenwarten des Kongressortes. Zwischen Thälmann- und Doppeldenkmal, Goethehaus und Gauforum wird er in gewohnt kritischer und sachkundiger Weise zum temporären Stadtführer avancieren. Und wo die Akademie wirkt, ist auch der Landesbischof nicht weit: Christoph Kähler referiert bei einem Vespergottesdienst in der Herderkirche zum Tag des Offenen Denkmals.
Trotz aller Programmvielfalt fehlen auch wichtige Aspekte. So wird beispielsweise der Konflikt zwischen unangepassten DDR-Künstlern und Staatsmacht nur marginal behandelt und damit eine Chance lokaler Anbindung verpasst. Auch die Preispolitik des Kongresses sollte überdacht werden, um kulturell Interessierte mit kleinem Geldbeutel nicht von vornherein auszuschließen.
Denn es wäre schade, dieses spannende Angebot nur einer Elite vorzubehalten. (Für die gibt es ja das Kunstfest.)


15. August 2004

Animiermänner

Zu den liebenswerten Ideen der Jenaer Kulturarena gehört seit Jahren die Kinderarena. Am Sonntagvormittag gilt die Offerte für Kinder und Erwachsene, wobei erstere sogar kostenlos die verschiedenen Künstler erleben dürfen. Umso erstaunlicher, dass dieses Angebot die Arena nicht vollständig füllt.
Mit "Philis und Mike" haben die Programmeinkäufer aber leider einen Missgriff getan. Die beiden Kölner lieferten ein wenig kindgemäßes Animierprogramm, das ein wenig an die ewig launigen Formatradiomoderatoren erinnerte. Es ist eben ein Unterschied, ob man als Erwachsener kindertümelnd spielt, oder versucht, sich mit den Jüngsten auf eine ernstzunehmende Ebene zu begeben.
Mit vielen professionell abgemixten Halbplaybacksongs zwischen Deutschrock und Hiphop werden die Kinder von dem Männerduo zum Mitsingen und Klatschen aufgefordert. Manchmal sind die Texte witzig ("Drachendoktor"), aber was sollen die Jüngsten mit unerklärten Fremdworten wie "demolieren" anfangen? So besteht die musikerfüllte Stunde nur wiederholt aus eingängigen Refrains ("Komm her, und lass dich drücken", "In meiner Höhle bin ich der König") die von den Jüngsten bereitwillig mitgesungen werden, aber es fehlt leider die innerliche Substanz. Wenig Spiellösungen und unsensible Wertungen ("klingt wie im Altersheim") sind die Crux des Nummernprogramms. Sicher, nicht jeder kann wie Gerhard Schöne die Herzen der Jüngsten erobern, aber man sollte sich an solchen Standards orientieren. Trotzdem gab es Zugabeforderungen, Kinder sind eben dankbarer. Aber nicht zu unterschätzen.


13. August 2004

Streicheleinheit

So melodisch, so sanft, so fragil. Das mittlerweile in Deutschland beheimatete australische Quintett "Naked Raven" ist seinem Konzept treu geblieben, kammermusikalische Arrangements mit modernen Songwritertraditionen anspruchsvoll zu verbinden. Teils melancholisch, teils rhythmisch forciert spinnt die mit akustischen Instrumenten besetzte Band auch einen schlüssigen Faden zwischen Neopop und Jazztradition. Dabei ist der Ansatz nicht neu, erinnert an die frühe Rickie Lee Jones, die artifizielle Kate Bush oder die erdverbundenen "Rainbirds". Die glockenklare Altstimme von Janine Maunders schwebt über den feinen und sparsamen Collagen der Streicher, die Gitarre von Russ Pinney liefert virtuose Pickings, und die Perkussion James Richmonds setzt präzise Akzente. Das kontrapunktische Cello von Caerwn Martin fungiert sowohl als Bassersatz, als auch als originärer Farbtupfer und die Geigensolis von Stephanie Lindner pendeln zwischen Linienführung und expressivem Ausbruch.
Sicher wäre es, wie schon im Vorjahr diskutabel, ob diese Band in konzentrierter Konzertatmosphäre besser aufgehoben wäre als auf offener Bühne, aber der glasklare Adapoe-Sound und die stimmigen Lichteffekte ließen in der Arena die Illusion der Intimität durchaus zu. Das fast ausverkaufte Areal tat an diesem Sommerdonnerstagabend ein Übriges, um die elegischen Stimmungen und textlichen Reflexionen über Partnerschaft und Natur wirken zu lassen. "Naked Raven" - nicht unbedingt aufregend, aber solide behauptete Eigenständigkeit gegen flachen Mainstream. Musik, die Stille und Einkehr illustriert.


12. August 2004

Kopfschmuck

Bis zur letztmöglichen Minute predigt, unterhält, blödelt und singt er in der fast ausverkauften Arena. Er ist ein sanfter Botschafter des inneren Friedens geblieben, ein zärtlicher Zeitzeuge und ein beständiger Mahner.
Seine Popularität ist konstant, seine alten Lieder sind Hits für Generationen geworden. Gerhard Schöne ist in aller Doppeldeutigkeit ein verbindlicher Liedermacher. Seine Geschichten fokussieren oft Alltäglichkeiten oder menschliche Beziehungen. Da spielt viel Herzenswärme mit, die Verse sind eingängig, manchmal tiefsinnig und berührend. Doch bei aller Botschaft ist Schöne ein wenig die Poesie abhanden gekommen. Neue Texte, wie die Sting-Adaption "Zerbrechlich", kommen etwas hölzern daher, und auch in seine aktuellen "Lieder des Fotografen" schleicht sich unnötige Länge und ein pädagogischer Zeigefinger ein. Neben seinen alten Hits können sie nicht bestehen, vielleicht mit Ausnahme der "Kleinen Schachteln", einem Pete-Seeger-Cover.
Mitten im Programm wird sein Schirm zur Wunschbox, und er singt die Kinderlieder von der Jule, die sich nicht wäscht, dem kleinen Beginnen und dem Ding-dong-Telefon. Und da ist sie, diese fröhliche Unbeschwertheit, diese lockere und schnoddrige Präsentation die Schöne so liebenswert und einzigartig macht. Die Generationen sind vereint, das Publikum singt mit und amüsiert sich prächtig und stellt die zeitlose Leichtigkeit seiner früheren Lieder unter Beweis. Später wird er mit jazzrockigen Untertönen die Oma schaukeln lassen, er kann sich auf sein musikalisches Hinterland - ein Quintett, angeführt vom versierten Keyboarder Stefan Kling - fast blind verlassen. Die "Fremden Federn", so der Titel seines Programm als Synonym für verschiedenste Coverversionen von Bob Dylan bis Gilbert Becaud sind aber eher Kopfschmuck denn Herzensangelegenheit. Allzu routiniert werden Kompositionsweise und lyrische Mittel vergangener Erfolge reanimiert. Es funktioniert noch, aber das Kribbeln fehlt. Trotzdem eine lohnenswerte Begegnung und verdiente Begeisterung beim Publikum.


5. August 2004

Imitationsartisten

Es ist eine perfekte musikalische Illusion, welche die Arenabesucher an diesem Mittwoch hören. Und zudem ein karibisches Erlebnis - ein Flair, welches stimmig zu diesem Sommerabend passt. Der ausverkaufte Theatervorplatz vermeint akustisch eine Bigband, einen anfahrenden Zug oder eine Latinogruppe mit opulentem Perkussion-Set zu erleben. Doch auf der Bühne stehen sechs Kubaner, die vermittels ihrer Stimmen und Geräuschimitationen ebendiese Illusionen erzeugen.
"Vocal Sampling" sind mit ihrem Können nicht nur Größen wie Peter Gabriel und David Byrne zu einer Lieblingsformation geworden. Inzwischen haben sie auch mit ihrer dritten CD "Una forma mas" die europäischen CD-Player und Bühnen erobert. Die Spezialität dieses Sextetts liegt in der vokalen Adaption lateinamerikanischer Rhythmusinstrumente und einem Repertoire, welches sich größtenteils auf kubanische Folklore stützt. Dazwischen erklingt eine humorvoll zelebrierte Filmfanfare, ein klassisches Zitat oder ein exzessives Gitarrensolo. Standards wie der Song vom "Banana-boat" oder "Guantanamera" werden mit zündenden Rumba- und Salsa-Rhythmen vokal unterlegt. Dazu kommen Gesangssätze höchsten Schwierigkeitsgrades, etwa wenn quasi im freien Takt in Jazzart improvisiert wird.
Das Ensemble, geleitet von Rene Banos fand sich an der nationalen Musikschule in Kuba. Mit traumwandlerischer Sicherheit sind sie aufeinander eingespielt, werfen sich die vokalen Bälle zu, zeigen sich sowohl im Gentleman- als auch im Bauarbeiterlook und bringen die Arena zum Mitsingen und Tanzen. Einer der Höhepunkte: das Solo von Abel Sanabria, bei dem er furios ein komplettes Schlagzeug imitiert. Eine artistische Sangesleistung, zu Recht mit Zugaben belohnt.


1. August 2004

Zwischen Tradition und Experiment

Klezmertage in Weimar profilieren sich als internationale Weiterbildung auf hohem Niveau

"Meine Vision war, hier eine kleine, feine Sache zu machen", so Alan Bern. In diesem Jahr kann der Musiker, der mit "Brave Old World" internationale Szenemaßstäbe setzt, als Programmdirektor der Klezmertage diese Vision als verwirklicht betrachten.
Vier Wochen erfüllten die 180 Kursteilnehmer das Ettersburger Schloßareal und die Weimarer Innenstadt mit vertrauten jiddischen Klängen. Ein Fünftel der 25 öffentlichen Veranstaltungen waren Open Air Konzerte. Regnerische Einflüsse konnten nach Angaben der Festivalleiterin Stephanie Erben die Besucherzahl gegenüber dem Vorjahr nicht schmälern. Besonders die Jam-Sessions waren bewährte Anziehungspunkte, so dass rund 5000 Gäste zu den Klezmertagen gezählt wurden.
Mag der Reiz für Zuhörer in den Spielarten jiddischer Tradition und deren aktueller Bearbeitung liegen, was Formationen wie "Khupe", "Veretski Pass" oder das Trio um Shura Lipovsky kreativ bewiesen, gewinnen die Workshops immens an internationaler Bedeutung. "Diese Kurse haben das höchste Teilnehmerniveau der Welt, was ich bisher erlebt habe", konstatiert Alan Bern. Die Kurse belegen fortgeschrittene Eleven, welche die Klezmertage als eine Art Sommeruniversität betrachten. Andererseits verbringen Dozenten und Schüler viel Zeit im Plenum, welches sich als Ideenpool manifestiert. "Bei anderen Klezmerfestivals arbeiten 50 Lehrer parallel nebeneinander, es ist wie einer Einkaufsmeile, jeder kann sich bedienen. Dadurch gibt es aber unverbindliche Qualitätsmaßstäbe und Lehr-Routine. Wir nehmen die Anregungen der Teilnehmer ernst und erreichen dadurch pädagogische Integrität", so Bern. Dass der Instrumentalkurs mit siebzig, überwiegend weitgereisten Teilnehmern an Kapazitätsgrenzen stößt, ist Beleg dieser These. Doch man versucht noch tiefgründiger in die Klezmer-Welt einzutauchen. Mit Beyle Schaechter- Gottesmann konnte eine der angesehensten jiddischen Sängerinnen älterer Generation gewonnen werden. Sie eröffnete den Konzertreigen und gab Zeitzeugenwissen sowie künstlerischen Erfahrungen fundiert im Kurs an Sänger und Begleiter weiter. Zev Feldman und Michael Alpert, Autoritäten des jiddischen Tanzes, gaben "Shrit bay shrit" Anregungen für Anfänger und Fortgeschrittene.
Als Schwerpunkt stand neben den Jiddisch-Sprachkursen die musikalische Improvisation im Klezmer. Eine ebenso spannende wie schwierige Herausforderung. "Klezmer ist eine monophonische Musik, deswegen baut sich die Improvisation über die Melodie in verschiedenen Modi über Spannung und Entspannung auf. Wir sind aber vorwiegend gewohnt, harmonisch zu hören", erläutert Bern. Die "unbequeme Ehe" zwischen Melodie und Akkord galt es unter den verschiedenen Aspekten auszuloten. So arbeitete Geigerin Deborah Strauss an der Beziehung zwischen Sprache und Melodie, während Akkordeonist Joshua Horowitz seinen Schülern die Kunst der Melodieverzierungen näherbrachte. Das Abschlusskonzert am Samstag im restlos gefüllten Coudraysaal brachte Arbeitsergebnisse der Kurse mit verschiedenen Formationen zu Gehör. Neben experimenteller Potenz mit minimalistisch inspirierten Improvisationen des Ensembles unter Leitung des Klarinettisten Christian Dawid überzeugten auch die kammermusikalisch strengen Melodieverschränkungen des Kurt-Bjørling-Sextetts. Abschließend gab es schwungvollen Kollektivgesang und die Dozenten wurden mit verschiedensten Apfelsäften beschenkt. Dass man sich im nächsten Jahr wiedersieht, war als Wunsch schon Selbstverständlichkeit.


30. Juli 2004

Laudatio zur Ausstellung "Radlos" von Carsten Hellmuth in der Tourist-Information Weimar
( 30. Juli bis 6. September 2004)

Mein Freund Daniel ist ein Fahrradfahrer, und er trägt zu seiner Sicherheit einen Helm. Nachdem er unlängst radelnd die Schillerstraße passierte, erschütterte ebendiesen Helm ein Schlag von oben. Einigermaßen erschrocken stieg Daniel vom Rad und stand einem selbsternannten Ordnungshüter älteren Jahrgangs gegenüber, der ihm lautstark erklärte, dass die Durchfahrt mit Fahrrädern hier amtlicherweise nicht erlaubt ist.
Nun ja, aus diesen Erlebnissen kann man die verschiedensten Schlussfolgerungen ziehen. Zunächst, dass es wohl sicherer ist, mit dem Auto durch die Fußgängerzone zu fahren, was ja auch des Öfteren passiert. Da werden die Fahrer höchstens scheel angesehen, aber kein Dach hat durch einen unbeauftragten Rechtshelfer eine Beule erhalten. Und es zeigt außerdem eindrucksvoll, dass Radfahren gefährlich ist, und Aggressionen weckt. Verbale Angriffe wie "Du hast ja ein Rad ab" oder "Ich mach dir gleich Licht ans Fahrrad" bestätigen diese These ebenso wie die allseits bekannte Charakterisierung des Radfahrers - nach oben buckeln, nach unten treten.
Zudem sind Radfahrer auch asozial. Statt als Falschparker die marode Stadtkasse zu füllen und den Politessen damit nachhaltige Erfolgserlebnisse zu bescheren, stellen sie ihre Drahtesel ungefährdet ab.
Da wäre eine neue Einnahmequelle zu erschließen, vielleicht sogar ein Ministerposten fällig. Es soll ja in der Landeshauptstadt mehrere Beamte geben, die noch ein paar Ressorts benötigen sollen. Und da es ja wohl leider eine Menge Radfahrer in Weimar gibt, wäre es doch durchaus denkbar, sie nachhaltig zu bürokratisieren.
Gejagt werden sie ja schon. Manche Autofahrer betrachten die Radler als straßenschädliches Freiwild, und konnten schon den einen oder anderen Pedalritter verletzen oder gar erlegen. Doch das kann keine Lösung sein, schließlich sind wir offiziell ein friedlicher Landstrich. Es sei denn, man würde die Bratwurst samt Rähmchen verbieten...
Wer sich trotzdem entschließt, die Gesellschaft als Radler zu schädigen, dem sind mittlerweile weitere Hindernisse gesetzt. Konnte er damals stolz ein Vehikel mit Pedalen, Lenker, Rädern, Kette, Rahmen, Klingel und Licht präsentieren, ist der Statuskampf um das edelste Modell heiß entbrannt. Zwischen Mountainbike und Drahtesel liegen nicht nur finanzielle Welten, die Wahl der Gangschaltung kann schon zur Gewissenfrage gerieren. Doch ungeachtet aller dieser Raffinessen ist die Steigungsbewältigung der Humboldtstraße nur von Hochleistungssportlern ohne Schiebung zu bewältigen.
Zudem ist das Fahrrad in Weimar auch in hochgeistiger Hinsicht unpassend.
Denn selbst modernes Regietheater ließ Faust und Mephisto nicht um die Erde radeln, kein Schillerscher Räuber hat sich je eines Fahrrads bemächtigt und Don Giovanni hat wohl mehrere Damen geritten, aber nicht vom Radsattel aus erobert. Vielleicht auch das ein Grund, warum die Pedalritter in Weimarer Parks nicht wohlgelitten sind.
Zudem hält die Zukunft Bedrohliches für die Radfahrer bereit. Kennen wir doch alle den Leitspruch der Sternenkrieger: "Möge die Acht mit Euch sein!"
Bleibt die Frage, was die Begierde an solcherart Zweirädern weckt. Sicher nicht die Putzsucht, oder haben sie schon mal einen Fahrradeigner gesehen, der sein Gefährt mit gleicher Hingabe und Spezialausstattung putzt, wie ein Autobesitzer? Und atmet man als Radfahrer nicht wesentlich mehr Abgase ein, als der gesittete Kraftfahrzeugbeweger?
Sicher, Weimar hat eine Auszeichnung als fahrradfreundlichste Stadt bekommen, doch sollte man solcherart gewürdigte Freundlichkeit so bewegungsfreudig herausfordern?
Dies sind schwergewichtige Überlegungen, deren Beantwortung nur durch den Spaß des Fahrradfahrens, reizvoller Rückansichten und ebendieser Ausstellung verdrängt wird.
Carsten Hellmuth ist als ehemaliger Tauchlehrer sicher prädestiniert, fotografisch in Weimar unterzutauchen, kann sich Wasser doch auch manchmal als undurchsichtige Materie zeigen. Als Architekturstudent, DNT-Techniker und Kunstfestmitarbeiter bringt er die nötige Blickdichte mit, um wichtige Details schnell zu erfassen. Schließlich hat er durch besagte Weimarerfahrung erfolgreich gelernt, sich auf vermintem Gelände zu bewegen. Zudem bringt er durch seine Reisen nach China, Indien, Vietnam und Afrika die Weltsicht mit, die es vermag, eine Provinz gebührend und wohlwollend einzuordnen.
Hellmuth fokussiert das Fahrrad als Besitzstand, Ruheraum, Bewegungs- und Arbeitsmittel, Rostanziehungspunkt und Liebhaberstück - ein treuer eiserner Gefährte, der wie im Falle Roxanne auch vergangene Entwicklungen im Auge behält. Carsten Hellmuths Schwarz-Weiss-Fotografien wirken nicht farblos, sind sanfte Elegien inmitten pedalbestimmter Schnelligkeit und entspannter Partnerschaft zwischen Technik und Mensch. Der verrostete Lenker, das abgelegte oder zerstörte Objekt oder die Radwege am Meer sind Ausschnitte aus einer Beziehungswelt welche durch den monochromen Blickwinkel etwas angenehm Zeitloses vermittelt. Womit wir fast wieder bei Weimar wären.
Abschließend gesagt: das Durchradeln dieser Innenstadt trägt viele anarchische Elemente, und deswegen ist es für uns Weimarer dringend notwendig.


25. Juli 2004

Politrock und Bluesfeeling

Addiert man den kantigen Politsong der Siebziger mit eingängiger, gitarrendominierter Rockmusik, hat man das Konzept der Hamburger Band "Blumfeld" umrissen. Der charismatische Sänger Jochen Distelmeyer hat es mit dem neu formierten Quartett geschafft, durch poetische und didaktische Texte Erfahrungsberichte seiner Generation zu bündeln und sich in Hitform als Sprachrohr der kritischen Jugend zu etablieren. Die letzte Jena-Begegnung im "Kassablanca" war Distelmeyer in bester Erinnerung, und so konnten die Musiker mittels Punk-Attitüden, etwas Grunge und natürlichem Charme das Arenarund im Sturm erobern. Der Charakter einer gereiften Schülerband wird bewusst zelebriert. Mit Manifesten wie "Mein System kennt keine Grenzen" und "Wir sind frei" traf "Blumfeld" den Nerv der Fans, verortete den poetischen Hit "Tausend Tränen tief" in den langen Zugabenteil, blieb aber insgesamt in den Grenzen musikalischer und agitatorischer Erwartungen befangen.
Dagegen sorgte die junge afroamerikanische Jazzsängerin Lizz Wright am nächsten Abend gleicherorts für nachhaltige Überraschung. Ihre warme, modulationsfähige Altstimme überzeugte mit kraftvoller Intensität und beeindruckenden vokalisischen Improvisationen. Zudem stand ihr mit Deanna Wittkowsky eine exzellente Keyboarderin an Flügel und Fenderpiano zur Seite, welche die Rhythmusgruppe mit kontrapunktischer Harmonik und markanten Läufen sanft zum Schwingen brachte. Das Quartett baut auf Bluestradition, akzentuiert Eigenkompositionen oder Adaptionen wie "Nature boy" aber stilsicher mit individueller moderner Deutung. Lizz Wright gibt ihrer Band Entfaltungsfreiraum, man hört aufeinander, spielt sich dynamisch spannungsvoll zu und lässt ein vollends begeistertes Publikum zurück.


23. Juli 2004

Ein Spitzenduo und eine beeindruckende Bilanz

Das Spiegelzelt in Weimar zog mit niveauvollem Programm bundesweit Besucher an


Das Wechselspiel zwischen Sänger und Begleiter ist schon oft parodiert worden, doch kaum wird es so genüsslich und urkomisch zelebriert wie bei Thomas Pigor und Benedikt Eichhorn. Im vollen Spiegelzelt brachte das kleinkunstpreisgekrönte Duo die dritte Auflage ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit. Pianist Eichhorn mimt den Einfaltspinsel, der mit Gutmenschentum ständig über das Ziel schießt. Sänger und Texter Thomas Pigor gibt den leidend, zynischen Gegenpart. Auch dieses neue Programm ist gespickt mit witzigen Einfällen, mitreißenden Chansons und respektlosen Betrachtungen. Pigor und Eichhorn gelingt, das Genre gleichzeitig zu bedienen und persiflieren. Da wird über Duscharmaturen und Babyaufkleber philosophiert, über französisches Chansongehabe und übergewichtige Amerikaner geätzt und Heideggers Gedankengut als zündender Reggae serviert. Mit subtiler Erotik phantasiert Pigor über nächtens verlassene Bühnen oder karikiert Hitler im Badezimmer. Die Gratwanderung von Provokation, Anspruch, neuen Formen und humorvoller Ausdeutung des Bühnenstatus begeistert das Publikum nachhaltig. Man amüsiert sich prächtig über die gespielte Kollision unterschiedlicher Charaktere. Mit professioneller Leichtigkeit fusioniert ein vielseitiger und virtuoser Pianist inklusive schauspielerischer Reife mit einem der kreativsten Texter und Interpreten Deutschlands, der mit wortakrobatischer und rhythmischer Perfektion seine unpathetischen Weltsichten stilsicher vorträgt. Ein Chansonabend der Meisterklasse, der mit mehreren Zugaben endete.
Zusammen mit Tim Fischer, Georgette Dee, Andreas Rebers, Lisa Bassenge und anderen sorgte das Duo für ein weiteres Highlight in einem insgesamt sehr erfolgreichen und klug sortierten Spiegelzeltprogramm. Der über sechs Wochen angelegte Genremix aus Musik, Theater und Kabarett zog über 10300 Besucher bundesweit an und überflügelte damit Kunstfest-Besucherzahlen. Dieser Erfolg wäre im Vorfeld durch kleinliche Bedenkenträger in Denkmalschutzbehörden und örtlichem Grünflächenamt fast verhindert worden, doch solche Hürden sind in Weimars Kulturbetrieb leider alltäglich und wurden erst durch Bürgermeistereinfluss überwunden. Das Spiegelzelt, vorjährig im Kunstfest eingebunden, hat sich 2004 dank der professionellen Privatinitiative von Christoph Drescher, Martin Kranz und Jürgen Hoffmann sowie engagierter Sponsoren zu einem mitteldeutschen Fixpunkt der hochwertigen Kleinkunstszene emanzipiert. Das niveauvolle Zusammenspiel von Kultur und Gastronomie und das Preis-Leistungsverhältnis trugen entscheidend zu dieser Bilanz bei. "Ein Zeichen, das man Kultur auch anders machen kann", so Festivalleiter Martin Kranz. Zwar sollte die Qualität der Eigenproduktion "Arzt wider Willen" kritisch begutachtet werden, doch schon jetzt zeichnet sich eine feste, jährliche Etablierung des Spiegelzeltes zwingend ab.


18. Juli 2004

Energiequelle

Ihn als Vielbeschäftigter zu charakterisieren, wäre wohl untertrieben. Marcus Miller, der erstmalig in der gut gefüllten Kulturarena am Freitagabend gastierte, ist einer der gefragtesten Jazzbassisten Amerikas und zudem ein exzellenter Saxophonist. Universell und versiert spielt er sich durch die verschiedensten Pop- und Jazzgenres und prägt sie durch seinen unwiderstehlichen Groove. Er verdiente seine Sporen bei Miles Davis, und hat den Meister nicht vergessen. Folgerichtig eröffnet er den Abend mit "So what", und beendet ihn mit "Tutu" und markiert damit Meilensteine seines Mentors. Dank Bruce Flowers ist auf der Bühne auch endlich wieder mal ein satter Synthesizer mit raffinierter Akkordik zu hören. Der ideenreiche Gitarrist Dean Brown, die sowohl im Satz als auch in der Improvisation brillierenden Michael Stewart (tp) und Roger Byam (sax) und der Schlagzeuger Poogie Bell als pulsierender Hintergrund spielen dem Frontmann kongenial zu. Mit polyrhythmischen Strukturen ("Ethopia"), Jazzrock-Klassikern wie David Sanborns "Maputo" oder funkigen Standardbearbeitungen ("A Night in Tunesia") begeistert Miller mit seinen Mitstreitern nachhaltig auch im Zugabenteil, in dem er mit "Elegant people" der legendären Band "Weather report" huldigt und sich mit seiner Version von "Amazing grace" auch als gefühlvoller Mulitinstrumentalist beweist. Insgesamt ein gewichtiger Arenahöhepunkt: Fusionjazz der Weltklasse.


16. Juli 2004

Sparvariante

Sicher: sie hat eine tolle Altstimme und versteht sie einzusetzen. Manchmal, wenn man die Augen schließt, meint man Rickie Lee Jones zu hören, täuschend ähnlich sind Duktus und Stimmlage. Doch Holly Cole konnte bei ihrem Kurzauftritt im Kulturarenarund nicht vollends überzeugen. Denn zusätzlich zum vokalen Können und exzellenten Begleitmusikern erwartet man in dieser Preisklasse auch ein Konzept abseits des Konventionellen, eine zündende Idee. Der psychedelische Blues-Kontrabass zur Einleitung, solide gespielt von George Koller, gibt die Hauptrichtung vor, später wird es mal swingend oder verläuft in Countrygefilden. Doch insgesamt ist das Konzert des Trios eher ein gehobener Clubabend denn ein Arenareißer. Manches geht unter die Haut, wie die eindringliche Ballade "Still in love", und das stimmige "Smile" wird durch den virtuosen Pianisten Aaron Davis ebenso wie der "Tennessee waltz" zur hörenswerten Adaption. Doch originell ist das alles nicht, das nicht übermäßig gefüllte Areal tut vielleicht ein Übriges. Trotzdem gibt es schon nach 90 Minuten die erste von drei Zugaben, das ersehnte "Calling you" aus dem Film "Out of Rosenheim". Insgesamt ein handwerklich perfektes Konzert mit einer energiegeladenen Sängerin. Mehr aber auch nicht.


14. Juli 2004

Melancholische Höchstleistung

Sie werden auf Jazzfestivals ebenso gefeiert wie am Mittwochabend im ausverkauften Weimarer Spiegelzelt: das Lisa-Bassenge-Trio. Das liegt zunächst an der ebenso schüchternen wie charismatischen Ausstrahlung der Berliner Sängerin sowie ihrer präzise wandelbaren und sanften Stimme. Ihr stehen mit den Pianisten und Arrangeur Andreas Schmidt und Paul Kleber am Kontrabass exzellente und kreative Musiker zur Seite, die der melancholischen Frontfrau so einfallsreich zuarbeiten, das vokale und instrumentale Leistung eine perfekte Symbiose ergeben.
Was dieses Trio so herausragend und erfolgreich macht, ist die konsequente Neudefinition der Originale aus der Pop- und Jazzwelt. Die Melodie wird quasi eigenständig erhalten, harmonisch wie rhythmisch neu unterlegt und interpretatorisch hinterfragt. So wird James Browns "I feel good" zu gefühlvollen Ballade, Madonnas "Like a virgin" geriert zum angedeuteten Reggae und Elvis- und Beatles-Klasiker jazzig-verklärt ergründet. Diese anspruchsvolle Melange fokussiert bekannte Standards in ungewohntem Licht und macht die Neuentdeckung so reizvoll. Andreas Schmidt nutzt die Klangmöglichkeiten des Flügels durch Saitenabdeckung im Korpus intensiv aus, zudem ist er ein brillanter Akkordarbeiter. Paul Kleber spielt kontrapunktisch und sorgt mit punktuell rasanten Läufen für ein sanftes rhythmisches Gerüst. Lisa Bassenge moduliert mit warmer Altstimme, improvisiert kurz und effektiv im Scat und strahlt mit sparsamen Bewegungen und Gesten eine unaufdringliche Erotik aus. Ein Höhepunkt des Programms "A Sigh a Song" war die klug hinterfragte Adaption von Rio Reisers "Junimond": eine verlangsamte, melancholische Erzählung des vollzogenen Abschieds. Drei Zugaben mit Bearbeitungen aus Robert Schumanns "Dichterliebe" zeigten noch einmal eindrücklich das kreative Potenzial der Band, welches sich gegen internationale Spitzen-Konkurrenz lässig behaupten kann.


11. Juli 2004

Erweiterte Horizonte

Er ist einfach ein Star. Ohne Einleitung kommt er auf die Bühne und singt. Dabei wird es, außer ein paar Dankesworten und einer geschickt überspielten technischen Panne bleiben. Denn seine Kreisler-Interpretationen benötigen keine Conference.
Alles was er singt, ist atemberaubend intensiv. Tim Fischers Chanson-Adaptionen geraten so authentisch, so durchdacht, dass die Originale des bösartigen Kabarettchansonniers Georg Kreislers sogar noch veredelt werden. Und der immerjunge Interpret ruht sich nicht auf den "Everblacks" des Meisters aus, sondern entdeckt neue Seiten.
Fischer, Star der Chansonszene, sorgte am Wochenende für drei ausverkaufte Spiegelzelthöhepunkte. Ist es seine virtuos modulationsfähige Stimme, sein androgynes, sanft geschminktes und so verletzliches Gesicht oder sein sicheres und punktgenaues Auftreten? Die Gesamtheit dieser Attribute zieht das Publikum vom ersten Takt an in den Bann. Dramaturgisch geschickt verknüpft Fischer die direkten Satiren ("Staatsbeamter", "Als der Zirkus in Flammen stand") mit den hintersinnigen Balladen ("Zu leise für mich","Ich kann tanzen") und zelebriert jedes Chanson. Er bedient sein Publikum nicht unterwürfig, er konfrontiert mit bedachtem Anspruch. Und diese Unbedingtheit, seinen feinnervigen Sinn für Zwischentöne quittiert das Publikum mit begeistertem Applaus. Ob das marode "Alpenglühn", das dämonische "Geben sie acht" oder die Rolle als böse Nazi-Heroine: Fischer wandelt sich perfekt im Rollenspiel, ohne sich zu verlieren. Und das melancholische "Das Wort Verlassen" gerät zu einem der magischen Momente, welche der Brettlbühne die Horizonte öffnet. Sein pianistischer Begleiter Rüdiger Mühleisen und der Geiger Hans Jehle arbeiten dem Frontmann unaufdringlich professionell zu. "Tim Fischer singt Kreisler": einer der zur Zeit besten Chansonabende, verdient und virtuos mit drei Zugaben beendet


7. Juli 2004

Erzählerbann

Er bekennt sich als Rampensau und ist ein charismatischer Vorleser. Feridun Zaimoglu stellte am Dienstagabend im gut besuchten Nationaltheater Erzählungen aus seinem aktuellen Buch "Zwölf Gramm Glück" vor. Seine Geschichten sind präzise pointierte Alltagsbeobachtungen. Linear und spannend reflektieren sie Geschlechterbeziehungen ohne vordergründig zu psychologisieren. Eine Liebesgeschichte aus dem Schanzenviertel vereint einen selbstmordgefährdeten Schriftsteller mit einer Kellnerin. Mit Leichtigkeit und satirischem Biss skizziert Zaimoglu dabei als Nebenschauplatz kenntnisreich Befindlichkeiten der Anarchoszene.
Die zweite, Bachmann-preisgekrönte Erzählung "Häute" entführt in ein orientalisches Antiquariat, wo Geldgier, Überlebenswille und archaische Kulturen gewitzt aufeinandertreffen. Zaimoglu wandelt sich mit diesem Buch vom engagierten Sprachrohr der jungen Einwanderergeneration zum sensiblen Fokussierer und vermittelt durch die Zusammenstellung der insgesamt zwölf Geschichten auch außereuropäische Dimensionen. "Ich wollte starke Männer und Frauen auf Augenhöhe beschreiben", bekennt der Schriftsteller im anschließenden Gespräch, welches auch seine konsequente "Othello"-Bearbeitung thematisierte. Blieb am Schluss der Wunsch, diese ausgezeichnete Inszenierung der Münchner Kammerspiele auch einmal auf den DNT-Brettern zu erleben.

Feridun Zaimoglu "Zwölf Gramm Glück" Kiepenheuer & Witsch, 233 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 3-462-03362-X



4. Juni 2004

Russische Wassermusik

Ein wunderschöner Doppelregenbogen empfing das zahlreiche Publikum am Samstagabend zu einem "russischen Märchen" im Weimarhallenpark. Um der Staatskapelle auf dem Ponton möglichst nahe zu sein, lagerten viele Musikfreunde mit Klappstühlen auf den Wiesen um den Teich. Unter der schwungvollen Stabführung Jac van Steens eröffnete der Klangkörper den romantisch-regenfeuchten Abend mit Glinkas Ouvertüre von "Ruslan und Ludmilla", bevor die 16jährige Wundergeigerin Alexandra Korobkina virtuos mit dem ersten Satz aus Tschaikowskis D-Dur-Konzert zu begeistern wusste, wobei die Staatskapellenstreicher anfänglich etwas aus dem tonalen Gleichgewicht gerieten.
Mit viel Verve und passendem Schmelz meisterte Korobkina den anspruchsvollen Soloparcours. Die Orchesterstreicher- und bläser fanden bei den anschließenden Ausschnitten aus Prokofjews Ballettmusik "Romeo und Julia" nicht immer zum Unisono und wurden unfreiwillig komisch vom Einsatz eines Martinshorns begleitet. Bei Strawinskys "Feuervogel" fand das Orchester dann zu gewohnter Bestform zurück.
Die Pause stellte die Gastronomen nach den heftigen Regengüssen vor Herausforderungen und lange Schlangen, zudem die Bratwurst wohl sicher lokales Zugeständnis als russische Spezialität darstellte.
Im zweiten Konzertteil lieferten die Vokalisten Catherine Foster (Sopran) und Jon Pescevich (Bass) mit Arien aus Glinkas "Iwan Sussanin" solides Handwerk. Nach feurigen "Polowetzer Tänzen" mit exakten Pizzicati brachte die Fusion mit den lokalen Vokalmatadoren "Rest of Best" ein durch Clemens Rynkowsky intelligent arrangiertes Crossover. Das Quartett adaptierte Mussorgskis "Promenade" aus "Bilder einer Ausstellung", Tschaikowskis "Schwanentanz" sowie das konzeptionell fragliche "Killing me softly", blieb aber trotz sauberen Satzgesangs interpretatorisch nur im genremäßigen Mittelfeld. Dafür gab es abschließend mit Tschaikowskis "Ouverture solenelle" ein akustisch und optisch faszinierendes Feuerwerk. Das begeisterte Publikum erklatschte zwei Zugaben, ehe es zum mitternächtlichen Heimweg aufbrach. Insgesamt ein kurzweiliger und gelungener Konzertabend zwischen Volksfest und Anspruch, der sich und die Spielstätte unbedingt zu Fortsetzungen empfiehlt.


31. Mai 2004

Tiefenbohrung

Gründliche Recherche über deutsche Mythen fördert manchmal auch dunkle Vergangenheiten zutage. Der Lübecker Kunsthistoriker Kai Artinger näherte sich der Maleridylle Worpswede mit einer wissenschaftlichen Publikation und einem gehaltvollen Krimi, den er in der Weimarer Thalia-Buchhandlung am Freitagabend vorstellte. "Tod in Worpswede" thematisiert spannend und feinsinnig in fiktiver Form, aber mit realen Bezügen die nationalsozialistischen Verstrickungen eines Fritz Mackensen ebenso wie die damalig angeordneten Zwangssterilisierungen in Bremen. Artinger verbindet sein Expertenwissen geschickt mit einer kriminalistischen Handlung und vermeidet es durch kluge Konstruktion und lebendige Dialoge die historisch fundierten Fakten akademisch zu illustrieren. "Tod in Worpswede" ist für Autor und den Weimarer "Verlag der Geisteswissenschaften" gleichsam ein Debüt und ein Wagnis. Das Buch eröffnet die kleine Reihe "Krimikunst-Kunstkrimi" und enttabuisiert gleichzeitig eine deutsche Kunst-Legende. Das "Stück Bremer Polizeigeschichte", so Artinger in der anschließenden Fragerunde, sei besonders in Worpswede aufgrund der Brisanz umstritten. Wahrheiten sind eben nicht immer bequem, das engagierte Krimidebüt auch deshalb besonders empfehlenswert.

"Tod in Worpswede", VDG - Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2003, ISBN 3-89739-358-1


19. Mai 2004

Agile Schlossgeister

Das historisch und landschaftlich reizvolle Areal des Schlosses Ettersburg wieder mit Leben zu erfüllen, hat sich das gleichnamige Kuratorium nebst Kulturbüro "LaRete" auf die Fahnen geschrieben. Mit dauerhafter Präsenz des gestrig neueröffneten Büros, ganzjährig angebotenen Veranstaltungen wie Klanginstallationen, Konzerten und Ausstellungen sowie thematischen Führungen will man Touristen und Einheimische erreichen. Das Erbe begreift man hier nicht als geschichtliche Dokumentationspflicht sondern als lustvolles Laboratorium europäischer Kultur. Herzstück dieser anspruchsvoll populären Konzeption sind in diesem Jahr die seit 2001 erfolgreich und nachhaltig etablierten Klezmerwochen (3. Juli bis 3. August). Neben den alten Bekannten von "Brave old world" wird bei den fast ausgebuchten und mittlerweile auch international begehrten Workshops mit Bela Gottesmann eine Sangeslegende des jiddischen Lieds ihr Wissen vermitteln. Über zwanzig Abendveranstaltungen werden unter Schirmherrschaft von Paul Spiegel in Ettersburg und Weimar die Sommernächte prägen. Am 17. Juli ist auf Weimars Marktplatz ein Konzert- und Tanzevent im Klezmerstil geplant. Auf dem Ettersburger Schloss werden begleitend Freilichtkino und thematisch verbundene Ausstellungen geboten "Die spontanen Jamsessions sind die heimliche Essenz dieses Festivals", sagt Organisatorin Stephanie Erben. Ein Erfahrungswert, der das knappe Budget von 125000 Euro, welches sich zu 40 Prozent aus Eigenerwirtschaftung trägt, mehr als rechtfertigt.


16. Mai 2004

Das Wochenende meiner Herausforderungen:
Zunächst eine Duo-Premiere zur halleschen Museumsnacht am Samstag im halleschen Salinemuseum: "LUNAMARE" vereint mich musikalisch erneut und locker mit Gitarrist Frank Venske. Wir spielen Pop-und Jazzstandards sowie Eigenkompositionen und haben dabei viel Spaß. Das Publikum übrigens auch, manche fühlten sich spontan zum Tanzen animiert. Ab jetzt wird "LUNAMARE" fester Bestandteil meines künstlerischen Angebotes werden, mal sehen welchen Platz ich auf meiner Web-Projektseite finde...
Der Sonntagabend dann noch etwas exklusiver: Zu Bildern der Grafiksammlung Franke gestalte ich 24 Miniaturen auf dem Klavier. Vor übervollem Raum im Erfurter Haus Dacheröden interpretiere ich musikalisch Arbeiten von Braque, Picasso, Chagall und vielen weiteren namhaften Künstlern. Es ist zugleich das letzte "Fest der Augen" im Gedenken an das pädagogische und sammlerische Wirken Rudolf Frankes. Jetzt gehen die wertvollen Bilder und Grafiken geschlossen in das Erfurter Angermuseum, und ich hoffe, dass sie nicht in den Archiven verschwinden...
Übrigens: Das "Fest der Augen" kann man als CD bei mir bestellen.



13. Mai 2004

Lachmuskeltraining

"Mehrlicht" heißt eine Veranstaltungsreihe, die von Alexander Branczyk und Daniel Schmidt betreut, der Gastprofessur für Typografie an der Bauhaus-Uni in Weimar weitere öffentliche Wirkungsräume beschert.
Als erste Ausstellungsaktion hat man in das am Frauenplan beheimatete künstlerische Universalgeschäft "Glücklich eins" einen der renommiertesten Karikaturisten Deutschlands einladen können. Beck, der vornamenlose Zeichner, der überregionale Publikationen wie "Zeit" und "Stern" mit seinen Arbeiten humorvoll bereichert, präsentiert für sieben Tage rund 300 seiner Cartoons. Mit Weimar verbinden ihn ein Architekturstudium und persönliche Wurzeln, mittlerweile ist er in Leipzig beheimatet.
Sein markanter Strich mit leicht verschobenen Perspektiven erfasst präzise und skurril Alltagssituationen, die er ironisch und witzig spiegelt.
Wenn in einer Buchhandlung eine verschleierte Frau zwei Büchertürme zum Einstürzen bringt, oder ein Toaster bekannte Werbebotschaften verspricht, dann kommt Becks Botschaft still und hintersinnig, aber nie zynisch daher. Obwohl er sich selbst nicht als politischer Karikaturist sieht, sind seine Arbeiten durchaus von diesbezüglich aktuellen Entwicklungen geprägt. Aber Beck verweigert sich intelligent dem Klischee und geißelt, Rassismus, Managerdenken und Dummheit mit entwaffnender Leichtigkeit. Ein würdiges und anspruchsvolles Aushängeschild deutschen Humors, deswegen sei diese Kurzausstellung zum Trainieren des Zwerchfells wärmstens empfohlen.

Beck "Der Cartoonist im Sexshop" im "Glücklich eins", Frauentorstraße 17, bis 20. Mai


11. Mai 2004

Zeitlos unbeugsam

Auch die Abschlussveranstaltung der Weimarer Lesarten konnte das mon ami am Montagabend fast bis auf den letzten Platz füllen. Und während Stadtkulturdirektor Felix Leibrock schon im Vorfeld eine Fortführung der erfolgreichen Reihe im nächsten Jahr versprach, sorgte Jewgeni Jewtuschenko für einen finalen Höhepunkt. Gerade von seinem Lehrstuhl aus Boston angereist, wegen "handgeschriebener" Tickets erst in letzter Minute am Veranstaltungsort, sorgte er mit seinen Gedichtvorträgen und Statements für einen fast immer kurzweiligen Abend und offenbarte sich wieder als einer der Spitzenvertreter russischer Literatur. "Ich bin ein Kind von zwei Kriegen", konstatierte er, bevor er mit hinreißendem Charme einige seiner Gedichte ("Schillerfalter", "Zwergbirken") auswendig vortrug. Sie thematisierten die Last des Eisernen Vorhangs und sind Zeitzeugen einer ungestillten politischen und moralischen Sehnsucht. Seine Lyrik, eine Art poetische Prosa ist durchdrungen von einem heiteren Grundton in dem viel Lebensweisheit schwingt.
Jewtuschenko ist ein Entertainer, der es versteht, seine Texte auf der Bühne auszuleben. Godehard Schramm stand ihm als kongenialer Übersetzer und Rezitator zur Seite, während die spontan ernannte Dolmetscherin aus dem Publikum trotz Engagement doch einige Mühe hatte, die Gedankengänge des Dichters zu transformieren.
Jewtuschenko ist Idealist geblieben und sieht die gesellschaftliche Zukunft in einer Mischform von Sozialismus und Kapitalismus im Sacharowschen Sinn. Und er wehrt sich gegen doktrinäre Zwänge: "Puschkin und Hemingway brauchten keine Partei". Er analysiert in seiner Autobiographie "Wolfspass" aus der er ein Kapitel vorstellt, mit Sachkenntnis den aktuellen Zustand seines Landes. In der abschließenden Fragestunde reflektiert er mit eindrucksvollen, selbst erfahrenen Geschichten über den Mut in der Diktatur und verurteilt den Tschetschenienkrieg. Und das begeisterte Publikum nimmt trotz einiger Längen die Erkenntnis mit, dass Jewtuschenkos Lyrik etwas Zeitloses hat, weshalb der Neuveröffentlichung seiner momentan vergriffenen Gedichte dringend zuzuraten sei.


7. Mai 2004

Stillstand

Seine Reputation füllt die Sitzreihen und Treppenplätze des kleinen Saales der Weimarhalle. Tschingis Aitmatow ist mittlerweile Botschafter in Brüssel für Kirgisien und außerdem Stargast
des örtlichen Bücherfestes, welches diesjährig die Literaturen Russlands thematisiert. "Die Mentalität des deutschen Lesers ist mein heimisches Element", sagt er dem von vornherein eingeschworenen Publikum. Seine poetische Erzählkraft hat hier viele Leser geprägt, seine Bücher wie "Die Richtstatt" oder "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" der Perestroika den Weg geebnet. Das ist sein bleibender Verdienst. Er preist die
märchenerzählende Großmutter als seine schriftstellerische Erweckerin und rät dem Publikum, mehr auf die Zeichen der Natur und die Weisheit der alten Mythen und Sänger zu achten. Er empfiehlt seine Erfolgsbücher, reflektiert im jasperschen Sinne über Technokraten und Traditionalisten und gefällt sich als ökologischer Mahner. Sein Übersetzer liest mit ihm aus autobiografischen Erzählungen und der "Richtstatt". Das alles ist lehrsam, keineswegs neu und ab und zu mit selbstbeweihräucherndem Sendungsbewusstsein gespickt. Und bildet das Manko des allzu langen zweistündigen Freitagabends - man ehrt den Meister, aber man nützt sich nicht.


27. April 2004

Kombipackung

Der Jazz hat endlich eine neue und hoffentlich dauerhafte Plattform in Weimar gefunden, welche zahlendes und zahlreiches Publikum anzieht. Unmittelbar neben dem Bahnhof, ermöglichen die Räume des örtlichen Jugendtheaters dem "Jazzwerk" ein Podium, welches interessiertem Publikum eine angemessen konzentrierte Atmosphäre bietet. Konzeptionell wollen Manfred Bründl von der HfM und Moderator Stefan Hasselmann stilistisch unterschiedliche Bands und Solisten kombinieren. Nach der Eröffnung Anfang April blieb man an diesem Montagabend diesem Vorsatz treu.
Den ersten Konzertteil bestritten die "Daerr Brothers". Der Berliner Pianist Carsten Daerr stellte gleich mit seinem Introsolo "Dümpeln" Virtuosität und harmonischen Einfallsreichtum unter Beweis, bis er mit seinem Bruder Johannes Daerr an Saxophon und Klarinette mit dicht gestalteten Eigenkompositionen und intuitiver Präzision zu Höchstform auflief. Ob der intelligent ausgedeutete Blues "Griechisch essen" oder der verfremdete "Tango" mit dem Klavier als gleichzeitiges Schlagwerk - die Beiden setzten mit kammermusikalischem Charakter hohe Maßstäbe. Als Matthias Eichhorn (kb) und Wolfgang Höhn (dr) das Duo verstärkten, wurde es lebhafter und beliebiger. Viele Skalenspielereien und Routiniertes ("Bananen und Tabasco") wurden erst durch den Überraschungsgast Bernhard Mergner an der Trompete konterkariert. Trotz stellenweise konzentrierter Harmonik bekam das Quintett zum Ausklang mehr Lockerheit, und ließ sich Zeit, dynamische Raffinessen auszukosten.
Das Elektrokartell groovte danach mit gängiger Improvisation. Das Fender-Piano des fingerfertigen und einfallsreichen Philipp Cieslewicz gab den Retro-Kick. Verpflichtet dem funkigen Jazzrock und Psychedelic der Siebziger spielte das Quartett sich unterhaltsam die solistischen Bälle zu. Gitarrist Christoph Bernewitz wusste wieder mit gut strukturiertem Chorusspiel zu überzeugen, Wolfgang Höhn (dr) und Andreas Wiesbauer (b) emanzipierten die Rhythmusgruppe durch abwechslungsreiche Breaks und rasante Läufe.
Klar erkennbare Melodiebögen wechselten mit expressiven und schnellen Choruspassagen. Popjazz im besten Sinn - Coverversionen modern und mit lockeren Händen inszeniert.
Am 10. Mai geht es im "Jazzwerk" mit "Hyperactive kid" aus Dresden mit impulsivem und schlagzeugorientierten Jazz an gleichem Ort weiter. Obwohl dieser von den Veranstaltern momentan als Zwischenstation gesehen wird, kann die Interimslösung durchaus von Dauer sein.


23. April 2004

Kein Salve für Salve?


Kommentar für Radio Lotte

"Pardon" gibt es in Weimar kaum, und wenn dann nur in ausgesuchten Läden. "Salve" kann man kostenlos auf Kanal 4 seit dem 15. April empfangen.
"Pardon" ist die Wiederauferstehung eines Satiremagazins und wird vom ehemaligen Harald-Schmidt-Gagschreiber Bernd Zeller aus Jena der bundesdeutschen Öffentlichkeit übergeben. Und es ist, nach Aussagen des mutigen Jungverlegers, ein Experiment, in das er viel investiert hat. Weil das ein sympathischer Ansatz ist, gibt es gedruckte Vorschusslorbeeren und Glückwünsche. Das kann man unter anderem auch in den beiden lokalen Abonnements-Tageszeitungen Weimars nachlesen.
"Salve" ist ein lokaler Fernsehsender, der auf der Frequenz des beerdigten "K4" mit einer neuen Mannschaft mutigen Anfang sucht. Und wer sich die täglich erneuerte Stundenschleife ansieht, wird nicht nur vom Optischen den positiven Qualitätssprung gegenüber dem Vorgänger registrieren: wer 18.15 Uhr einschaltet bekommt einen ganz guten Überblick über das Weimarer und Apoldaer Tagesgeschehen, und kann sich danach bei "Salvetournee" die aktuellen Tipps zum abendlichen Ausgehprogramm servieren lassen und mit dem "Auge" etwas Stadtflair erahnen. Sicher, das ist alles noch nicht so ausgereift, und es gibt immer Möglichkeiten zur Verbesserung. Aber: "Salve-TV" ist ein hoffnungsvoller, den finanziellen Mitteln angemessen sehr gut produzierter und engagierter Fernsehneuling, der diese Region medial würdig vertritt.
Nur kann man in den beiden lokalen Tageszeitungen kein Wort darüber lesen. Sicher, Feuerwehrtreffen, Karnickelzüchterschauen und politische Hakeleien sind auch irgendwie wichtig, aber dass der "Salve"-TV-Start in den Weimarer Printmedien so konsequent geschnitten wird, lässt entweder Ignoranz oder böse Absicht vermuten.
Unbestritten, dass der ohnehin schmale Werbekuchen jetzt auf einem Teller mehr verteilt werden muss. Unbestritten aber auch, dass es einen Informationsauftrag des Lesers gibt. Deswegen bezahlt er die Zeitung. Und sowohl Leser als auch Informationsauftrag ist hier schmählich missachtet worden.
Angemerkt sei auch, dass bei erfolgreicher Etablierung von "Salve" mindestens zehn Arbeitsplätze entstehen, und das ist in dieser wirtschaftsschwachen Region eigentlich ein unterstützenswertes Ziel. Davon abgesehen, dass unsere laufenden Thüringer Lokalkanäle sich von "Salves" Anfangs-Niveau ruhig etwas abgucken könnten.
Ich wünsche der neuen Plattform "Salve" jedenfalls alles Gute, vorzeigbare Einschaltquoten und erfolgreiche Ausmerzungen der Geburtsfehler. Denn wenn sich eine Region professionell bewerben will, braucht es weniger Strahlkraftpersonen, Sockelheilige und Parteiabspaltungen, sondern einen starken Lokalsender. Um im Bilde zu bleiben. Denn Sendestörungen gibt es hier auch ohne Fernsehen ausreichend...


Frische Lovestory

Die Shakespeare-Tage in Weimar begleitet der Ruf, nicht nur eine nennenswerte Anzahl oberlehrerhafter Akademiker zu sammeln, sondern oftmals auch erfrischenden Bühnenwind in das Klassikerstädtchen zu bringen. Eingelöst wurde Letzteres mit dem Gastspiel der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, die unter der Regie von Jutta Hoffmann mit "Was ihr wollt" eine der beliebtesten Komödien des englischen Dramatikers vorstellten.
Die neun Schauspielstudenten agierten ebenso sicher wie unbekümmert in den sparsamen, aber effektvollen Requisiten. Das Bühnenbild, dominiert durch blumengeschmückte Raumteiler und ein paar Paletten gewährte dafür luftige Assoziationsräume. Hoffmanns feinsinnige Sicht konzentrierte das Ensemble auf die Textvorlage, vermied Verfremdungen und ließ dem Humor des Altmeisters viel Raum. Inspiriert von der Macht der Liebe geriet diese Interpretation damit zu einer unterhaltsamen Melange von beherztem Rollenspiel und clownesken Ausbrüchen. Besonders überzeugend dabei Michael Ransburg in der Doppelrolle Orsino / Clown. Mit viel weiblichem Charme und Wandlungslust begeisterten ebenso Viola (Julia Köhn) und Olivia (Juli Nachtmann). Die eigentliche Entdeckung des Abends war allerdings die Musik. Der Pianist Daniel Stickan hatte die Shakespearschen Liedtexte in der Art moderner skandinavischer Jazzentwicklungen komponiert, und schuf zusammen mit dem Bassisten Felix Behrendt unwiderstehliche melodisch anspruchsvolle Interpretationen, welche das Stück magisch bereicherten und den Gesangstalenten der Schauspieler trotzdem Chancen gaben. Insgesamt ein leichter und gut gespielter Donnerstagabend im ausverkauften E-Werk, welcher sogar von den Akademikern fast einhellig gefeiert wurde.


23. April 2004

Zugang mit Hintersinn

Wenn morgen um 11 Uhr die Landesgartenschau in Nordhausen beginnt, setzen nicht nur die pflanzlichen Arrangements Akzente. Denn das örtliche Kulturamt hat sich eines profilierten Musikers aus Thüringen versichert, der mit einer rocksinfonischen Fanfare und Kantate "Rosen, wild wie rote Flammen" den Auftakt der Festveranstaltung mit bestreitet: Frieder W. Bergner. Längst bei offiziellen Anlässen wie Bauhaus-Uni-Jubiläen kein Unbekannter und durch Bachmann-Vertonungen und intensive Jazzimprovisationen aus dem hiesigen Musikleben nicht wegzudenken, hat sich der verschmitzte Posaunist und bekennende "Bücherwurm" diesmal Teile von Heines "Harzreise" als Libretto erkoren. "Diese Verbindung lag auf der Hand, ist doch Nordhausen eines der Einfalltore dieses Mittelgebirges, und außerdem hat mich Heine mit seinem zeitlosem Spott und hintersinniger Gesellschaftsanalyse immer fasziniert", so Bergner. Wer den umtriebigen Komponisten kennt, weiß, dass von ihm keine platten Gefälligkeitsarbeiten zu erwarten sind. Für sein "Jazzfonie-Orchester", einem Konglomerat aus "Loh-Orchester" und "Contemporary Band", die aus Nordhausen stammenden Sängerin Silke Gonska sowie den Bariton Thomas Kohl und die lokale Rockband "Somnolenz" hat er ein dreisätziges Werk komponiert und arrangiert, welches romantische Volksliedmotive mit Jazz- und Popelementen verbindet. "Mein Ziel ist es, anspruchsvoll zu unterhalten und die typischen Festakt-Klischees zu konterkarieren", so Bergner. Nicht Modernistisches um jeden Preis, denn der Jazzer behält natürlich auch das Publikumsinteresse im Hinterkopf. Und da er sein schelmisches Wesen nicht verleugnet, lohnt es sich sicher, auch zwischen den Textzeilen zu hören. Eine Eröffnung mit Zwischentönen, die sicher viele Freunde und Zuhörer finden wird.


20. April 2004

Traditionsabend

The same procedure as every year - der Blödelbarde Olaf Schubert löst ein privates Versprechen ein und füttert die Weimarer Szene mit skurrilen Köstlichkeiten. Und die strömt wie jedes Jahr zahlreicher ins "mon ami". Auch diesmal fasste der Saal kaum das Publikum, und das inflationär etikettierte Wort Kult wäre hier durchaus angebracht. Schubert ist auch in seinem aktuellen Programm “Boykott” ein Wortspieler, angesiedelt zwischen Karl Valentin und Helge Schneider. Ein selbstironischer Weltverbesserer, der sich hinter scheinbar linkischen Auftreten verbirgt und es virtuos versteht, seinen wenigen Liedern abendfüllende Introduktionen mit skurrilen Denksprüngen zuzufügen. Er referiert in seiner originär absurden Art über die Bestechungsversuche der Plattenindustrie, sportliche und sexuelle Aktivitäten ("Ruhm bringt Stabilität in die sexuelle Grundversorgung"), Stromversorgung und Ernährung und nebenbei philosophiert er über Intoleranz ("Vorurteile muss man sich sehr zeitig überlegen") und die Beschaffenheit seines Weltgefüges ("ein Gegenstand aus Material"). Sein Wortwitz verknüpft das Zitat mit der Zitadelle und gebiert Konglomerate wie den Hochsprungspringerstiefel. Schuberts "Boykott" bleibt ein kurzweiliges, stellenweise stereotypes Arrangement, doch trotz der unvermeidlichen Wiederholungseffekte die seine konstant geführte Bühnenfigur begleiten, bleiben seine Sprach- und Liedtiraden immer unterhaltsam und spannend.
Er hat diesmal Verstärkung mitgebracht. Jochen Barkas an der Gitarre wird zwerchfellerschütternd geoutet und Bert Stefan fungiert sowohl als Bassist, Gitarrist als auch als zynischer Conferencier, der sich halbherzig bemüht, Schubert nicht die Show zu stehlen. Und so bleibt nach durchlachtem Abend die Schubertsche Erkenntnis: Nur gemeinsam sind wir viele.


19. April 2004

Vielschichtige Endlichkeit

Der gartenbestuhlte Kesselsaal war am Sonntagabend ganz gut gefüllt, denn schließlich hatte sich der DNT-Theaterjugendclub in seiner gleichnamigen aktuellen Inszenierung "totgespielt". Hinter dem provokanten Titel verbarg sich eine für den Amateurstatus äußerst vielschichtige und sensible Hinterfragung des Tabuthemas Tod. Mittels Punktstrahlern und Direktkontakten wird das Publikum von dem 17köpfigen Ensemble zunächst frontal konfrontiert, bis es in die Beobachterrolle der Schicksale und irdischen Probleme entlassen wird.
"Wer sind die Menschen?", fragt die jüngste der überwachenden Mächte, und leitet damit im Dialog mit den erfahreneren Kollegen konzeptionell zwischen der Nummernfolge. Man erörtert Liebe, Träume Karriere und manchmal sind es jugendgemäß unbedingte Botschaften, die gereicht werden.
Die Formen wechseln zwischen etwas linkischem Bewegungstheater, angedeutetem Puppenspiel und mit sparsamen Requisiten ausgestatteten Szenen. Stellenweise greift das Ensemble zu frischem Sarkasmus, wie in den wiederkehrenden Händlerszenen, ohne das Thema zu verletzen. Man hinterfragt Hamlet und Hänschenklein, ebenso wie Sterbehilfe, selbsternannte Märtyrer oder Trauerbegleitung. Musikalisch sehr passend untermalt wird das Panoptikum des Sterbens ehrlich und engagiert so nachdrücklich wie kurzweilig interpretiert. Das geschlossene Ensemble nutzt den maschinellen Charme des Kesselsaales auf verschiedenen Ebenen, agiert mit Witz und Vielfalt.
Herausragend dabei Sabine Thiel, die als Schicksalsschwester ihr komödiantisches Talent empfiehlt. Insgesamt eine sehenswerte und spannende Inszenierung der profilierten Theaterpädagogin Christine Schild, welche vom neuen Ensemble nach verdientem Schlussapplaus liebevoll prämiert wurde.


14. April 2004

Die Kraft der Frauen in der Musik

Die Konzertgitarristin Chris Bilobram holt eine Welturaufführung nach Weimar


"Ich möchte die Kraft der Frauen auch in mir selbst entdecken", sagt Konzertgitarristin Chris Bilobram über ihr neues Projekt. Denn sie errang aufgrund ihrer musikalischen Leistungen das Privileg, das Konzert für zwei Gitarren und Orchester von Germaine Tailleferre in Weimar zur Welturaufführung zu bringen.
Dem gingen intensive Internetrecherchen und eine einleuchtende Idee voraus. Chris Bilobram hat sich in ihrem neuem Konzertprogramm "Composition feminin" zum Ziel gesetzt, vorrangig unbekannte Komponistinnen verschiedener Epochen durch deren Werke vorzustellen und dem Vergessen zu entreißen. "Diese Frauen waren für ihre Zeit außergewöhnlich und ihre Stücke stehen durch die Schönheit der Klänge, dem Witz und der Virtuosität dem Œvre ihrer männlichen Kollegen in Nichts nach. In den Archiven Deutschlands und Italiens habe ich unveröffentlichte Schätze heben können, die Musikfreunden sicher Genuss bereiten", konstatiert die Weimarer Gitarristin. Die Bandbreite des Konzertabends reicht vom 17. Jahrhundert mit Camilla de Rossi und Elisabeth de la Guerre bis zu zeitgenössischen Komponistinnen wie Carey Blyton und Annette Kruisbrink.
Höhepunkt der "Composition feminin" wird zweifelsohne das Tailleferre-Konzert sein. Die 1983 verstorbene französische Komponistin war Mitglied der "Groupe de Six". Die Premiere des Stückes aus den sechziger Jahren war durch den Tod der Gitarristin Ida Presti verhindert worden. Zusammen mit der Solistin Christine Altmann und einem Orchester der HfM unter Stabführung von Christian Schumann wird die Welturaufführung am 30. Juni im Fürstensaal stattfinden. "Tailleferre ist für mich eine Herausforderung", bekennt Chris Bilobram. "Man muss konzentriert im Klang denken, dann eröffnen sich wunderschöne akkordische Landschaften."
Die Gitarristin hat sich zielgerichtet profiliert. Das Meisterstudium an der örtlichen Musikhochschule und instrumentale Quellen in Südamerika gaben ihr das Rüstzeug, sich an die Einspielung von "Platero und ich" zu wagen. Der Zyklus von Tedesco gilt als Königsklasse des Instruments.
Selbstredend brauchen ambitionierte Projekte wie das "Komponistinnenprogramm", welches mit einer CD-Einspielung dokumentiert wird, auch engagierte Geldgeber. Dazu gehören die Frauenförderung der Musikhochschule ebenso wie Thüringens Kultusministerin Dagmar Schipanski, welche das Projekt mit einem stattlichen Scheck förderte und diesen am 23. April im Rektoramt der HfM übergeben wird. Damit sind noch nicht alle Kosten gedeckt, weitere Sponsoren werden gesucht, aber der Grundstein ist gelegt. Und das ist in Sparzwangzeiten ein ermutigendes Signal.


7. April 2004

Jahresbilanz

Es ist Konsequenz einer kreativen Partnerschaft auf hohem Niveau und ein Stück Thüringer Qualitätsware. Und fast auch ein Jahrestag für "Taxi". Denn Anfang Mai 2003 gab "Friend'n fellow" bei dem Heimspiel im Weimarer "mon ami" das umjubelte Konzert, welches als Mitschnitt mit soliden Verkaufszahlen als CD und DVD Livekultur in die Wohnzimmer bringt.
Das Duo hat sich schon seit Jahren einen exzellenten Ruf in der internationalen Jazz- und Popszene erarbeitet. Der ist nicht nur der Zusammenarbeit mit Größen wie Al Jarreau oder Luther Alli-son geschuldet, sondern der virtuosen Beherrschung von Stimme und Gitarre sowie durchdachter Aneignung bekannter Standards und gleichwertiger Eigenkompositionen.
"Es ist für uns normal, das die Titel nie fertig sind, wir haben uns auf unsere Spontaneität besser eingelassen", bekennt Gitarrist Thomas Fellow. Das macht das Konzert- und Konservenerlebnis zeitlos spannend, stellte aber Produktionsleiter und Regisseur Thomas Adapoe vor Probleme: "Eigentlich ging es darum, das Duo live zu dokumentieren. Doch es ist nicht einfach, Friend'n Fellow audiophil beizukommen, zusätzlich war die komplette DVD-Produktion eine Herausforderung. Man muss zwei Musiker über 90 Minuten spannend darstellen, da kann man nicht nur die Kamera draufhalten." Das Publikum erlebte diese Schwie-rigkeiten bei der Aufzeichnung partiell, so musste die Gitarre vor jedem Stück gestimmt werden und die Maskenbildnerin war ständig nachschminkend im Einsatz. Doch auch hinter den Kulissen war Einiges zu meistern. "Es gibt eine stärkere Präsenz des Optischen und das Timing muss noch punktgenauer bewältigt werden. Man geht über eine doppelte Aufregung hinweg", berichtet Sängerin Constanze Freund. Thomas Fellow ergänzt: "Kurz vorher hatte ich die Erfahrung, was an einer Konzertgitarre alles kaputtgehen kann. In solchen Momenten fragt man sich, ob der Musiker oder die Gitarre das Sensibelchen ist." Trotz dieser Hindernisse hat die viermonatige Produktionszeit ein international bestehendes sowie Ton- und Bildtechnisch hochwertiges Ergebnis gebracht, welches den "Bühnenschliff" nach ausgedehnten Konzerttouren ebenso einfließen lässt wie die Live-Qualitäten des Duos. Und wie geht es weiter? Constanze Freund freut sich auf Herausforderungen mit größeren Klangkörpern, würde das möglichst mit Thomas Fellow realisieren. Und Fellow hätte Lust auf Filmmusik und ein Gitarrenlehrbuch ist in Arbeit. Insofern ist "Taxi" eine gelungene Bilanz, aber kein Schlussstrich.


4. April 2004

Chefsache

Die Chefin selbst gibt sich die Bühne und bietet richtig gutes Kabarett. Denn sie hat kluge Texter, verleugnet ihre Herkunft nicht und bleibt trotz wandelbarer Rollen sympathisch authentisch.
Gisela Brand, leitende Institution der "Arche" hat sich mit ihrem Solo "Außer Rand und Brand" Paradestückchen auf den Leib schreiben lassen, die sie mit sanft zynischem Einschlag interpretiert. Mit bitterem Charme verschießt sie zielsicher die Pointen in Richtung Gesundheitsreform, Staats(un)wesen und Beraterwahn. Wenn sie als angesäuselter Maler das deutsche Volk als Auftragswerk zeichnen will, als "alte Wachtel" beim Vogelfüttern über Ernährungsfolgen sinniert oder den New-Age-hörigen Freundeskreis geißelt, gibt es viel Witziges und Geistreiches zu hören. Zudem ist Gisela Brand eine Vollblutschauspielerin, die es versteht, Gags zu verkaufen. Nur bei "Gefundenes Fressen" wird leider eine angedeutete Möglichkeit verschenkt, dem Thüringer Karnevalsfilz die Stirn zu bieten. Auch das Singen zählt nicht zu ihren Stärken, da kann sie sich kaum gegen das versierte musikalische Begleittrio behaupten. Doch ihr Couplet vom Vorderzahn ist derart klasse, dass man die vokalen Schwächen lachend verzeiht. Höhepunkt der von Harald Richter inszenierten Nummernfolge ist die "Puffbohne" als Erfurter Stadtführerin mit ätzender Kritik zu kleinen Brennpunkten. Das Fanpublikum bedankte sich bei der ausverkauften Premiere am Samstagabend mit kleinen Präsenten und tosendem Applaus. Fazit: endlich mal wieder eine Kabarettempfehlung in und aus Thüringen!


2. April 2004

Zwischen den Polen

Es ist etwas inflationär, wie deutsche Bühnen den Nibelungenstoff in letzter Zeit für sich entdecken. Zumindest wird aber mit "Kriemhild" in der Erfurter "Schotte" dem Inszenierungsreigen eine sehenswerte und spritzige Variation hinzugefügt.
Die Doppelregie von Matthias Thieme und Uta Wanitschke führt das jugendliche Ensemble für ebensolches Zielpublikum unkompliziert in die blutrünstige Welt der Burgunder. Lebemann Gunther (Paul Jokisch) befehligt eine kriegserprobte Partygesellschaft, deren zickige Tochter Kriemhild (Clara Minckwitz) für den strahlenden Schlächter Siegfried entbrennt. Martin Schink gibt den Helden zwischen tumben Toren und poetisch gehemmten Liebhaber überzeugend, zumal er mit Paul Schröder als Hagen dem schauspielerisch beeindruckendsten Gegenpart gegenübersteht. Schröders diffizile Rolle als besonnener Mahner und dienender Mörder setzt den eigentlichen Schwerpunkt des Stücks und verweist die Titelheldin eher in die Nebenrolle. Der Kampf der Frauen Kriemhild und Brünhild (Hanin Fischer) bleibt eh etwas blass und gestellt, den Racheengel nimmt man Clara Minckwitz ebenso wenig ab, wie den gesellschaftskritischen Ansatz, dazu ist sie als tragende Figur einfach zu eindimensional eingeführt. Die Nebenrollen werden dagegen witzig hinterfragt. Sehr amüsant Sandy Hänsel als orientierungslose Mutter Ute, und die Rededuelle zwischen dem Boten (Steffen Wilhelm) und dem Burgwächter (Steffi Opetz).
Nach einem eher unterhaltsamen ersten Teil kommt es dann nach der Pause zu ernsteren Tönen bis zum finalen Gemetzel. Und hier offenbart sich auch die kleine Schwäche der Inszenierung: da man sich zunächst eher für die Komödie entschieden hat, wirkt das Tragische der Erzählung eher als Fremdkörper. Insgesamt ist "Kriemhild" aber ein fesselnder Theaterabend mit logischem Bühnenbild, einfallsreicher Musik und einem spielfreudigen und durch Intensität überzeugenden Ensemble, welches bei der Premiere am Donnerstagabend verdienten und stürmischen Applaus einheimste.


22. März 2004

Seziertische

Es war sicherlich der zeitlich ungeschickten Platzierung geschuldet, dass der szenische Lesemarathon !Familienbande" im Weimarer Kesselsaal zur DNT-Insiderveranstaltung geriet. Nur wenige Interessierte ließen sich vom Frühlingswetter unbeirrt am Sonntagnachmittag auf die konzentrierte Präsentation neuer Stücke ein, obwohl sich das gerade für jüngere Theaterinteressenten gelohnt hätte. Fausto Paravidinos "Zwei Brüder" in der Regie von Enrico Stolzenburg dokumentiert die Eskalation eines täglich dialogisierenden Kleinkriegs in einer Studenten-WG. Gina Henke (Erika), Martin Klemm (Lew) und David Kramer (Boris) vom Schauspielstudio Leipzig spielen sich intensiv aus dem starren Rahmen der szenischen Lesung heraus und machen den mit banaler Alltagssprache erzählenden Text sinnlich nachvollziehbar.
Helmut Kraussers "Diptychon" behandelt mit makaberen Mitteln die Rivalitäten zwischen Mutter und Sohn. Die schwarzhumorige Farce erinnert ein wenig an Werner Schwabs Diktion. Anna Bergmanns Regiearbeit ließe sich als Kammerspiel-Bereicherung des DNT-Spielplans durchaus vorstellen, zumal Barbara Wurster als dominante Mutter und Mark Benjamin Puch als verklemmter Sohn in den Hauptrollen ebenso überzeugend agieren wie Claudia Meyer (Elke) und Jaron Löwenberg (Mann).
Die abschließende Psychostudie "Kränk", inszeniert von Jasper Brandis, seziert mit präzise überhöhter Sprache einen düsteren Familienkonflikt und fordert Schauspielern und Zuhörern viel Konzentration ab. Das Machtspiel zwischen Vater (überzeugend: Christoph Heckel) und Sohn (intensiv: Aleksandar Tesla) wird durch eine Liebschaft nachhaltig aufgebrochen. Ohne eine wirkliche Lösung zu skizzieren bleibt Martin Heckmanns Text in der Anklage verharrend, bietet aber Elke Wieditz als verstoßene Mutter eine Paraderolle. Insgesamt also drei sehenswerte Arbeiten, die durch ihre jetzige Einmaligkeit und Resonanz allerdings die Frage nach Aufwand und Nutzen stellen.



16. März 2004

Seit heute gibt es eine neue Webadresse bei mir, da ich keine Lust mehr hatte, "webhuth" umständlich zu buchstabieren.
Die neue Adresse lautet:
www.sanftesklavier.de

und die Mailadresse dementsprechend:
info@sanftesklavier.de

Natürlich könnt Ihr mich auch noch unter den "webhuth"-Kontakten anmailen, die werden dann demnächst einfach umgeleitet...



29. Februar 2004

Unter dem Motto "Brennen" startete das Weimarer DNT einen dreitägigen Theatermarathon. Dem persönlichem Wunsch folgend, mir alles anzusehen, hier chronologisch gekehrt angeordnet ein paar Eindrücke...

Dritter Tag, 29. Februar 2004

Was für tolle Erlebnisse! Da kommt der Berliner Schauspieler Matthias Brenner auf die Bühne, setzt sich in einen Drehstuhl auf der Hinterbühne und beginnt Kafkas "Verwandlung" zu lesen. Nach wenigen Sätzen lässt er das Buch fallen und trägt auswendig (!) den gesamten Prosatext so intensiv, humorvoll und packend vor, dass jedes Requisit nur stören würde. Und wie er da mit seinem Körper, seinen Händen, seiner Sprache spielt und variiert, da wird dieses literarische Kleinod so gegenwärtig, so lebendig, dass man sich dem Reiz kaum entziehen kann und will. Das war Meisterklasse und zudem eine enorme Gedächtnisleistung, der man die kleinen Versprecher mühelos verzeiht. Bravo, und hoffentlich noch einmal.

Das e-werk, eine der wenigen bleibenden Errungenschaften des Kulturstadtjahres, war zwingende Bühne für Schwabs "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos". Der erbarmungslose Kleinkrieg einer bigotten Hausgemeinschaft ist von Julia von Sell adäquat der intelligenten und provokativen Vorlage in Szene gesetzt worden. Dazu ein hochmotiviertes Schauspielerensemble, das sich der satirisch überhöhten Sprache lustvoll hingibt, ein von Bärbl Hohmann einfallsreich verknapptes Bühnenbild und eine zeitlose Aussage. Hervorgehoben seien Josefin Platt als verknöcherte Frau Wurm und Christina Rubruck als Professorenwitwe Grollfeuer, wobei die anderen den Beiden kaum nachstehen. Eine gelungene Anti-Spießer-Satire mit Tiefgang, die berechtigt gefeiert wurde und sicherlich weiterhin viel Publikum finden wird.

Das Beste für mich am Schluss - "Phaidras Liebe" von Sarah Kane. In diesem schonungslosen, ergreifenden und tiefgründigen Stück sitzt jeder Satz, jede Bewegung. Therese Hämer spielt die Titelrolle so glaubwürdig und exakt, dass man ihren Schmerz und ihre Leidenschaft physisch zu spüren meint, ebendies gilt auch für Nicole Ernst als ihre Tochter Strophe. Und dann Alexandar Tesla als gelangweilter Beau Hippolytos, der brutal jedes Gefühl von sich abwendet und überdrüssig zerstört, um einen Sinn in seinem privilegierten Leben zu finden. Eine verschwendete, sinnentleerte Jugend wird entworfen, Spiegel eines Zeitgeistes, den Tesla nicht nur spielt, sondern erfühlt, viel von sich preisgibt und sich zur schauspielerischen Entdeckung des Theatermarathons hinaufspielt. Eine kraftvolle Ensembleleistung, von Martin Schulze stringent und punktgenau inszeniert. Ein Theatererlebnis, welches nur die hinter mir sitzende Gruppe kalt ließ, da sie anscheinend Volkstheater erwartet hatten, und ständig mit herzlos dummen Kommentaren störten. Manchen Leuten sollte man eben solche Herzblut-Offerten verbieten...
Insgesamt hat sich das DNT mit "Brennen" einen bundesdeutschen Standard erspielt, der das Haus hoffentlich dauerhaft absichert. Jedenfalls kann ich nach diesen drei Abenden wieder für das Haus brennen...

Zweiter Tag, 28. Februar 2004

Eine große, sichtbar gestellte Tafel mit täglichen Aufführungsterminen und zugehörigen Orten würden dem Personal sicher viel Fragen ersparen. Um mit dem Ende anzufangen: viele Zuschauer waren gegen 23 Uhr hilflos und empört, weil sie sich nicht rechtzeitig die Karten für das "Fire"-Konzert gesichert hatten, und somit den vorgezogenen Abend zu früh beschließen mussten, und sich demzufolge über die schlechte Informationspolitik des Hauses beschwerten. Schade, denn passen hinter den eisernen Vorhang wirklich nur 230 Personen?
Und da wir nun bei Zahlen sind: "Die Zahl der Liebe ist Drei" ist ein Rätselstückwerk. Was soll das sein, was wird erzählt?
Zunächst: es ist eine Theatergrenzform, da die Performance von tänzerischen Figuren dominiert wird, die Akteure Elemente dieses Figurentheaters sind, und der Text als Erklärung/ Ergänzung des Gesehenen fungiert. Das Sprechmaterial wird per Konserve in Deutsch und Französisch (für den schweizerischen Markt konzipiert?) in zu schneller, und damit kaum fasslicher Form konzentriert. Dazu gibt es eindrucksvolle Bilder, eine Art Schautheater eines Liebesprozesses, wobei ich nicht sicher bin, ob nun die Geschichte eines Paares oder verschiedener Partner erzählt wird. Einfallsreich wird im Spiegelsaal mit Tischen, Staubsaugern und Farbstaub operiert und durch imposante Lichtregie eine unwirkliche Welt vor dem Lastenaufzug entworfen. Im zweiten Teil trifft man sich im ernüchternden Foyer III, wo sich das Paar zunächst vergeblich nähert bis es sich aus vielen Seelenhüllen schält, um sich zu erkennen.
Die intendantisch protegierte Claudia Meyer hat sich mit ihren Wunschpartner Philippe Docou konzeptionell an "Niko and the Navigators" orientiert, obwohl das Ergebnis etwas melancholischer und wesentlich angestrengter ausfällt. Die Musikauswahl zwischen den DJ-Gurus Kruder & Dorfmeister und dem Cellovirtuosen David Darling ist spannend, und treibt das engagiert experimentierende Bühnenpaar dramaturgisch an. Insgesamt ein Fest für Deutungsfreunde aber kein durchwegs sinnlicher Genuss.

Wie inszeniert man destruktive Langeweile? Dieser Frage hätte sich Grazyna Kania wohl etwas intensiver stellen sollen, denn ihre Inszenierung von Lorcas "Bernarda Albas Haus" gerät dramaturgisch aus dem Ruder. Am Anfang schaut man noch gebannt und stellenweise amüsiert auf die perspektivlosen Ausbrüche der in der Tradition gefangenen und durch die Mutter diabolisch regierten Schwestern, wobei sich durchgehend beeindruckend die wunderbare Catherine Stoyan als Magd den darstellerischen Spitzenstatus erspielt. Die Machtspiele der erotisch und geistig unerfüllten Geschwister sind perfide, die diktatorische Mutter (Rosemarie Deibel in einer Paraderolle) regiert psychologisch unbarmherzig, und die irrsinnige Großmutter (intensiv und überzeugend Bernd Lange) gibt dem trostlosen Gefängnis den surrealen Schliff. Doch Langeweile erspielt man sich nicht durch Zeit, und so wird innerhalb der zwei pausenlosen Stunden das Ganze so unerträglich gedehnt und vorhersehbar, dass man sich eher Gedanken um den Spielanlass macht, als mit den Figuren zu fiebern. Die besten schauspielerischen Leistungen (und die sind vorhanden) nützen eben nichts, wenn die Regisseurin kein Gefühl für Timing hat. Und die Frage sei abschließend erlaubt: ist das Stück in solch sexuell überlasteten hiesigen Gegenwarten bei solch konventioneller Lesart überhaupt noch relevant? Oder soll es als historisches Lehrstück dienen? Die Jugendlichen in den vorderen Reihen fühlten sich jedenfalls nur bedingt angesprochen, und gerade für sie hätte der Lorca spannend sein können...

Erster Tag, 27. Februar 2004

Es erinnert ein wenig an die furiose Neueröffnung unter Märki. Zwar hat man diesmal als Außenspektakel ein interaktives Trommeln mit "Drum-Circle" gewählt, aber das Haus scheint auch wieder von innen zu vibrieren. Das Angebot mit neuen Stücken junger Autoren ist vielfältig und spannend, deshalb haben auch viele Interessierte den Weg gefunden.
Der Prolog "Erreger" von Albert Ostermeier beginnt aus unerfindlichen Gründen eine Viertelstunde später als geplant. Das Publikum spendet etwas verunsicherten Applaus, bis Thomas Thieme auf die Bühne kommt, sich massig hinter einem Tisch postiert und mit virtuoser und sensibler Spracharbeit das Psychogramm eines gefährlichen Börsianers zeichnet, welches durch Präzision und schauspielerische Dynamik besticht. Ein faszinierender Text, suggestiv und erschreckend zeitaktuell, und ich könnte Thieme vorbehaltlos loben, wenn er nicht durch seinen arroganten Abgang das wirklich aufmerksame Publikum zur lästigen Zuschauermasse degradiert hätte. Auch bei einer eventuell schlechten persönlichen Tagesverfassung: ein Verschwinden im Bühnenhintergrund ohne Verbeugung und ohne Wiederkehr erweckt den Eindruck einer routinierten Dienstleistung. Schade.

Die Koproduktion mit dem Erfurter Puppentheater "Kafka. Der zerrissene Fisch" unter Regie von Bernd Weißig versucht sich der Erzählung "Das Urteil" psychologisch vielschichtig zu nähern. Doch gerät der Trip derart verrätselt, dass man, wenn man wie ich die Erzählung nicht kennt, einfach nicht versteht, was da auf der Bühne verhandelt wird. Mag sein, dass Weißig einen erkennbaren Generationskonflikt in moralisch-bürokratischer Enge thematisiert und nebenbei die Krankheit des Dichters verhandelt, aber was bitteschön spiegeln die eindrucksvollen Puppen, die dem Animationsimperium George Lucas ("Legende") artverwandt sind, nun eigentlich? Den inneren Zustand des traurigen Heldensohnes?
Dafür spielt Stefan Wey so brillant und sinnfällig den übermächtigen Vater, dass man sich äußerlich völlig dem Bühnengeschehen ergibt. Wey ist ein wirklich herausragender Schau-und Puppenspieler, der Rest des vierköpfigen Ensembles agiert funktional und passend und erhält berechtigten Applaus. Fazit: für Kafka-Kenner vielleicht ein Schmeckerchen, aber Weißigs "Böhmische Schneider" im "Waidspeicher" harren immer noch kongenialer Nachfolge.

Selim Rauer hat bei seiner Inszenierung "Kampf des Negers und der Hunde" mit der Unterbühne und dem vorderen Malsaal bezwingende Räume gefunden, in denen er sein schauspielerisches Quartett agieren lässt. Das Stück spielt auf einer französischen Baustelle in Afrika und gibt schonungslose Einblicke in rassistisches Denken und menschliches Versagen. Mit unbedingter Intensität, karger Ausstattung, hypnotischer Begleitmusik und einem ausgezeichnetem Schauspielerensemble entsteht fesselndes Theater. Wie Bauleiter Joachim Lätsch seinen psychotischen Mann fürs Grobe Jürg Wisbach dämonisch manipuliert, wie Gina Henkel als sehnsüchtig-verstörter Paris-Import zwischen hilflosem Aufbegehren und Liebesverlangen pendelt und Lusako Karonga in afrikanischer Tradition und brutaler Realität zerreißt ist unbedingt sehenswert und eine spannende Bereicherung des Spielplans, der hoffentlich bei weiteren Aufführungen die eroberten Theaterräume einfordern kann.

Mit "Fire" hinter dem "Eisernen Vorhang" klingt der erste Tag nachmitternächtlich aus. Das restlos überfüllte Rondell ist zwar für das inszenierte Konzert ein etwas steifer Rahmen, trotzdem kommt das Publikum in Stimmung. Doch entsteht manchmal ein zwiespältiges Gefühl. Was die Schauspieler mit der tollen Hintergrund-Band (Udo Hemmann (git, b) Friedrich Störmer (b) und vor allem Tim Neuhaus am Schlagzeug zelebrieren, erschöpft sich oft im äußeren Gestus und ähnelt manchmal mehr einem anspruchsvollem Karaoke-Wettbewerb. Überzeugend Markus Seidenstickers Version von Nick Drakes "Pink moon", Therese Hämers Nico-Solonummer und Barbara Wursters punktgenaue Janis Joplin. Aleksandar Tesla verhebt sich an Jaques Brels "Amsterdam" gewaltig, und die Falco-Adaption von "Rock me Amadeus" mit Markus Seidensticker und Bernd Lange hat so gar nichts mit dem Gestus des österreichischen Pop-Helden gemein. Und auch Nicole Ernst und Friedrich Stürmer können Rio Reiser nur nachahmen, nicht wirklich stimmlich erfüllen. Insgesamt also ein lustiges Fest der Eitelkeiten und kleiner magischer Momente mit unterhaltsamem Charakter, inspirierten Beteiligten und hochprofessionellen Musikern. Und wenn man dann so richtig Lust auf Party bekommen hat, dann heißt es "Garderobe abholen!". Das war die einzig wirklich verschenkte Chance des ersten Theaterabends.



27. Februar 2004

Stellenweise vergnüglich, manchmal etwas eitel...

Poetischer Kuchenbasar

Der gute Zweck heiligte zunächst den Magen, denn das frischgegründete Thüringer Literatur Quintett versuchte das zahlreiche Publikum am Donnerstagabend zunächst mit selbstgebackenem Kuchen und spendierten Wein gönnerhaft zu stimmen. Denn das Ziel der Autorenrunde war, zum Erhalt der Thüringer Fahrbibliotheken einen öffentlichkeitswirksam vorlesenden Beitrag zu leisten und nebenbei frisch Produziertes zu präsentieren. Martin Straub moderierte den Abend mit aktuellen Anekdoten und nahm das ausschließlich männliche Unternehmen mittels kleiner Bonmots vor möglichen feministischen Angriffen in Schutz.
Der Lesereigen wurde zunächst per Konserve liedhaft eröffnet und erwies, dass Hans-Jürgen Döring in diesem Genre eine Menge Können fehlt. Diesen ersten Eindruck konnte Matthias Biskupek mit einer Reminiszenz ostdeutscher Sicherheitsbefindlichkeiten souverän zerstreuen. Sein aktueller Theaterroman "Eine moralische Anstalt", aus dem er ein Kapitel vorstellte, befasst sich mit den Ansprüchen eines Provinztheaters nebst Reibungen mit sozialistischer Wirklichkeit und fand beim Auditorium vergnügliche Aufnahme.
Döring verlas danach in etwas zu forciertem Tempo aphoristische Lyrik mit eingängigen Sinnbildern. Seine Widmung für Uwe Gressmann setzte Insiderkenntnis voraus, die hintergründige Variation des Feinsliebchen-Volkslieds fand verdienten Applaus. Frank Quilitzsch spielte in seinen drei Liebesgeschichten alltagspoetisch und unterhaltsam mit Erinnerungswerten zwischen Zahlboxen, Gelenktaschen sowie Poesiealben und konnte damit eine Menge Lacher verbuchen. Landolf Scherzer wollte sich solch unkompliziertem Frohsinn nicht entziehen, blieb dem Publikum zwar die angekündigte Bauhaus-Reportage schuldig, entschädigte aber mit schwarzen Sprichwort-Weisheiten und einer sanften Glosse über die Währungsreform. Insgesamt spendeten die Besucher und die gastgebende Thalia-Buchhandlung 500 Euro, und somit war der Erfolg der literarischen Exkursion auch materiell besiegelt. Und die Existenznot der drei Fahrbibliotheken ein wenig gemildert...



23. Februar 2004

Ein gewachsenes Duo, dem nur noch ein kleines Quäntchen zur Unverwechselbarkeit fehlt...

Schwarzes Brettl

Boris Raderschatt ist ein intelligenter Bühnenmagier, und er ist bei seinem zweiten Programm "Fracktour 04" gewachsen. Sein kongenialer Pianist Christoph Gerl hat sich ebenso vom Begleiter zum pfiffigen Mit- und Gegenspielpart emanzipiert. Das zahlreiche Publikum in Jenas sympathischer "Kurz- und Kleinkunst"-Bühne wusste dies zu schätzen, und ließ sich von "Pirsch und Balz" im Sturm erobern.
Diese Resonanz ist für das Duo nichts Neues, denn seitdem sich die ehemaligen Weimarer Musikhochschüler mit Interpretationen von Kabarettsongs der Goldenen Zwanziger formatierten, schreiben sie kontinuierlich Erfolgsgeschichte. Das liegt einerseits an dem perfekten Zusammenspiel von Sänger und Pianisten, die beide in ihrer Profession auf hohem Niveau ansiedeln. Raderschatt schwenkt nun auch einmal auf Wiener Schmäh und vergiftet Kreislers Tauben im Park mit aasiger Wonne. Doch auch aberwitzige Coverversionen von den Hellwig-Schwestern oder der Kaiserschnulze "Santa Maria" sind mit hintersinnigem Witz konstruiert und vorgetragen.
Gerl brilliert als Begleiter und versucht im humorvollen bis zynischen Zwiegespräch den Platzhirschstatus zu erstreiten. Das ist nicht immer dramaturgisch schlüssig, aber durchaus vergnüglich. Und wenn dann bei einer Persiflage eines Krug-Klassikers die musikalischen Seiten gewechselt werden, offenbart sich unverkrampft die Potenz des Duos. Nach zwei frenetisch erklatschten Zugaben entlässt das Publikum die Künstler immer noch ungern, und es bleibt die verwunderte Frage, warum sich nicht mehr Thüringer Veranstalter um dieses Programm reißen.



21. Februar 2004

Ein angenehmer Raum, ein sinnliches Vergnügen und eine spannende Schauspielerin...

Bühnenlust

Vielleicht ist es wieder an der Zeit, über die Liebe zu reden. Beispielsweise so wie in der Erfurter "Schotte", wo sich vier hochtalentierte Schauspieler dem "Sinnenrausch" inszeniert ergeben, und mit lyrischen Kommentaren von Lessing bis Brecht dem Seelenzustand bühnenkräftig entsprechen. Peter Rauch hat die Gedichtfolge mit fast spartanischer Ausstattung, punktgenauer Lichtregie und Sinn für das Detail in Szene gesetzt, und kann sich auf ein spielfreudiges und unverkrampftes Akteursquartett verlassen. Auf Ralf Berghofer, der mit diabolischer Frische Goethes Satansmesse sinnenfrohe Intensität verleiht oder mediterran gefärbte Tipps über die Verführung von Engeln erteilt. Oder Julia Lehmann, die als Engelchen Brigg gekonnt zwischen Lolita und Laszivität pendelt, und trotzdem noch ein wenig an ihrem Sprachduktus arbeiten muss. Oder auf Björn Harras, der das "Heidenröslein" witzig neu entdeckt und an Anna Blume jungenhaft verschmachtet. Und vor allem auf Ange Daiss, die Entdeckung des Abends. Wie sie ihre Enttäuschung im ersten Licht herausschreit, das erbarmungslose Schicksal der Evelyn Roe sprachlich erfühlt oder schwäbelnd und hintersinnig erotisch den Augsburger Lebemann fordert: das ist richtig theaterklasse und lässt auf solistischen Aufbau hoffen. Sicher, Dramaturgin Ingeborg Wolf hätte durchaus etwas gründlicher im Lyrikfundus suchen können, denn die Brechtschen Liebesgedichte sind übersattsam vertreten, während beispielsweise Ritsos, Bukowski oder Ovid abwesend glänzen. Doch das rund 90minütige Vergnügen schmälert es nicht wesentlich, zumal man Geist- und Sinnenfreude anspruchsvoll und spritzig vermischt.
Und in abschiebekalten Zeiten ist es vielleicht gerade wichtig, über die Liebe zu reden...



19. Februar 2004

Wenn einen der Ehrgeiz packt, dann entstehen manchmal steinerne Denkmale...

Leistungsschau

Das Jazzorchester der Weimarer Musikhochschule hatte sich unter Leitung von Prof. Ansgar Striepens unter das Motto "The Magic of Sound" gestellt. Doch das Ergebnis einer intensiven Probentätigkeit, welche am Mittwochabend vor ausverkauften Fürstensaal präsentiert wurde, hatte eher den Charakter einer Leistungsschau, denn eines wirklich lebendigen musikalischen Ereignisses. Vom Ehrgeiz des Leiters beseelt, die Möglichkeiten des Klangkörpers komplex zu präsentieren, waren die Arrangements der insgesamt elf Titel so dicht gebaut, dass vor lauter raffinierter kompositorischer Ideen den Musikern kaum Luft zum Interpretieren blieb. Das Repertoire beschränkte sich bis auf zwei Standards von Kurt Weill (darunter auch der "Mackie-Messer") auf unbekanntes und neues, weitestgehend von Kölner Komponisten gesetztes Material. Der angestrengte konzertante Charakter ließ kaum einen feurigen Impuls auf das überwiegend musikstudentische Auditorium überspringen. Auch der vielgelobte Gastsolist Matthias Nadolny vermochte mit seinem Tenorsaxophon in solcherart Konzept nicht recht zu überzeugen. Sicher, sein Ton ist rauchig und der Stilistik perfekt angemessen. Aber bei aller Perfektion des Künstlers blieb es doch eher bei virtuosem intellektuellem Handwerk statt kreativem und herausragendem Impuls.
Auch wenn die Jazzorchestermusiker sich in dem akademischen Korsett kaum entfalten konnten, gab es doch bei den kurzen solistischen Ausbrüchen ein paar überzeugende Entdeckungen. Während Gitarrist Christoph Bernewitz und Schlagzeuger Henning Luther wie gewohnt brillant bedienten, lieferten der intuitive Saxophonist Evgueni Botchkov, die hochtalentierte Perkussionistin Karoline Körbel und der mit präzisem und einfallsreichem Spiel überzeugende Pianist Ulrich Boß hochprofessionelle Einstände. Fazit: Akademisch überfeinerte Gourmetkost mit kleinen, schmackhaften Einlagen.



16. Februar 2004

Hochtalentierter Musik-Nachwuchs in Weimar - ein satter Hörgenuß round midnight. Nur die sich unbedingt in den Aufmerksamkeitsradius tanzenden und dialogisierenden Damen im Publikum können da etwas nerven. Ist ja schließlich keine Teenie-Boygroup...

Nachwuchsspitzen

Ein ungewöhnliches Ambiente und ein herausragendes Konzert: die Jazzlounge des Radio-Lotte-Clubs über dem Weimarer Residenzcafe am Sonntagabend war ein voller Erfolg. Die drei Jungstars Tim Neuhaus (perc), Christoph Bernewitz (git) und Friedrich Störmer (b) eroberten den ausverkauften Saal schon in den ersten Takten durch furioses, einfallsreiches und mitreißendes Spiel. Neuhaus, der ebenso wie Bernewitz in der örtlichen Musikhochschule bestens ausgebildet ist und mit seinem Debütalbum „More of thousand ways“ mehr als ein Achtungszeichen setzte, definierte den Jazzfunk der Achtziger erfrischend neu und brillierte mit ebenso einfallsreichen wie virtuosen Breaks, treibenden Rhythmen und sensibel ausgeloteten Stimmungen. Bernewitz stand ihm als gitarristischer Part ebenbürtig zur Seite. Er verdiente sich erste Sporen bei der Thüringer Landesjugendbigband und hat sein Können derart perfektioniert, dass ihm an diesem Abend per Mail ein Berkeley-Stipendium ins Haus flatterte. Souverän zwischen Ausdrucksformen John Scofields und Pat Metheneys pendelnd zeigte er auch bei musikalisch sehr anspruchsvollen Eigenkompositionen wie "Distanz" mit stilistischer Leichtigkeit sein geradezu artistisches Können. Der aus der Karnevalshochburg Köln temporär entflohene Störmer nutzte seinen Bass inklusive Synthesizer sehr originell und kreativ, und spielte sich ebenso wie seine Kollegen die improvisatorischen Bälle voller Elan zu. Für Bernewitz war es zudem eine Generalprobe für sein Vordiplom, die er durch den kongenialen Saxophonisten Hannes Dehr bei einigen Titeln verstärken ließ. Aus dem Sessioncharakter wurden beeindruckende Cover wie beispielsweise von Michael Jacksons "Man in the mirror" geboren. Die reglementierte Polizeistunde ließ ein zu Recht frenetisch applaudierendes und elektrisiertes Publikum zurück welches eines der besten Konzerte der Weimarer Szene erlebt hatte.



5. Februar 2005

Satt gefördert aber mit langweiligem Ergebnis...

Irrfahrten

Antikes Epos mit agitatorischen Elementen? Episodentheater mit Popballaden? Oder Geschichtsunterricht mit Comedytouch? In jedem Fall war der "Odysseus" der Theaterscheune Teutleben, welcher im Weimarer Reithaus am Mittwochabend seine Premiere erlebte, eine unausgegorene Mixtur, die sich über 90 Minuten stellenweise dröge hinzog. Und die weitere Frage erzwang, was letztendlich damit erzählt werden sollte. Das Konstrukt einer Rückblende, in welcher der bestrafte Irrfahrer seine Abenteuer reflektiert, bot vorhersehbare Nummernfolgen, die eher durch die unterschiedlichen Spielformen mit Puppen, Musikeinlagen und intelligentem Bühnenrequisit, als durch gehaltvolle Hinterfragung überzeugten. Unter der Regie von Werner Brunngräber entstand eine weder jugend- noch zeitgemäße Adaption des Stoffes. Da hat man im Sommer in Weimar mit der "Troja"-Version der "Theaterschafft" wesentlich Hintergründigeres und Witzigeres gesehen. Bedenklich beispielsweise das Frauenbild, welches Circe und Calypso eher als Bond-Girls definiert und mögliche aktuelle Deutungen verschenkt.
Lobenswert dagegen die vielseitige und überzeugende Carmen Betker in Mehrfachrollen und Stefan Enno Mühlmanns komödiantisches Bemühen. Die sängerische und spielerische Ensembleleistung verdiente den Schlussapplaus, ebenso wie das einfallsreiche Schlagwerk von Tom Semper und die stilistisch abwechslungsreiche Musik. Dagegen war trotz beeindruckenden Equipments mancher Song von Ludger Nowak (Circes Klage) sehr simpel gestrickt. Insgesamt ein engagierter, aber fragloser und partiell langweiliger Theaterabend.



24. Januar 2004

Leider wenig Publikum für ein schweißtreibendes Live-Konzert...

Gutes Gefühl

Das Volkshaus in Weimar verbreitet immer noch den diffusen Vorwende-Charme, und es erwies sich als kluger Schachzug, das Konzert von "Dr. Feelgood" in den Nebensaal zu verlegen. Rund 120 Gäste waren der Aufforderung von Beatclub und Konzertbüro Ludwig gefolgt, die Bandlegende live zu erleben, und ließen im kleinen Raum Nostalgie und kein Gefühl der Leere entstehen. Und wurden nicht enttäuscht.
Als Thüringer Support heizte das Quartett "Bluespol" um den bodenständigen Sänger, und Gitarristen Michael Hock solide mit flinken Gitarrensoli und stilistisch vielfältigen Bluesrock-Covern von amerikanischen Küsten an und erntete verdienten Achtungsapplaus.
Das Feuerwerk entzündete allerdings nachhaltig "Dr. Feelgood". Mit kraftvollem Einstieg, zündenden Riffs und sicherem Gespür für Publikum, Blues und Rock'n Roll lieferte das Quartett aus Essex eine mitreißende und furiose Live-Show, die vor allem dem charismatischen neuen Sänger Robert Kane geschuldet war. Das ungebremste Energiebündel mit Punk-Attitüde tanzte wie ein Derwisch über die Bühne und animierte mit Stimme und Bluesharp sowohl die Zuhörer als auch die Band. Leader Kevin Morris am Schlagzeug sorgte für abwechslungsreiche, schnelle Grooves, Gitarrist Steve Walwyn brillierte fast pausenlos mit Chorusspiel und eingängigen Akkorden und P.H. Mitchell sorgte am Bass für die nötige Treibkraft. Die Originalhits wurden gründlich entstaubt, ohne ihre Blues- und Rock-Herkunft zu verleugnen, und als nach eineinhalb Stunden "Down at the Doctors" erklang, war der Saal restlos überzeugt, eines der einfallsreichsten und furiosesten Konzerte dieser Genres erlebt zu haben. Mit dem John Lee Hooker -Cover "Bad man blues" setzte die Band noch einen Zugabehöhepunkt, ehe es das aufgeheizte Publikum in die kalten Nachmitternachtsstunden entließ.



22. Januar 2004

Die Mühen der Kabarettebene sind tückisch, das "Fettnäppchen" in Kapellendorf ist sehr gemütlich und herzlich, gut dass es noch solche Initiativen gibt. Nur Kabarett sollte nicht gemütlich sein...

Witzige Knöllchen

Frau Knolle (Andrea Roßbach) und Frau Tippel (Lys Schubert) sind Thüringer Politessen, die neben ihrer staatstragenden Tätigkeit Privatprobleme mit Gerichten, Männern, Ärztinnen und Lehrerinnen haben. Das ist das Grundgerüst der mittlerweile 75. Premiere "Im Namen des Geschwätzes", welche den gemütlichen Saal des "Fettnäppchens" in Kapellendorf am Mittwochabend ungewohnt mäßig füllte. Die Bezeichnung Kabarettstück ist wohl etwas verfehlt, es ist unter der Regie von Eva-Maria Fastenau eher pfiffiges Volkstheater mit kleinen satirischen Seitenhieben, ein routiniertes Unterhaltungsprogramm mit spielfreudigen und komödiantisch versierten Schauspielerinnen. Es gibt viel aufzuarbeiten, vom Pisa-Schock über Gesundheitsreförmchen bis zu verwinkelten Aktiengeschäften. Das geschieht fast durchgehend in kleinen Spielszenen, denen das Politessenspiel partiell mit Publikum und auf der Bühne den Rahmen gibt. Man textet selbst, geißelt lokalpolitische Fehlentscheidungen, gibt sich stellenweise anzüglich und ist damit am Ohr der Thüringer. Das Publikum amüsiert sich so prächtig, dass sich die Gags teilweise im Saal verselbständigen. Die Playbackmusik zündet weniger, Konserve im Kabarett ist eben eine sträfliche Sparmaßnahme.
Andrea Roßbach, als Urgestein des "Fettnäppchens" seit 1976 im Ensemble und Jungzugang Lys Schubert bewegen sich gesanglich und spielerisch sicher in den genretradierten Vorlagen, geben dem Blödelaffen zuweilen etwas viel Zucker. Das eingeschworene Auditorium quittiert das Programm mit begeistertem Applaus und bekommt keine Zugabe. Fazit: Etwas mehr Tiefgang würde das Publikum sicher nicht vergraulen, deswegen ist die Jubiläumspremiere nur bedingt empfehlenswert.



18. Januar 2004

Mancher Abschied erzeugt leider weniger Wehmut als erwartet...

Boxen im Flachland

Wenn es am Schönsten ist, soll man aufhören, sagt der Volksmund. Gerburg Jahnke und Stephanie Überall alias "Missfits" haben sich entschlossen, eine "Letzte Runde" zu touren und es sei dahingestellt, ob das wirklich ein Grund zur Wehmut sein sollte. Denn das seit zwanzig Jahren prägende Frauenkabarett verabschiedete sich vor restlos ausverkaufter Weimarhalle am Wochenende mit einer Reminiszenz-Comedyshow die mehr im Vergangenen schwelgte als neue Impulse zu finden. Sicher, das Damenduo beherrscht perfekt die Doppelconference, und Figuren wie Lisbeth und "Matta", die mannstollen Witwen oder "Geisimeisi" mit ihrem absurden "Feminispräch" haben Kabarettgeschichte geschrieben und eroberten mit ihrem bissigen Humor zu Recht eine zahlreiche Fangemeinde für das totgeglaubte Genre zurück. Doch ist die "Letzte Runde" eher ein sanfter Boxkampf auf flachem Gelände, man lacht über Klischees wie bei Jahnkes Klofrauensolo über männliches Entleerungsverhalten. Es bleibt vieles unter der Gürtellinie, der Lachmuskel ist eher gefordert als Mitdenken. Subversive Zwischentöne wie "Kinder an die Wand" oder Überalls Studie einer Verlassenen sind selten. Die Lieder, solide instrumental und sängerisch arrangiert und begleitet vom Männerquintett, persiflieren unterhaltsam bekannte Popsongs und lockern das Nummernprogramm auf. Insgesamt ist der "Missfits"-Abschied ein karnevalähnliches Amüsiertheater mit Erinnerungswert, und wenn das begeisterte Publikum im Zugabenteil die Hymne an Oberhausen intoniert, dann rinnt wohl manch heimliche Träne über die mitgebrachten Eierlikörflaschen. Und eine Liedzeile wird sicherlich bleiben: Nur wer vögelt, kann auch fliegen...



16. Januar 2004

Erinnerungen werden geweckt - für mich waren Pankow auch irgendwie Helden...

Kontrollierter Aufruhr

Sie sind wieder auf der Straße, der Aufruhr in den Augen ist etwas abgeklärt. Sie haben sich nach fünf Jahren noch einmal fast in Originalbesetzung gefunden und sind kein Magnet mehr, wie die mäßig gefüllte Weimarhalle beweist. Trotzdem ist die Reunion von "Pankow" ein Rock-Ereignis.
Als Support lässt die Berliner Band "Funke" an diesem Mittwochabend mit instrumentalem Können, zeitgeistigen Texten und eingängigen Kompositionen aufhorchen, und doch wirken sie nachbetrachtet wie gefälligere Epigonen des Hauptakts.
André Herzberg, der charismatische Frontmann "Pankows" kommt und siegt, sofort gibt das Publikum seine Zurückhaltung auf und versammelt sich am Bühnenrand. Jürgen Ehle, der ewige Januskopf der Band brilliert mit seinen Gitarrenriffs. Pankow muss sich nicht neu erfinden, sie stehen als eine der wenigen Ostbands für Authentizität und intelligente Subversion, jenseits der Aktenlage. Mehr als zwei Stunden folgt Hit auf Hit und offeriert das faszinierende Potential des Quintetts. Die Texte zeitlos aktuell, die Refrains zündend und zündelnd, es ist eine Wiederbegegnung, welche eine Generation bestätigt und die Wurzeln aktueller Entwicklungen deutschsprachiger Bands aufzeigt. Das Auditorium reagiert immer euphorischer, entdeckt es doch noch einmal seine Vergangenheit in der Gegenwart wenn Herzberg Doris, Gabi und Inge Pawelczik besingt und den Rock'n Roll im Stadtpark als kontrollierter Berserker zelebriert. Manchmal wirken seine Augen müde, denn er singt über seine Reife und besseres Wissen hinweg. Es bleibt eine kraftvolle Reminiszenz, konträr verklärender Ostalgie - eine wertvolle Seltenheit. Langer Zugabenteil.



10. Januar 2004

Eine echte Entdeckung im neuen Jahr...

Sanfter Stern

Schon mit sechzehn Jahren hat sie Lieder geschrieben, die ebenso wie ihre neuen Kompositionen auch nach acht Jahren faszinieren. Ellen Klinghammer ist so etwas wie ein musikalisches Urtalent mit bestechend schöner Stimme, einem ebenso präzisen wie einfallreichem pianistischem Begleitspiel und originärem kompositorischen Konzept, welches Ebenbürtigkeit mit Größen wie Björk, Norah Jones, Tori Amos oder Kate Bush manifestiert. Die 24-jährige Frankfurterin singt vorwiegend Balladen von persönlichen Erfahrungen, Liebe, Schmerz, stillen Landschaften und leisen Gefühlen ohne Nabelschau zu betreiben - eine sanfte, eindringliche Musik ohne Hitcharakter für Regentage und melancholische Momente. Mit linkischem Charme, virtuosem Spiel und vielfältig strukturierten Songs bot sie im überfüllten Weimarer "mon ami" am Freitagabend ein 90-minütiges anspruchsvolles Songwriterkonzert, welches die Zuhörer vom ersten Moment an in den Bann zog.
Ellen Klinghammer singt englisch und moduliert die Sprache als wäre es die Eigene. Ein deutsch interpretiertes Liebeslied lässt erahnen, was die des Englischen Unkundigen verpassen, doch die werden durch ihr Timbre und die Musik entschädigt. Man muss kein Prophet sein, um ihr eine dauerhafte internationale Karriere zu weissagen, konträr zum Starverglühen der Bohlenschmiede. Und nebenbei zeigte der Besucherandrang, dass auch Geheimtipps in Weimar durchaus die Chance haben, gehört und gefeiert zu werden.

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