Spiegelzeltblog 2011



Krrrtikrrrtsch: versuchen Sie das mal auszusprechen! Dort saß ich im „Köstritzer Spiegelzelt“, um fast JEDE Veranstaltung mitzuerleben. Und machte das auch freiwillig und gab meinen Senf dazu!

Zugegeben: ich bin etwas voreingenommen. Denn in sieben vergangenen Jahren ist das „Spiegelzelt“ nicht nur für mich eine Institution und Attraktion geworden. Denn wo in Weimar kann man sonst in hoher Konzentration, angenehmer Atmosphäre und hautnah Spitzenkünstler erleben? Jedenfalls habe ich (fast) jeden Abend am „Krrrtkrrrtsch“ (übersetzt: Kritiker-Tisch) gesessen, und von den Veranstaltungen in diesem Blog wertend berichtet.




TEXTE IN CHRONOLOGISCH UMGEKEHRTER REIHENFOLGE GEORDNET


Das Zelt ist fast abgebaut, und eiserne Skelette zieren jetzt den Beethovenplatz. Eine günstige Gelegenheit, um noch einmal mit Produktionsleiter Kristjan Schmitt und dem belgischen Zeltverleiher von „Magic Mirrors“ Richard Meder ins Gespräch zu kommen.


Das Spiegelzelt hatte ja in diesem Jahr eine neue TÜV-Abnahme. Und es stand die Forderung, das Zelt zu ballastieren. Was kann man darunter verstehen?


Kristjan Schmitt: Normalerweise wird mit Pflöcken im Boden verankert. Bei einer Ballastierung stabilisiert man das Zelt mit Gewichten. Dank dem Raiffeisenmarkt, der uns 400 Steine a 25 Kilo, also 10 Tonnen, vermietet hat, konnten wir das Zelt so mit „Bodenhaftung“ versehen. Das Zelt wog 38 Tonnen,  die Besucher wurden mit 40 Tonnen veranschlagt. Insgesamt lasteten mit der zusätzlichen Technik 90 Tonnen auf dem Beethovenplatz.


Wo steht denn dieses Zelt von „Magic Mirrors“ noch?


Richard Meder: Zum Beispiel in München, Wien, Nürnberg, Stuttgart und Hamburg. Sehr erfolgreich ist die „Palazzo“-Dinnershow, wo Starköche ihr Können zeigen. Generell erfreut mein Team aber, dass die Leute überall etwas Schönes draus machen, alles wird durch die Zelte zum magischen Platz.


Wie viele Zelte habt ihr bei „Magic Mirrors“?


Richard Meder: Momentan sind es noch vierzehn, aber mein Bruder Alex und ich haben jetzt noch ein originales Spiegelzelt, welches vor 85 Jahren gebaut wurde, gekauft. Dass macht uns besonders stolz, denn in dieses Zelt stand bei den Theatertreffen in Berlin.

Und dann haben wir uns in Brüssel einen Traum verwirklicht. Seit  September 2010 steht dort in der Nähe von „Thurn und Taxis“ ein Zelt, welches für alle Künstler offen ist, und für jeden Besucher, egal wie viel Geld er in der Tasche hat, zugänglich ist. Momentan laufen dort Salsa- und Tangoabende, und auch der Zirkus, allerdings ohne Tiere, hat dort seinen Platz gefunden. Momentan bauen wir das Programmangebot noch aus, wobei wir dabei auf Internationalität wert legen. Das Zelt hat 18 Meter Durchmesser, bietet 350 Besuchern Platz und ist ein wenig mit der „Bar jeder Vernunft“ in Berlin zu vergleichen.

Stehen eure Zelte nur in Deutschland?


Richard Meder:  Unsere Zelte sind weltweit unterwegs. Eines steht bald für zwei Jahre in Las Vegas. Da braucht es Klimaanlagen. Aber auch Kälte macht nichts aus. Wir haben schon Zeltbesucher in Quebec und Ottawa bei eisigen Außentemperaturen gehabt, und die haben sich richtig wohlgefühlt. Auch in Norwegen wird eines unserer Zelte bald aufgebaut. Dort gibt es in Hell bei Trondheim ein Bluesfestival.


Seit wann arbeitet ihr mit dem Weimarer Team zusammen?


Richard Meder: Seit 2004. Wir haben ihr echte Idealisten gefunden, und freuen uns, was hier für ein magischer Raum entstanden ist. Die Zusammenarbeit hat sich kontinuierlich entwickelt, und die Zelte sind immer umfangreicher geworden. Das Zelt, was in diesem Jahr hier gestanden hat, ist aber unser Größtes. Und es wird auch 2012 hier stehen.


Wie kommt es, dass Du so gut Deutsch sprichst?


Richard Meder: Ich habe drei Jahre in Dresden gewohnt. Mein Vater ist Deutscher, ich bin Holländer. Aber vielleicht esse ich deshalb auch so gerne Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffeln und trinke dazu gerne ein Pils (lacht).


Damit verabschiede ich mich für dieses Jahr mit meinem Spiegelzeltblog. Liebe Leser, bleiben Sie mir gewogen, wir sehen und lesen uns im Mai 2012 wieder. 

Ihr Matthias Huth


21. Juni 2011

Die Spiegelzeltsaison ist erfolgreich zu Ende gegangen. Bevor Intendant Martin Kranz zu neuen Festivalaufgaben nach Berlin düst, gab es noch Zeit für ein kleines Interview.

Das Publikum hat ziemlich eindeutig "Maybebop" als diesjährige Marlene-Preisträger erkoren. Hast Du die Gewinner schon angerufen?

Die Jungs sind momentan unterwegs, ich habe sie informiert. Postwendend kam die Mail: "Klasse! Wir freuen uns." Dem Weimarer Gewinner Christian Fleischer habe ich eine SMS geschickt, aber er hat noch nicht reagiert. Jedenfalls kann er sich über die Spiegelzelt-Lounge und ein dreigängiges Essen freuen.


Was waren für Dich die größten Herausforderungen in dieser Spiegelzeltsaison?

Das Ticket-Online Geschäft. Das war eher ein technischer Part, der mit Buchhaltung, Zelt und Büro verlinkt ist. Im Ergebnis war es eine unglaubliche Arbeitserleichterung, aber es hat eine Weile gedauert, bis das funktioniert hat. Aber jetzt klappt alles auf Knopfdruck. Zweite Herausforderung war das Zelt, denn wir konnten ja nichts ausprobieren. Die Bestuhlung war dann aber optimal und mit Bühne, Licht und Ton hat ja auch alles hingehauen. Drittes Problem war die Statik der Tiefgarage. Wir mussten das Zelt mit Steinen ballastieren, und 150 Besucher mehr haben auch mehr Gewicht. Deswegen haben wir mit einem Statiker ermittelt, ob das die darunterliegende Tiefgarage aushält.


Nach welchen Aspekten wählst Du die Künstler aus?

Rein qualitativ. Ich schau mir die Programme, wenn möglich, vorher an. Manchmal gibt es auch Empfehlungen von Kollegen. Ich bekomme über 1000 Bewerbungen im Jahr. Mittlerweile haben wir eineinhalb Jahre Vorplanungszeit.


Kannst Du schon einige Highlights des nächsten Jahres verraten?

"Maybebop" wird dabei sein. Lars Reichow haben wir wieder gebucht, und es gibt starke Frauen wie Lisa Bassenge.


Welcher Abend hat Dir am besten gefallen, und warum?

Das Abschlusskonzert mit Stefan Gwildis und Lars Reichow. Reichow war für mich eine echte Überraschung, und Gwildis fand ich auch dramaturgisch überzeugend.

Wenn Du Bürgermeister werden solltest: wie geht das mit dem Spiegelzelt weiter?

Wir werden in diesem Fall eine interne Regelung finden. Wenn ich als Bürgermeister arbeite bin ich zwar noch Gesellschafter, aber die politische Aufgabe lässt dann keine Zeit mehr für eine Intendanz "nebenbei". Da das Spiegelzelt aber mein "Kind" ist, liegt es mir natürlich am Herzen. Ich glaube, dass ich durchaus ersetzbar bin, denn ich habe ja ein hochmotiviertes Team, auf das ich bauen kann.


20. Juni 2011

Weimarer Festival mit bester Kartenbilanz


Mit dem umjubelten Konzert von Stefan Gwildis schloss das Spiegelzelt in Weimar am Sonntagabend seine Pforten. 17200 Besucher an 40 Abenden sind eine stolze Bilanz, zumal man ja außer Sponsoren keinerlei Subventionierung erhält. Und um es vorwegzunehmen: es ist eine tolle Saison gewesen.


Es gab viele Höhepunkte, und fast durchgehend hohen künstlerischen Anspruch. Die Arroganz, solche Kleinkunstformen als pure Unterhaltung abzutun, ist weder zeitgemäß, noch angemessen. Spiegelzelt-Intendant Martin Kranz und sein Team haben mit kluger Programmauswahl und perfekt organisierten Zelt-und Technikabläufen nationale Maßstäbe gesetzt, was unter Anderem auch das bundesdeutsche Einzugsgebiet neben der Kartenauslastung eindrucksvoll unter Beweis stellt. Ohne "Leuchtturm-Attitüde" hat sich hier stetig und solide ein Kleinkunstfestival etabliert, welches zu den wichtigsten und kommerziell erfolgreichsten in Thüringen gehört. Die Veranstalter sind nicht nur mit der 90-Prozentigen Auslastung mehr als zufrieden. Denn im Laufe des Festivals stellte sich wieder einmal heraus, dass man mit dem Dorint-Hotel Weimar, der Köstritzer Brauerei und Montag-Catering auf verlässliche und kreative Partner setzen konnte, die für das 7-wöchige Projekt auch „brennen“. Die Neuerung des größeren Zelts mit 500 Plätzen (früher 350) hat vor allem noch mehr Gäste aus Weimar und Umgebung gelockt, und damit ist das Festival auch in der Stadt angekommen. Dorint-Chef Stefan Seiler formulierte es noch pointierter: „Wir bekommen durch das Spiegelzelt mehr Übernachtungen, als durch das Kunstfest“.


Schwerpunkt war in diesem Jahr das politische Kabarett. Dabei setzte man nicht nur auf mediale Namen, sondern nahm bewusst auch unbekanntere Künstler in das Programm. Da gab es viele spannende und großartige Entdeckungen, wie beispielsweise der jugendlich-spitzzüngige Florian Schröder, Matthias Egersdörfer mit umstrittenen, aber brillantem Personalstil sowie der überragende Pianist und Entertainer Lars Reichow. Natürlich fehlten auch "die üblichen Verdächtigen" nicht. "Malediva" die vorjährigen Publikumslieblinge bewiesen mit intelligentem Boulevardtheater erneut ihren Anspruch auf Zelt-Spitzenplätze. "Annamateur", Andreas Rebers, Willy Astor, Ringsgwandl, Jochen Malmsheimer, Alfons , Pigor & Eichhorn und Tim Fischer boten sowohl überragende, als auch gewohnte Qualität.


Dagegen waren die Begegnungen mit "alten Hasen" wie Georg Kreisler, Venske & Busse, Herbert Feuerstein und Wilfried Schmickler solide, aber ohne große Neuigkeitswerte. Überraschend dagegen das neue Programm von "Maybebop" welches das A-cappella-Quartett nun endgültig als beste Band ihres Genres auszeichnete und verdient den diesjährigen Publikumspreis „Marlene“ gewann.


Zweiter Schwerpunkt waren die musikalischen Abende. Hier setzte schon zur Eröffnung "Quadro Nuevo" mit anspruchsvollem Folklore-Crossover hochqualitative und virtuose Akzente. Furiose Rock'n-Roll-Klänge vom "Ray Collin's Hot Club" und relaxte Beatles-Cover von "Tok Tok Tok" werden wohl ebenso in kollektiver Erinnerung bleiben wie der Rio-Reiser-Abend mit Jan Plewka, die furiose Verquickung von Mozart und Latino-Rhythmen mit den "Klazzbrothers & Cuba Percussion" und der leise irische Songwriter-Superstar Kieran Goss, der neben dem offiziellen Programm im Spiegelzelt zur "Radio-Lotte-Lounge" auftrat. Manchen Künstler, wie beispielsweise Christian Springer alias "Fonsi" hätte man mehr Publikum gewünscht, doch wenn Georg Schramm in der Weimarhalle zeitgleich 1200 Zuschauer bindet, ist solche geringe Besucherzahl erklärbar.


Lobenswert, dass Martin Kranz trotz kommerzieller Gepflogenheiten nicht nur auf "sichere Bänke" setzt, und somit auch nicht vordergründig marktorientierten und Kabarett- und Musikformen eine Bühne bietet. Insofern kann man sich mit Fug und Recht auf die neue Spiegelzeltsaison vom 3. Mai bis 17. Juni 2012 freuen. Denn selbst wenn Kranz neuer Bürgermeister von Weimar werden sollte, trägt die Programmauswahl seine kreative Handschrift. Und die ist Garant für ein treues und anspruchsvolles Publikum. Oder um mit den Worten des Intendanten zu enden: “Das Spiegelzelt ist ein Theaterraum geworden.“



19. Juni 2011 STEFAN GWILDIS


Musikalischer Erweckungsdienst


So etwas schafft nur er. Das Publikum singt schon beim ersten Titel mit. Und das ist natürlich für Stefan Gwildis doppelter Ansporn, denn er hat um diesen Auftritt im Spiegelzelt gebeten. Und obwohl das sein erstes Konzert in Weimar war, spiegelte es den Charakter eines Heimspiels.


Der Sänger bringt deutsche Texte, oft von Michi Reincke geschrieben, energievoll mit den Hits aus der Soul- und Funkszene gekonnt zusammen, und das beschert ihm schon seit mehr als zehn Jahren eine ständig wachsende Fangemeinde. Und das mit der Gemeinde nimmt er ernst, denn er zelebriert seine Konzerte ein wenig persiflierend als amerikanischer Erweckungsgottesdienst, und das passt zu seinem mitreißenden Humor.


Gwildis hat eine große Seele, und die singt er auch. Er brilliert im Scat wie Al Jarreau, krächzt und moduliert wie James Brown und bleibt dabei authentisch  erdverbunden. Seine Texte schildern Alltagssituationen von Liebe und Verlassensein, aber er geht in einem Joni-Mitchell-Cover ebenso kritisch Umweltsünder sowie politische und stadtplanerische Oberflächlichkeiten an. („Wenn es weg ist“)


Er beginnt solistisch mit seiner Variante von Bill Withers „Ain’t no sunshine“, und „allem Anschein nach“ hat er da sein Publikum schon vollständig erobert. Dann begrüßt er seine Mitmusiker auf der Bühne: den Cellisten Hagen Kuhr, der auch als furioser Kontrabass-Ersatz fungiert und den virtuosen Gitarristen Matthias Strass, dem kein Riff und kein Solo in seiner harmonisch spannenden Begleitung Schwierigkeiten bereitet. Natürlich spielt der Meister auch selbst Akustik-Gitarre, und so entsteht schon bei seiner spontanen Improvisation, bei der er Besuchernamen und Orte besingt, ein bezwingendes musikalisches Freudenfeuer. „Heut ist der Tag“, „Keines Menschen Auge“, ursprünglich von Lucio Dalla gesungen, oder seine „Walking in Memphis“-Variante („Gestern war gestern“) sind mittlerweile auch alte Hits von ihm geworden, und so singt das Zelt begeistert mit, und gibt schon bei den Songanfängen Wiedererkennungs-Applaus.


Gwildis ist ein Vulkan, und er überzeugt mit seiner ebenbürtigen Interpretation der Song-Originale und seinem Humor. Da gibt es ein sehr böses Schlaflied, und „Mama mag ihn“ und „Bonzo“ warnen umwerfend komisch vor ungebetenen Besuchern. Man sollte ihm als Anerkennung nicht unbedingt einen Zelturlaub in Dänemark schenken, dafür aber einen Regenschirm bereithalten. Denn Gwildis ist auch eine lustvolle Rampensau, als er mit diesem Requisit eines Besuchers bei einsetzendem Regen über dem Zelt plötzlich bei dem Song „Mond über Hamburg“ spontan „Singing in the rain“ steppt und pfeift. Der Mann hat richtig Spaß an seiner Sache, und das merkt man ihm, und seinen Musikern an. Er covert Aretha Franklin, Joe Cocker oder Otis Redding mit solcher Verve, dass das Zelt zum sonntäglichen Abschlussabend der Saison in Chören singt, und letztendlich auch ausgelassen tanzt. Bei dem Temptation-Song „Just my imagination“ singt der Kritiker nicht „Nur in meinen Gedanken“ mikrofonverstärkt mit, und jubelt mit den Anderen.


Einen schöneren Abschlussabend hätte die Spiegelzeltsaison kaum haben können, und so verspricht Gwildis nach drei Zugaben, zu der auch das wunderschöne poetische „Anker werfen, Segel setzen“ gehört, im nächsten Jahr nach Möglichkeit wieder an diesen Ort zu kommen. Und wenn das wahr wird, liebe Brüder und Schwestern, dann sage ich nur: Halleluja!


Spruch des Abends

„Gehts euch gut? Es gab doch heute Gurkensuppe“. Stefan Gwildis mit inaktueller EHEC-Information


Fazit

Mitreißender Abschluss mit dem besten Soulsänger Deutschlands und zwei virtuosen Mitmusikern


Führungswünsche, Instrumentenkunde und Weiterführungen


Stefan Gwildis nutzte die Zeit, um ein wenig in den Weimarer Parks zu schlendern. Dabei suchte er zielgerichtet nach einem Gingko-Baum, wurde aber nicht fündig. Und so bat er von der Bühne um eine Führung. Wenn er im nächsten Jahr wiederkommt, wird ihm dieser Wunsch sicher von vielen Fans gerne erfüllt werden.


Manchmal weiß ja der Kritiker auch nicht alles (grins!). Und so fragte ich Stefan Gwildis, wie das kugelförmige, mit Perlen behängte Perkussion-Instrument, welches er öfter mal einsetzte, nun eigentlich heißt. Da musste der deutsche Soulgott selber passen, aber dank Internet war die Information schnell gefunden. Das Instrument ist eine Chekere, und damit wurde wieder ein Weimarer Bildungsauftrag erfüllt.


Nun wird das Spiegelzelt schon wieder abgebaut, und leichte Wehmut befällt Kritiker und Macher. Aber der Blog, liebe Leser, hat noch ein paar Ausgaben. Ich werde Martin Kranz und die belgischen Zeltverleiher interviewen, und vielleicht ja auch schon etwas über das nächste Jahresprogramm in Erfahrung bringen. Obwohl Letzteres immer ein bestgehütetes Geheimnis ist...


18. JUNI 2011 ALFONS

Humor mit französischer Leichtigkeit

Er kommt, sieht sich um und siegt. Alfons steckt mit seiner guten Laune und verschmitztem Lächeln das restlos ausverkaufte Zelt in Sekundenschnelle an. Er serviert seinen Humor wie eine Federwolke, und man kann gar nicht anders, als über diese Leichtigkeit des alltäglichen Seins zu Lachen. Es beginnt mit einem Einspieler, bei dem Alfons Menschen auf dem Wochenmarkt über die Liebe befragt. "Was war die letzte romantische Tat ihres Mannes?", will er von einer älteren Frau wissen. "Er hat frische Socken angezogen", bekommt er zur Antwort, und das Zelt ist sofort am Glucksen.

Alfons ist seit zwanzig Jahren eine Kultfigur, die man aus den Dritten Programmen kennt. Mit französischen Akzent und unbeholfenen Deutsch hinterfragt er den Alltag mit seinem überdimensionalen "Puschelmikrofon". Ständig mit Klemmmappe und Trainingsjacke unterwegs, fordert er mit jungenhaftem Charme Auskünfte über Solidarität mit Griechenland, Schmetterlinge im Bauch oder deutsche Vorschriften. Dabei stellt er seine Interviewpartner nie bloß. Das hebt ihn von den vielen herzlosen Medienfuzzis ab, welche Demütigung als Humor verkaufen.

Alfons Kunst besteht darin, dass er mit seinen Fragen und seinem Stil durchaus politisch ist. Wenn er in der Kleingartenanlage auftaucht und ihre Vorstände jovial über ihre Ansichten plaudern, zeigt das erschreckende aber realistische  Bilder über alltäglichen Rassismus und menschliche Kälte auf. Dass man sich zunächst darüber amüsiert, liegt an dem leichten Ton, den Alfons anschlägt. Der sollte aber nicht hinwegtäuschen, dass der unterhaltsame Reporter ein sehr ernsthafter Seismograph bundesdeutscher Befindlichkeit ist.

Zwischen den Einspielern plaudert Alfons über seine Erfahrungen als Wahlhamburger und agiert mit dem Publikum. Er kümmert sich um seine Zuschauer auf den "scheisesten Plätzen" und berichtet von seinen Erfahrungen mit Raucherquadraten auf Freiluftbahnhöfen. Verkehrszeichen sind für ihn Sinnbild deutscher Lebensart ("In Frankreich ist eine rote Ampel ein Vorschlag."), und auch seine Landsleute werden durchaus kritisch begutachtet ("Ich bin Franzose, mir ist Umwelt scheißegal"). Alfons zieht aus verschiedenen politischen Entwicklungen absurde Erkenntnisse: "Nachdem Fukushima den Grünen Wahlerfolge gebracht hat, warten CDU und FDP sehnsüchtig darauf, dass ein Windrad umfällt". Er empfiehlt als Maßnahme gegen den Geburtenknick, dass analog den Rauchergesetzen der Sex mit Verhütungsmitteln auch im Freien stattfinden sollte. Das ist alles sehr komisch, und die Videoeinspiele zielen in gleiche Richtungen. Köstlich sind hier seine Erfahrungen bei einer schwäbischen Kehrwoche und seine Befragung über deutsch-französische Freundschaft.

Zum Programmende gibt es noch ein liebevolles Porträt von Max und Emma, zweier Liebender im Rentenalter, und hier zeigt sich noch einmal exemplarisch,  mit wieviel Herz Alfons seine Arbeit betreibt. Es gibt natürlich auch eine Zugabe, die aber aus journalistischen Gründen geheim bleiben soll. Jedenfalls war auch dieser Schlusspunkt noch mal Anlass für stürmischen Applaus. Der Abend hätte noch länger als zweieinhalb Stunden dauern können, aber Alfons geht schließlich mit einen entschuldigenden Wort von der Bühne, welches alles erklärt, und seine kabarettistische Sicht auf Deutschland zusammenfasst: "Vorschrift!". Alfons, komm bald wieder...


Spruch des Abends

"Ich weiß nicht, warum in Deutschland die Mauer gebaut wurde. Eine rote Ampel hätte doch auch gereicht". Alfons


Fazit

Humorvoller Sympathieträger mit analytischem Blick


Sendeplatz-Kritiken und letzte Gelegenheiten


Alfons wies in seinem Programm "Mein Deutschland" auch auf seine neue Sendung "Puschel-TV" in der ARD hin. Sie läuft erstmalig in der Nacht von Montag zu Dienstag um 0:55 Uhr. Natürlich ist das ein völlig fehlentschiedener Sendeplatz, aber Alfons nimmts mit Humor: "Wenn die Leute am Dienstagmorgen verschlafen zur Arbeit gehen, freue ich mich. Dann haben sie meine Sendung gesehen". In einer Sendeanstalt, bei der Quote mittlerweile wohl mehr zählt als Inhalte, scheint solche Einstellung überlebenswichtig. Alfons kennt den Betrieb nun schon seit zwanzig Jahren, und hat 900 Sendeminuten und damit über 300 Beiträge produziert. Da kann er sich sicher auch mit solch ungünstiger Sendezeit behaupten. Zumal die Zahl seiner Fans ständig wächst.


Schlag Mitternacht ist es am Sonntagabend vorbei. Die Internetabstimmung für den Spiegelzelt-Publikumspreis, die Marlene, endet heute. Wer noch nicht seinen Lieblingskünstler angeklickt hat, müsste es bald tun, damit seine Stimme und Adresse noch in den Preislostopf kommt. Also: Letzte Möglichkeit, das Wahlergebnis zu beeinflussen. Kritiker und Zeltmannschaft sind schon sehr gespannt, wer das Rennen gewinnen wird.



Juni 2011 KLAZZBROTHERS & CUBA PERCUSSION


Klassische Lebensfreude

Eigentlich war es ja naheliegend. Zumindest, wenn man den Ausführungen des Kontrabassisten Kilian Forster glaubt. Mozart muss einfach auf Kuba gewesen sein, so sinnfällig wie das Quintett "Klazzbrothers & Cuba Percussion" diese These unter Beweis stellt. Das restlos ausverkaufte Zelt erwies sich in dieser Richtung auch nicht puristisch, und so erlebte man einen Abend voll musikalischem Feuerwerk, der zu den Besten der diesjährigen Spiegelzeltsaison gehörte.

Das Konzept ist so einfach wie schlüssig: die Musiker verbinden Melodien des unsterblichen Salzburgers mit kraftvollen Latinorhythmen. Diese Idee brachte dem Quintett schon 2006 den "Echo-Klassik", eine der renommiertesten Auszeichnungen der Szene, und den haben sie sich auch weiterhin redlich verdient. Denn die Musiker sind allesamt Meister ihres Instruments, und bringen ihr Crossover-Angebot so locker und spielfreudig an das Publikum, dass man dieser Charme-Offerte schwerlich widerstehen kann.

Es beginnt mit einer Calypsovariante einer der berühmtesten Mozart-Klavierübungsstücke, und mancher wird da an seine frühen Unterrichtsstunden erinnert. Anleihen an den berühmten "Buena Vista Social Club" dürfen natürlich nicht fehlen, und so wird Mozarts "Nachtmusik" zur "Bomba de la noche" und die Variation vom "Türkischen Marsch" noch furioser als das Original. Das "Poema con Cohiba" führt zu einem virtuosen Dialog zwischen Klavier und Kontrabass und lässt genüsslich ein Klarinettenkonzert hervorschimmern.

Ein wenig erinnert das Ganze an die Klassik-Adaptionen von Jaques Loussier, doch hier gerät das Konzept vom wohltemperierten Barjazz zum furiosen Musikspektakel. Der Reiz besteht im Wiedererkennungswert der rhythmisch und harmonisch leicht verfremdeten Mozart-Hits. Das Publikum lässt sich diese Hörschulung sichtlich amüsiert gefallen, und klatscht auch mal spontan, wenn eine bekannte Melodie des Meisters in neuem Gewand von Samba, Rumba oder Mambo erkannt wird. Zudem wird man von Kilian Forster ständig genötigt, Chorusapplaus zu geben. Das ist eigentlich unnötig, ebenso wie die kommerziellen Zwangsofferten, welche es nur CD-Käufern ermöglicht, den perkussiven Spaß mitzumachen, den Schlagzeuger Tim Hahn mit einer Pfefferminzpillendose und klassischem Nachahmungsprinzip im zweiten Teil des Abends zelebriert.

Gekoppelt mit viel Humor und kompositorischer Intelligenz geriert der vierte Satz der g-moll-Sinfonie zum kraftvollen "Afro Timba", und die Themen aus der "Zauberflöte" werden zum jazzrockigen Shuffle verarbeitet. Es macht einfach Spaß, der Band zuzuhören, und eigentlich wäre eine Tanzfläche durchaus angebracht. Und spätestens jetzt ist es an der Zeit, den neuen Pianisten in alle Himmel zu loben. Was Bruno Böhmer Camacho am Klavier leistet, ist einfach sensationell! Mit perlenden Arpeggien, raffinierter Akkordik und hochvirtuosem wie sensiblen Spiel gehört er zu den Besten seines Fachs, und reißt das Zelt zu stetigen Ovationen hin. Selten hat der Kritiker so einen hochbegabten Instrumentalisten auf der Bühne erlebt; der junge Kolumbianer wird sicherlich bald in internationale Spitzenpositionen aufsteigen.

Ihm zur Seite stehen dazu noch zwei perkussive Feuerwerker. Während Alexis Herrera Estevez an Timbales und Maracas für die rhythmische Würze sorgt und sich als virtuoser Kunstpfeifer beweist, steht hinter ihm mit Elio Rodriguez Luis ein Erzkomödiant und trommelnder Derwisch, der mit Stimme und unbändiger Spiellaune einfach jeden anstecken kann. Er tanzt und albert mit überbordenden Temperament hinter seinen Congas, und erweist sich bei seinem Solo als rhythmischer Magier, der seine Hände sehr dynamisch und vielseitig instrumental zu nutzen weiß.

Tim Hahn und Kilian Forster stehen ihren Kollegen in Nichts nach, und so wird aus dem Konglomerat der Musikkulturen ein mitreißender Schmelztiegel, der zum Ende des kurzweiligen Programms auch sinnlich schwingende Frauenhüften hervorzaubert, und das Zelt in einen großen und erfreuten Mitklatschsalon verwandelt. Der Jazzstandard "Summertime" gehört in der Interpretation des Quintetts zum anspruchsvollen Höhepunkt des Konzerts: das Thema wird harmonisch zerpflückt und hinterfragt, dass es fast zur Neuentdeckung wird. Drei Zugaben, darunter ein rasantes Cover von "Jingle Bells" und dem herrlich wehmütigen Klarinettenkonzert beenden einen eruptiven Musikabend, der sicherlich zu den Favoriten dieser Saison gehören wird.


Spruch des Abends

"War Mozart nun wirklich in Kuba?" Kilian Forster


Fazit

Intelligentes Musikfeuerwerk mit fünf humorvollen Virtuosen


Nahrhafte Geschenke und spannende Gerüchteküchen


Wenn ein liebenswerter Gast auch noch genauso heißt, macht ihm Martin Kranz natürlich gerne eine Freude. Frau Gast, welche sonst die Konzert-Kirche in Mühlhausen betreut, konnte in letzter Minute und mit Hilfe des Intendanten noch eine Karte für "Mozart meets Cuba" bekommen, und war darüber so glücklich, dass sie das ganze Team mit Schokolade beschenkte. Eine nette Geste, die aber keine Schule machen sollte, denn bis jetzt ist der Bauch des Kritikers noch ein Alleinstellungsmerkmal.

Wer etwas über neueste Weimarer Entwicklungen und Gerüchte erfahren will, kann im Spiegelzelt immer mal fündig werden. Der Ex-Kulturhauptstadt-General Bernd Kauffmann zeigt sich im fernen Neuhardenberg nicht abgeneigt, die Nachfolge von Märki anzutreten. Bedingung:  er müsste dazu von der Politik gefragt , und nicht in einer Medienkampagne verbrannt werden. Da er ja genügend Theatererfahrung aus seiner Hamburger Zeit aufweisen kann, wäre eine Widerbegegnung mit diesem streitbaren Geist eine kreative Erfrischung für das Kulturstädtchen. Denn die Weimarer wissen ja ihre Helden meist erst nach ihrem Weggang zu schätzen. Insofern wäre Kauffmann durchaus geeignet, und für viele Weimarer ein wirklicher Wunschkandidat...




16. Juni 2011 MATTHIAS EGERSDÖRFER


Kraftvoller Kämpfer im Reich des Alltäglichen – Matthias Egersdörfer

Er biedert sich nicht an. Im Gegenteil. Er lamentiert, sobald er die Bühne betritt. Matthias Egersdörfer ist fränkisches Urgestein. Seine Bühnenfigur verkörpert rebellischen Kleingeist, der an den Tücken des Alltags schon deshalb scheitert, weil es alles hinterfragt und in seinen Denk-Kosmos einzupassen sucht. Aus der Sicht des bodenständigen Grantlers sind schon Königsberger Klopse und schulische Ausbildung erbarmungslose Angriffe auf sein gefestigtes Weltbild, welche es abzuwehren gilt. Diese absurde Konfliktüberhöhung, gekoppelt mit verquerer Logik macht Egersdörfer so spannend, so komisch, so einzigartig.

Seine sonore und genau kalkulierte Stimme signalisiert einen Getriebenen, der ständig unter Druck steht, und mit dem man sich besser nicht anlegt. Selbst wenn er, was selten geschieht, auch mal gute Laune haben sollte. Diesen Prototyp bringt Egersdörfer so authentisch rüber, dass er sich damit ein gewichtiges Alleinstellungsmerkmal in der Kabarettszene sichert.

Natürlich gibt es auch Geistesverwandtschaften. Gerhart Polt oder Emil Steinberger wären Adressen, und ebenso lugt ab und zu der verschmitzte Geist eines Ludwig Thoma heraus. Egersdörfer produziert keine schenkelklopfenden Lacher, der  überwiegend schwarze Humor entwickelt sich leise und unwiderstehlich. Seine Bühnenpräsenz ist absolut, und er nimmt das Publikum sogar Maß, wenn es an den falschen Stellen lacht. Das kann ins Auge gehen, besonders wenn er den Hauptsponsor des Zelts genüsslich vorführt. Als ein paar Regentropfen auf die Bühne fallen, stichelt er prompt: „ Ist das Köstritzer, was da runtertropft?“, und nachdem er es dann noch als Mädchenbier geißelt, reagiert ein anwesender Manager der Firma ziemlich laut und düpiert. Später wird er dann souverän ein Glas des Gebräus auf dem Bühnentisch servieren. In solchen Szenen dokumentiert sich der Fluch der Authentizität: das Publikum kann nicht immer zwischen Figur und Realem unterscheiden. Egersdörfer nutzt diese Unsicherheit, und provoziert damit auf sehr intelligente Weise.

Die Struktur des Abends mit dem Titel „Ich mein’s doch nur gut“, ist einfach zu fassen. Entweder erzählt Egersdörfer Geschichten, oder er liest sie vor. Sein Klassenkamerad Friedrich Priestownik, der schon bei der Einschulung „Rotz und Wasser“ heult, wird für ihn dadurch zur kindlichen Kassandra. Die Hilfe seiner Mutter zeigt, dass Tumorandeutungen durchaus hilfreich bei Zeugnissen sein können. Erste Zirkuserlebnisse weisen erstaunliche Parallelen zu Gottesdiensten auf, und wenn ältere Damen ihn ansprechen, kann das zu verschiedensten Reaktionsmustern führen. Auch wenn seine Geschichten kaum in Schlusspointen enden, ist die erzählerische Entwicklung absurd und umwerfend komisch; das ganze Programm bietet auch immer wieder überraschende und witzige Querverweise auf Figuren oder Anekdoten. Wenn er die Vorteile von Bahn- und Autofahrt aufrechnet, möchte man ihm im Abteil lieber nicht begegnen; seine respektlose Bibelgeschichte zeigt Jesus als nervenden Besserwisser, der seine Strafe verdient hat, und wenn er Frauen vor der Entscheidung zwischen Jean-Claude und Rulf schildert, karikiert er den Grat zwischen Anspruchsdenken und Anpassung überaus treffend.

Fast unmerklich, ähnlich wie Malmsheimer und „Fonsi“, attackiert Egersdörfer den Zeitgeist, und findet durchaus aktuelle Bezüge zu Nahrungsmittelskandalen oder Männertagsprügeleien in Rostock. Aber er verpackt seine Kritik an Gleichschaltungsversuchen („Sonnenschirme malen) und staatlichen Eingriffen in demokratische Freiheiten („Rauchverbote“) so geschickt und lebensnah, dass erst die spätere Reflektion die tiefere Ebene seiner Geschichten erkennen lässt.

Natürlich gibt es auch die ungehemmte Blödelei: wenn er den Unterschied zwischen Popeln und „Puppeln“ erläutert, das Verhältnis des Brezelmanns zum Zugbegleiter analysiert, oder seine Philosophie des „Yogaschwimmens“ ausbreitet. Abschließender Höhepunkt ist die Geschichte der Honigbiene Gundel, welche irgendwann unvermeidlich im Rachen des schwimmenden Erzählers landet. Und dies auch wieder die typische Egersdörfer-Konstruktion: es beginnt als harmlose Alltagsepisode oder Idylle, und endet in der persönlichen Katastrophe, welche meist noch sprachdynamisch untermalt wird. Auch hier zeigt sich das außergewöhnlich professionelle Handwerk des Künstlers in Sprachgestaltung und Text.

Das Publikum reagiert amüsiert und relativ verhalten, was aber in der Natur des Auftritts liegt. Egersdörfer ist kein oberflächlicher Amüsierer, seine Performance ist nicht auf schnelle Lacher ausgerichtet. Trotzdem gibt es die verdiente Zugabe, bei welcher der Vollblutkomödiant über Föhnfrottetaschen und die Existenz-Ursache von Fünf-Cent-Münzen philosophiert. So endet ein ungewöhnlicher, aber exzellenter  Donnerstagabend im Spiegelzelt, der jährliche Gastspiele Egersdörfers an diesem Ort fast zwingend empfiehlt. Eines ist sicher: der Mann gehört in jedem Falle in der Szene zur „Kategorie A“, auch wenn ihm der kleine Geist in einer seiner Geschichten etwas anderes einreden möchte. Oder ist Egerdörfer selbst ein virtuoser, anarchischer Teufel? Egal: Großes Bravo!

 

Spruch des Abends

„Hölle ist mit Sardellen“. Matthias Egersdörfer über seine kulinarischen Erwartungen vor dem Himmelstor

Fazit

Origineller Humor von einem kultverdächtigem Original

 

Die guten Seelen (4)

In dieser kleinen Rubrik möchte ich Ihnen Menschen vorstellen, welche durch ihr Engagement das Spiegelzelt liebenswert gestalten. Heute: Daniel Schilling (35)

 

Welchen Beruf hast Du außerhalb des Spiegelzelts?

Ich bin leidenschaftlicher Koch, und arbeite fast ausschließlich für das Team von „Montag-Catering“.

Was ist deine Aufgabe im Spiegelzelt?

Ich bin der Küchenchef des Spiegelzelts, und trage außerdem Verantwortung für die Bestellungen und Speisekarten.

Was macht dir hier am meisten Spaß?

Für mich ist es seit den vier Jahren, in denen ich hier arbeite die spannendste und erfüllendste Aufgabe, in den zwei Stunden vor den Auftritten so viele und qualitativ hochwertige Essen zu organisieren. Denn  wir sind ja „nur“ ein Zelt auf einer Wiese. Deswegen fordert mich auch die Logistik: ich muss kalkuliert für einen Tag einkaufen.

Welcher Abend hat Dir bis jetzt am besten gefallen?

Jan Plewka mit seinen Rio-Reiser-Konzert war genau nach meinem Geschmack.

Und dein nettestes Zelterlebnis?

Vor vier Jahren haben wir abends mit Tim Fischer nach seinem Konzert noch ein Bierchen getrunken. Das ist wirklich ein toller Typ. Und ich habe mich vor zwei Wochen über Andreas Rebers gefreut, weil der mein „Hammersteak“ sogar auf der Bühne gelobt hat. 



15. JUNI 2011 REINHOLD BECKMANN


Der Ableser - eine Oberflächenerkundung mit Reinhold Beckmann

Vielleicht wollte er sich einen Traum erfüllen. Seinem Schlagzeugerfreund Helge Zumdieck einen Gefallen tun. Oder seine Medienpräsenz um eine Facette erweitern. Aber einen richtig überzeugenden Grund, den Fernsehmoderator Reinhold Beckmann singen zu hören, gibt es eigentlich nicht.

Sicher, das Zelt war am Mittwochabendganz gut gefüllt. Das ist seiner Popularität geschuldet, und der regelmäßigen Talkshow-Arbeit, welche ihn bei vielen zum Sympathieträger macht. Und so ist das Publikum erwartungsfroh. Denn es ist der Plan des Abends, nicht enttäuscht zu werden, doch geht das leider nicht, wie erwartet, auf. Denn Beckmann ist erstmals auf Konzert-Bühnen, und zum Proben ist er nicht ernsthaft gekommen. Deshalb wirkt sein mittlerweile neunter Auftritt mit "...verrenkter Geist, verrenkte Glieder..." zwar freundlich, aber unsicher. Doch das ist nicht das Hauptproblem des Abends. Beckmann kann intonationsrein singen, und stellenweise sogar vokal gestalten, aber seine Stimme trägt nicht immer über die Begleitband, und ist nicht so markant, dass sie beeindruckt. Eher ist man gehalten, ihn in der Vielseitigkeit seiner gesamten medialen Erscheinung zu achten, und seine Akustikgitarre bedient er gut. Aber ein großer Sänger und Entertainer ist er eben nicht.

Beckmann posiert pausenlos, er will einen lockeren Alltagsphilosophen darstellen, und endet dabei in Oberlehrerlyrik. Denn sein bestenfalls als solide einzustufendes musikalisches Talent koppelt er mit solch oberflächlichen Texten, dass dieser Abend für mich zum ersten wirklichen Flop dieser Spiegelzeltsaison wird.

Das geht schon bei der Themenwahl los. "Nichts ist mehr so, wie es früher war", klingt nach ganz frühem Grönemeyer, ist aber nur eine platte Schlagzeilenkritik. Dann geht es um Männerträume, wie der von Charlotte hinter der Fleischtheke oder nächtliche Ersterfahrungen in Bremen. Meist ist das Vokabular aber einfach abgedroschen, und wirkt wie ein bemühtes Reimlexikon mit Altherren-Witzeinschlag. Das klingt bitter und ätzend, aber leider ist an dem Beckmann-Konzert nichts Tiefgründiges zu finden. Der Sänger beschwört seine Balladen als stille Momente, aber ebendiese macht er durch seine Texte kaputt. "Wenn die Dunkelheit nicht endet", ist so ein gut gemeinter Fall, bei dem er den schwer depressiven Freund besingt, aber mit Worthülsen nur gediegenes Pathos vermittelt: "Alles, was ich von dir weiß, gleitet stumm durch meine Hände".

Auch die großen Lieben sind bei Beckmanns Songs eher in Poesiealben-Nähe ("Du warst mein Komet, um den sich alles dreht"), und da bleiben nicht nur die Zeitformen, sondern auch die wahre Poesie auf der Strecke. Da hat man im Zelt bei "Maybebop", Ringsgwandl, Tim Fischer oder vor allem Lars Reichow einfach um Längen Besseres gehört.

Der Abend wäre also fast ein kompletter Reinfall geworden, wenn Beckmann nicht diese fantastische Band im Hintergrund hätte. Jan-Peter Klöpfel brilliert mit rauchiger Miles-Davis-Trompete und klug gesetzten Klaviereinschüben. Helge Zumdieck an Schlagzeug und Akkordeon sowie Kontrabassist Thomas Biller sorgen für dynamische und kreative Grundlage. Gitarrist Dominik Pobot ist virtuose Extraklasse bei Akustik- und Elektrovarianten, und weiß ein Flageolett wirklich lyrisch zu spielen. Zwischen Latinorhythmen, kraftvollen Reggeaes und intelligenten Radiopop bedienen sie den Frontmann nach besten Kräften, und das ist als großes Kompliment gemeint.

Und so wird die Sammlung von textlichen Allgemeinplätzen unterhaltsam und bedingt erträglich, und Schwungnummern wie der "Hypochondersong" oder "Das Beste kommt noch" geraten zu Mitsing- und Mitklatscharenen. Denn eine freundliche Bitte will das Publikum nicht abschlagen, schließlich steht ihr Held auf der Bühne und gibt sich Mühe. Auch wenn er selbst die Conferencen abliest, und sich bei dem a-cappella dominierten Song "Plauderton" fast ein klassisches Eigentor schießt. Letztlich ergattert Beckmann noch drei verdiente Zugaben, und ist dabei auf der Bühne durchaus sympathisch. Aber eben nicht authentisch. Und so empfiehlt der Kritiker wohlgemeint, dass der Moderationsschuster Reinhold Beckmann wohl doch eher bei seinen professionellen Leisten bleiben sollte. Aber wenn es ihm halt Spaß macht, wird er sicher auch ein Publikum finden. Die Geschmäcker sind halt verschieden...


Spruch des Abends

"Ich will endlich mal wieder einen handgeschriebenen Brief bekommen". Reinhold Beckmann


Fazit

Tolle Band, sympathischer Beckmann, aber platte Texte.


Datumsfehler und Votingstatistiken


Da hat eine DNT-Schauspielerin aber richtig Pech gehabt. Freudig hatte sie eine Karte für "Annamateur" im Spiegelzelt ergattert, um dann festzustellen, dass sie um einen Monat zu spät kam.  So ertrug sie das Beckmann-Konzert mit Fassung, teilte dem Kritiker aber in der Pause ihre Enttäuschung mit. Und falls ihr das ein Trost sein sollte: geteiltes Leid ist halbes Leid...

Gestern kamen erste Zahlen vom "Marlene-Voting. Es zeichnet sich schon ein Favorit ab, aber viele Besucher warten wahrscheinlich noch bis zum Ende der Saison. So sei allen Zeltgästen bis spätestens zum 19 Juni 2011 angetragen, von ihrem Stimmrecht im Internet (also hier unten im Blog) Gebrauch zu machen. Schließlich honoriert das auch noch mal die Leistung der Künstler und es winkt ein attraktiver Hauptgewinn.




14. Juni 2011 KIERAN GOSS


Ein sanfter Magier von Weltklasseformat

Ein Mann, seine Stimme und seine Gitarre: dies sind die Zutaten, welche den Dienstagabend im Spielzelt so zauberhaft machen. Der irische Songwriter Kieran Goss bescherte dem halb gefüllten Ort ein Konzert der Extraklasse.

Der Weimarer Lokalsender "Radio Lotte" hatte zur Charity-Lounge geladen, und es ist vor allem dem unermüdlichen Wirbeln des Freizeit-Impresarios Dirk Böttcher zu danken, dass dieser heimliche Star verpflichtet werden konnte. Zuvor gab es, dem Anlass entsprechend, ein paar motivierende Worte der neuen "Lotte"-Programmdirektorin Sonja Hartmann, die sicher gut gemeint waren, dann aber doch stellenweise unfreiwillig komisch wirkten. "Schieben sie den Vorhang ihrer Pupillen lautlos auf", war eine dieser obskuren Aufforderungen, bis dann Kieran Goss zum Zuge kam.

Fast schüchtern steht er mit umgehängter Akustikgitarre auf der Bühne, und sobald er sich damit begleitet und singt, denkt man unwillkürlich an große Stars wie Leonard Cohen oder James Taylor. Und im nächsten Moment wundert man sich, warum der Ire solchen Popularitätsstatus noch nicht erreicht hat, denn er ist diesen Größen absolut ebenbürtig. Seine sanfte und innige Stimme, das harmonisch pfiffige Spiel und die stetige Aufeinanderfolge von seinen eigenkomponierten Hits ziehen das Publikum von Anfang an in den Bann. Seine Bescheidenheit spiegelt sich auch in den Conferencen, indem er sehr humorvoll und in deutscher Sprache seine Erfolge und Misserfolge völlig uneitel präsentiert. Er spricht von seiner großen Familie; ist das zehnte von fünfzehn Kindern, und seine Geschwister sind mittlerweile in der ganzen Welt verstreut. Dieses Verlassensein thematisiert er in seiner Lieblingsballade "Reason to leave", und wenn dann hinter ihm im perfekten Licht von Jens Voigtländer das irische Kleeblatt hervorschimmert, ist dies einer der vielen magischen Momente des Abends.

Kieran Goss bewahrt seinen Kompositionen große Eigenständigkeit, und entspricht so gar nicht den gängigen Inselklischees. Seine musikalischen Wurzeln verortet man eher in den Weiten Amerikas, und dessen großen Folktraditionen. Allerdings wird das von Goss intelligent und modern gespiegelt, und das hat ihm in seiner Heimat schon längst den Starplatz gesichert. Hier harrt er noch der Entdeckung, und hätte deshalb mit seinem Konzept auch sehr gut in das reguläre Spiegelzeltprogramm gepasst.

Als im zweiten Teil seine Frau Anne Kinsley bei drei Titeln mitsingt, und beide Vollblutmusiker vor allem bei der Ballade "Dont ask me to be friends" mit ihrer Wärme und Synchronität überzeugen, sind die Herzen des Zeltpublikums schon längst nachhaltig erobert. Mit dem Oldie-Cover "Reach out" fordert Goss das Auditorium beim Konzertabschluss zum Mitsingen auf, und dieser Offerte kommt das Zeltrund bereitwillig nach. Die Bühne hat Weltklasse der seltenen Art erlebt, und folgerichtig gibt es auch Zugaben. Goss beschließt den Abend mit einer großen Verneigung vor seinem Kollegen James Taylor und dessen Hit "You've got a friend" und mit einem wohligen Gänsehautgefühl weiß man kaum, ob man einfach heulen, oder heftig applaudieren soll. Das Publikum entscheidet sich für Zweiteres. "Weimar ist ein Ort der Geschichten", hat Sonja Hartmann eingangs konstatiert. Dieses Gastspiel von Kieran Goss gehört zu den Besten der Sammlung.

Am 17. September gastiert der Sänger, diesmal mit kleiner Band, wieder im "Schießhaus". Das wird dann sein sechster Weimarauftritt sein, und der Kritiker prophezeit eine exponential wachsende Fangemeinde. Die "Lotte"-Loungegäste werden sicher fast komplett dazugehören, und ein neuer Zelttermin steht nicht nur auf meiner Wunschliste. Vielleicht im Duo mit James Taylor? Man wird ja zumindest noch träumen dürfen...


Spruch des Abends

"Ich will dieses Zelt mieten und in Irland da drin Konzerte machen". Kieran Goss


Fazit

Ein sanfter Weltstar überzeugt mit einfachsten Mitteln.




13. Juni 2011 TOSCA-LIVEÜBERTRAGUNG


Ein Abend der großen Gefühle

Im Endeffekt hat alles geklappt. Das Publikum war fasziniert, die Stadtkulturdirektorin Julia Miehe glücklich und die fleißigen Techniker von Lichthaus und Zelt wieder entspannt. Die Live-Satellitenübertragung der Oper "Tosca" aus dem wunderschönen modernen Opernhaus in Valencia war in Weimar ein voller Erfolg. Fünfzig europäische Städte hatten sich an der Ausstrahlung beteiligt. In Deutschland konnte man das Opernereignis nur noch in Ahrenshoop verfolgen.

Die kostenlos ausgegebenen Karten waren schon im Vorfeld eine halbe Stunde später vergriffen; man sah im Publikum edle Kleidung und viele Opernfans. Und es gab diese magischen Momente nicht nur auf der Leinwand. Als sich um halb neun die Abendsonne im Zelt rötlich-orange spiegelte, und die Zuschauer mucksmäuschenstill dem Leinwandgeschehen folgten, konnte man den kulturellen Geist spüren, der in Weimar oftmals inflationär beschworen wird.

Zubin Mehta stand bei dieser Produktion am Dirigentenpult in Valencia, und viele hatten den Meister noch aus dem Kulturstadtjahr mit seiner Mahler-Aufführung in Tiefurt in angenehmster Erinnerung. Nun also Puccinis leidenschaftliche Oper, und die kam sehr stimmgewaltig herüber. Der ausgefeilte Sound trug mit zu diesem romantischen Ereignis bei, welches große Gefühle und musikalische Leidenschaft authentisch erleben ließ. Oksana Dyka brillierte als Tosca zwischen großer Liebe und tödlichem Gewissenskonflikt. Dramaturgischer Kunstgriff der Inszenierung unter der Regie von Helga Schmidt war das anfängliche Videoeinspiel, welches Toscas Sprung in den Tod andeutet.

Das klar strukturierte und multifunktionale Bühnenbild von Jean-Louis Grinda füllte die monumentale Bühne ebenso sinnfällig wie beeindruckend, und ließ den Sängern für ihre Bewegungen weiten Raum. Jorge de León als Cavaradossi bekam in Valencia schon nach seiner ersten Arie für seine tenorale Leistung verdienten Applaus, und das setzte sich bei allen sängerischen Highlights der Inszenierung fort. Bryan Terfel gab den Scarpia so kraftvoll dämonisch, dass selbst kleinste Gesten wie das kalkulierte Löschen einer Kerze bei seinen Annäherungsversuchen fast filmisches Format hatten.

So war der frenetische Applaus am Ende dieses europäischen Leistungsprojektes mehr als verdient.  Dafür blieb es im Zelt bis auf einige schüchterne Klatscher achtungsvoll still, denn es ist eben ungewohnt, Ovationen gegen ein Leinwand zu senden. Trotzdem fand der Pfingstmontag so ein sehr ansprechendes Ende, zumal er sehr beeindruckend und abseits heutiger Diskussionen über Eurohilfen, den europäischen Gedanken präsentierte.


Fazit

Ein großer Abend für das Zelt und die Opernwelt.


Bewundernswerte Kondition und große Schweißtropfen


Tim Fischer, der am Pfingstsonntag umjubelt im Zelt gastierte, scheint eiserne Kondition zu besitzen. So erzählte Zeltgastronom Torsten Montag stolz, dass Fischer nach dem Konzert noch in die Villa Haar eilte, um dort einem befreundeten Hochzeitspaar ein privates Ständchen zu bringen. Und Montag, der Fan von Fischer und Betreiber der Villa ist, freute das natürlich gleich doppelt.

Der Pfingstmontagmorgen zauberte Dirk Heinje vom Lichthaus-Kino, Stadtkulturdirektorin Julia Miehe und Zelt-Produktionsleiter Kristjan Schmitt tennisballgroße Schweißperlen auf die Stirnen. Denn man hatte schon früh um sieben Uhr aufgebaut, um das zwei Stunden später angekündigte Testsignal für die Übertragung aus Valencia zu empfangen. Aber das Signal kam nicht zu erwarteter Zeit. Allerdings war das den Tücken der Sommerzeit und den Zeitzonen geschuldet. Denn die Spanier sendeten erst elf Uhr hiesiger Ortszeit, und so kam die Übertragung trotz dieses Übermittlungsfehlers dann doch sicher zustande...



12. Juni 2011 TIM FISCHER


Verwandlung und Hingabe


Tim Fischer kann mit Fug und Recht als Stammgast im Spiegelzelt bezeichnet werden. Und nach Bekunden des Intendanten Martin Kranz ist er jedes Mal noch besser geworden. Am Pfingstsonntag widmet sich Fischer einer zu Lebzeiten oft verkannten Chansonette. Und schon nach den ersten Minuten ist dem ausverkaufte Zelt klar: für die nächsten zwei Stunden wird er Hildegard Knef sein. Gesten, Stimme, Timbre und Haltung der vielseitigen Künstlerin, die im vorigem Jahr 85 Jahre geworden wäre, imitiert er so perfekt und magisch, dass man an Reinkarnation glauben könnte.

Fischer betont anfangs, dass er die lyrische Seite der Knef zeigen wolle. Das gelingt ihm auf überzeugende Weise, indem er sich komplett auf ihre Texte konzentriert, und die originalen Melodien übernimmt. Verblüffend ist dabei, wie viel man von der Knef damals überhört hat. Denn ihre Lyrik ist weise und erreicht oftmals das Format eines Christian Morgenstern oder Kurt Tucholsky.

So kann sich Fischer aus einem reichhaltigen Fundus bedienen. Da gibt es die melancholischen Balladen ("Ich bin zu müde, um schlafen zu gehen"), die romantische Beschwörung ("Vergessner Sommerhut im Gras"), die genaue und erbarmungslose Beobachtung ("Der Mann, die Frau, das Mädchen") die altersweise Mahnung ("Hör nicht auf mich") sowie witzige Couplets von Fischen und Schnecken. Ein Kabinettstückchen wird der rasante "Fragebogen"" der ein wenig an Fritz Reutters kabarettistisches Schaffen anlehnt.

Natürlich hat sich Tim Fischer wieder exzellente Musiker mitgebracht. Sein langjähriger Pianist Rüdiger Mühleisen ist wieder mit von der Partie, dazu Sebastian Selke am Cello und Ralf Templin mit der Akustikgitarre. Das Trio zeigt in Virtuosität und Professionalität auf, was intelligente und kreative Begleitung ausmacht. Denn die Musiker bleiben im Hintergrund, interpretieren die Knefschen Chansons stilistisch perfekt, und dienen leise, aber markant dem Focus, in dem Tim Fischer selbstredend steht. Sänger und Band bilden eine sinnliche Verschmelzung, und so ist es folgerichtig eine der schönsten Gesten des Abends, wenn Fischer nach dem letztem Titel des Konzerts zunächst im Off verschwindet, um den Instrumentalisten zuerst den verdienten und frenetischen Applaus zu gönnen.

Natürlich bleibt Tim Fischer das Zentrum des Bühnengeschehens, und er stellt erneut interpretatorische Intelligenz unter Beweis. Denn die kluge Auswahl  des  Œvres der Diva, schafft der Knef einen würdigeren Platz im kollektiven nationalen Bewusstsein. Das ist sein Verdienst, und macht das Konzert zu einem weiteren Highlight der diesjährigen Spiegelzeltsaison.

Natürlich regnen auch rote Rosen, und es geht "von nun an bergab", aber der Abend ist eben keine Hitliste, sondern die respektvolle Sichtung einer Ausnahmekünstlerin. Deswegen verzichtet Fischer auch auf Kostümierung. In schlichten Schwarz, und nach der Pause in adäquater weißer Entsprechung mit Hemd und Hose, zeigt der geniale Chansonnier, dass intelligente Künstler trotz Rollenspiel keine große Requisite benötigen. Aber wer Fischer kennt, weiß, dass das zu erwarten war, schließlich ist er einer der Größten in der Szene.

Irgendwann in seinem Programm singt er den Refrain "Das Glück kennt nur Minuten, der Rest ist Warteraum." Das Glück, ihn zu erleben, hält zwei Stunden plus Zugaben an. Bravo!


Spruch des Abends

"Damen sind Frauen, die es Männern leicht machen, Herren zu sein". Tim Fischer zitiert Hilde Knef


Fazit

Intelligente und faszinierende Wiederentdeckung einer vielseitigen Künstlerin


Aufbauarbeit, Spendenaufruf und unverhofftes Wiedersehen


Der Pfingstmontag ist für die Zeltcrew und das Lichthaus ein anstrengender Feiertag. Schon nach dem Fischerkonzert begann der Aufbau einer Hängekonstruktion für den Beamer. Das Gerät mit einer Lichtleistung von 6000 Ansilumen (dies als Information für die Technikfreaks), dient der Übertragung der "Tosca"-Inszenierung aus Valencia, und wird auf eine 3 mal 5 Meter große Leinwand strahlen.

Doch die Elektronik hält noch weitere Zitterpartien bereit, verrät mir Produktionsleiter Kristjan Schmitt. Denn am Montag wird ab sieben Uhr morgens die Satellitentechnik aufgebaut, welche dann zwei Stunden später kurz ein Testsignal empfangen kann. Danach gibt es erst abends wieder Empfangsmöglichkeiten. Doch wenn eventuelle Sonneneruptionen ins Haus stehen sollten, wäre die Verbindung unterbrochen, und die Leinwand bliebe leer. Allerdings steckt Schmitt solche apokalyptischen Szenarien lieber in seinen Hinterkopf. Denn Optimismus ist bei diesem allseits geschätzen Zeltarbeiter oberstes Produktionsprinzip. Und bis jetzt hat ja auch alles hervorragend geklappt.

Tim Fischer forderte zum Schluss seines Konzert engagiert Spenden für ein Hospizprojekt in Zimbabwe, welches Aidskranke im Endstadium begleitet. Musiker und Sänger sammelten in Sektkübeln für den guten Zweck, und es kam eine erkleckliche Summe zusammen. Wer Näheres dazu, beipielsweise Weimars Stand im Spendenranking wissen will, sollte folgende Website besuchen: www.songsagainstaids.de

Unverhoffte und herzliche Wiederbegegnung mit einem alten Musikerfreund bescherte dem Kritiker der Sonntagabend: Ralf Templin hatte ich seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen. Ich war damals großer Fan der Berliner Fusionjazzband "Flair", und Templin war dort der Gitarrist. Gute Leute haben auch heute viel zu tun, und so ist Templin nicht nur einer von Fischers sensiblen Begleitern, sondern mischt unter Anderem auch aktiv beim Lindenberg-Musical mit. Solche ungeplanten Begegnungen mit Künstlern sind für mich die Würze des Spiegelzeltalltags. Und damit steht der Kritiker nicht alleine...




11. Juni 2011 HABANOT NECHAMA


Ein Frauenpower-Dreigestirn


Drei schöne Frauen sitzen auf der Bühne. Dahinter stehen zwei Tische mit Getränken und Percussionsinstrumenten. Es ist fast eine Wohnzimmeratmosphäre, welche "HaBanot Nechama" im samstäglichen Spiegelzelt verbreitet. Denn das Trio war schon einmal in diesem Rund, und setzt auf diese Erstbegegnung. Im vorigen Jahr begeisterten die Damen aus Israel das Rudolstädter Folkfest, und so war es erwartbar, dass sie vor ausverkauftem Spiegelzelt spielen können.

"HaBanot Nechama" bedeutet Trostfrauen, und musikalisch ist das ein durchaus berechtigtes Etikett. Das Konzept erinnert stark an die Flower-Power-Bewegung, und lehnt sich an die Songwritertradition von Bob Dylan, Joan Baez oder Simon&Garfunkel an. Markenzeichen des Ensembles ist der dreistimmige Satzgesang, welcher wie aus einem einstimmigen Guss zu hören sein wird. Ansonsten begleiten sich Yael Deckelbaum, Dana Adini und Karolina Avratz auf Akustikgitarren, und bedienen mit Schellen, Tambourinen und Glöckchen viele kleine Percussioninstrumente.

Die musikalische Bandbreite reicht von jiddischen und gälischen Weisen über Country-Folklore bis zum kraftvollen Reggeae. Harmonisch ist das Ganze eher schlicht und herkömmlich, aber solide begleitet. Der Reiz liegt in den ausgefeilten Satzgesängen, welche die drei Vokalistinnen über ostinate Begleitriffs legen. Während Yael Deckelbaum sehr stark der amerikanischen Folktradition einer Suzanne Vega verhaftet ist, erinnern Dana Adinis Songs stark an neuere Songwriter wie Tori Amos. Karolina Avratz gibt dagegen die humorvolle Wunderblume, die sowohl im Blues, im Soul als auch im Traditional heimisch ist.

Und so singt das Trio von enttäuschten Lieben, unerfüllten Sehnsüchten und den Alltagsspielarten der Partnerschaft, und spendet damit Trost, sofern man sprachbegabt ist. Denn darin liegt das große Manko des Abends: es gibt keinerlei moderierende Hilfestellung bei den Texten. "HaBanot Nechama" setzt offensichtlich voraus, dass das Publikum die Landessprache des Trios oder das Englische beherrscht, und damit ist ein Großteil des Publikums von den Botschaften ausgeschlossen. Das wirkt ein wenig arrogant, wie auch die dezente Nörgelei mit dem Tontechniker. Da hat man auf der Spiegelzeltbühne schon publikumsfreundlichere und souveränere Künstler erlebt.

Und so bleibt die Sprache der Musik, und da ist die Band durchaus überzeugend. Ein Großteil des Programms speist sich aus dem Material der vor zwei Jahren erschienen Debüt-CD, und da sind eine Menge Hits drauf: die innigen Balladen "I love you" und "Bo'ee", der rhythmisch treibende Ohrwurm "Hakol Kashura" sowie der kraftvolle Reggeae "Ever", bei dem das Trio zum Mitsingen und Klatschen im Stehen fordert.

Es ist durchaus mitreißend und sängerisch virtuos, was da im Block für rund zwei Stunden das Publikum fesselt, und so sind die zwei Zugaben, zu denen die poetisch-malancholische Ballade "So far/Lihiot" gehört, durchaus berechtigt.  Aber es ist auch zu konstatieren, dass dies trotz frenetischer Applausbekundungen bis jetzt der kürzeste Spiegelzeltabend war. Und das erzeugt beim Kritiker, den das musikalische Angebot durchaus überzeugen konnte, doch eher gedämpfte Begeisterung.


Spruch des Abends

"The rain makes me feel like a flower. But I am a tree." Karolina Avratz von "HaBanot Nechama" kommentiert selbstironisch den einsetzenden Regen


Fazit

Musikalisch überzeugend, aber ansonsten wenig kommunikativ.




10. Juni 2011 MAYBEBOP


Humorvolles Sangeskraftpaket


Das Spiegelzelt tobt. Und das zu Recht: Denn was das Quartett "Maybebop" am Freitagabend bot, war eine mitreißende A-cappella-Show der Spitzenklasse. Zelt-Stammgäste hatten diese Überraschung schon im vorigen Jahr zur Eröffnung erlebt, doch nun gibt es das neue Programm "Extrem nah dran", und das vermag das Letzte noch zu toppen.

Los geht es mit einer witzigen Einspielcollage, bei der Besucher ihre Motivation ihres Konzertbesuchs bei "Maybebop" erklären. Dann tanzen Jan Bürger, Sebastian Schröder, Lukas Teske und Oliver Gies auf die Bühne und erobern schon mit dem titelgebenden Eingangssong das ausverkaufte Rund. Perfekt durchchoreografiert, musikalisch und stimmlich auf internationalem Spitzenniveau und dazu mit viel Humor gespickt, finden die Sänger den punktgenauen Spagat zwischen leichter Unterhaltung und professionellem Anspruch. Die Rollen sind klar verteilt: Lukas, der Benjamin, klärt erst einmal, dass er "kein Mann für eine Nacht" ist. Bassist Sebastian gibt den Anarchisten, und klärt im Stile russischer Chorhymnen über "German Angst" auf. Gigolo Jan lässt das Publikum mit seinem gelispelten "Fpaniff"  vor Lachen fast vom Stuhl fallen, und der Intellektuelle Oliver gibt bei einem Halbstriptease und dem "Panzerfahrn" den verhinderten Macho.

Alle Vier unterstützen sich in den originellen Arrangements, die trotz hohem Schwierigkeitsgrad sehr eingängig sind. Mit tänzerischer Leichtigkeit meistern sie mittels homogenem Klang die selbstgestellten Parcours und agieren lautmalerisch und durch Scatgesang wie ein kleines Orchester. Da sitzt jeder Ton, jede Bewegung, jede Ansage, und trotzdem wirkt das Ganze weder steril, noch aufgesetzt. "Maybebop" behauptet sich in einer Szene, welche durch Platzhirsche wie "Basta" oder "Ganz schön feist" oder die "Prinzen" dominiert wird, derart souverän, dass sie für mich zweifelsfrei den Spitzenplatz im deutschen A-capella-Gesang erobert haben. Das stellt das Quartett vor allem bei den Medleys unter Beweis. Sie covern Hits des Genres wie "Only you" von den "Flying Pickets" oder Bobby McFerrins "Dont worry" mit solcher Eleganz und Perfektion, dass ihre Vorbilder ebenbürtig werden. Dieser Effekt wiederholt sich ebenso überzeugend bei einem Ausflug in Popgefilde, welche die Musiker und Komödianten geprägt haben. Atemberaubend im Tempo, und mitreißend im Schwung, werden alte Hits neu entdeckt, oder klassische Ohrwürmer wie Bachs "Air" oder "Der König von Thule" stimmig und magisch aufgeladen interpretiert. Dabei kennt das Quartett keine Genregrenzen, wechselt souverän vom Madrigal zum Swing oder vom Rap zum Modern Jazz. Oliver Gies setzt mit seinen Scat-Improvisationen meist dem Ensembleklang noch einen faszinierenden Part drauf. Er ist auch für einen Großteil der Kompositionen und Arrangements verantwortlich.

Sanfte und sparsame elektronische Effekte geben dem Gruppensound partiell noch ein paar Farbtupfer, doch beweist sich das Quartett auch unplugged mit einem madrigalem Liebeslied und der letzten Zugabe: dem Sandmännchen. Eigenkompositionen mit witzigen Texten dominieren das Konzept, dass mit den Stimmen und Conferencen der fantastischen Vier zur unverwechselbaren Eigenständigkeit erwächst. Da gibt es ein Volksliederquiz mit Publikumsbeteiligung, einen philosophischen Exkurs, der in einer klugen Lebensweisheit mündet und das herrlich blödelige "Vogellied" welches die "Straußigall" kreiert. Das Zelt ist pausenlos aufs Beste unterhalten, und schmettert bei Aufforderungen von der Bühne kraftvoll mit. Glanzpunkt des kurzweiligen Abends ist eine Art publikumsbestimmtes Improvisationstheater, welches aus Schlagwörtern und vorgeschlagenen Musikgenres das spontane Können von "Maybebop" schlagend unter Beweis stellt. Auch der furiose "Bebop-Butzemann" ist ein Kabinettstückchen, das Kinderlied mit swingendem Jazz vereint. Nach den drei Zugaben, zu denen eine lyrische und intensive Interpretation der "Engel" von "Rammstein" gehört, muss das Quartett sich seinen Abgang erzwingen. Sonst hätte das Publikum wahrscheinlich durch frenetischem Applaus mit Füßen und Händen noch bis in die Morgenstunden die Sangeskünste der Akteure gefordert. Grandios, und nächstes Jahr unbedingt wieder. Denn dieses Programm kann man glatt noch einmal mit Genuss hören. Bis dahin tröstet die CD.


Spruch des Abends

"So spielt das Leben, mal bist du der Hund, mal der Baum." Jan Bürger von "Maybebop"


Fazit

Die Besten ihrer Klasse mit hohem Unterhaltungswert und Suchtcharakter. Auch schwer marleneverdächtig.



Sanfter Sänger und Kleidungsfrage

Die Frauen werden dahinschmelzen. So prophezeit es nicht nur der Kritiker, denn am kommenden Dienstag, den 14. Juni, wird der irische Sänger und Songwriter Kieran Goss das Spiegelzelt beehren. Im Rahmen der vom Lokalsender "Radio Lotte" veranstalteten "Charity Lounge" konnten die engagierten Rundfunkmacher diesen heimlichen Star für diese Zusatzveranstaltung ergattern. Aber auch für männliches Zielpublikum sollte meine unbedingte Empfehlung gelten. Wenn ihnen die Musik wirklich nicht gefallen sollte, können sie ja die Frauen in den Arm nehmen...

"Maybebop"-Stimmbassist Sebastian Schröder fiel bei seinem Auftritt durch ein ausgefallenes Outfit auf: blaue Hose, weißes Hemd mit dünnem roten Schlips, und ein marineblaues Jackett mit scheinbar royalem Aufnäher. Dazu graue Turnschuhe. Später erläuterte der Sänger, dass seine Kleidungswahl Jetset-Wurzeln hat. Er frönt nämlich dem "Saint-Tropez-Style". Dass da mal kein Sozialneid aufkommt...



9. Juni 2011 DAVID ORLOWSKI TRIO


Federleichter Sommerabend-Soundtrack - das David Orlowski Trio

Man hört nebenbei die Vögel singen, und später wird ein Feuerwerk das Konzert untermalen. Sanft finden Klarinette, Kontrabass und Gitarre zueinander und entwickeln mit konzentrierter Intensität ihr Zusammenspiel. Das David-Orlowski-Trio zählt trotz diverser Preise, wie dem Klassik-Echo, noch zu den Geheimtipps, was auch das mäßig gefüllte Spiegelzelt bewies. Das kammermusikalische Konzept, welches Klezmer- und osteuropäische Folklorekulturen einbezieht, baut auf Melodiosität und eingängige Rhythmik.

David Orlowski spielt seine Klarinette so innig und gleichzeitig furios, dass es einer menschlichen Sanglichkeit durchaus entspricht. Ihm zur Seite steht an der Akustikgitarre Jens Uwe Popp, der sowohl im Akkordischem, als auch bei solistischen Linien sein Instrument souverän und kreativ beherrscht. Dritter im Bunde ist der Kontrabassist Florian Dohrmann. Er sorgt für den polyrhythmischen Schwung und bedient mit schnellen und präzisen Basslinien dynamisch konzentriert seine Kollegen.

Der Reiz des Trios beim Konzert am Donnerstag liegt in der Intensität der Musik, welche sich überwiegend im geringen Dezibelbereich abspielt. Das zwingt einerseits zum konzentrierten Hören, andererseits lässt es viel Spielraum für boleroartige Steigerungen. Die Eigenkompositionen der drei Virtuosen beschreiben alltägliche Glücksgefühle ("Aer"), erlebte Landschaften ("Durch Nacht und Wind") oder sinnliche Stoffe ("Satin") oder toben sich in jiddischen Tanzwelten aus ("Heyser Bulgar").

Dabei schafft es das Trio nicht immer, einer gewissen Einförmigkeit zu entgehen, sodass die durch Orlowski moderierten Beschreibungen der Titel oftmals gleiche kompositorische Strukturen, die stark dem gängigem Klezmer verpflichtet sind, aufweisen. Das tut aber dem lyrischen Ambiente des Abends kaum Abbruch, und so präsentieren die Musiker auf hohem Genreniveau den Soundtrack für einen lauschigen Sommerabend.

Manchmal schimmert bei den Ansagen Orlowskis oder der Komposition "Goldfinger" auch ein sympathischer, leiser Humor durch, und das wird vom Publikum dankbar goutiert. Es ist ein sehr spezielles musikalisches Segment, welches hier seine begeisterte Fangemeinde findet, aber wer sich auf dieses Trio einlässt, wird mit sanfter, entspannender Melodik entlohnt. Drei furiose Zugaben beenden den Zeltabend, und entlassen das Auditorium mit federleichten Füßen.


Spruch des Abends

"Es macht Spaß, unsere Musik zu spielen". David Orlowski, als er die käuflichen Notationen des Trios empfiehlt


Fazit

Federleichte Kammermusik für ein klezmeraffines Publikum


Die guten Seelen (3)

In dieser kleinen Rubrik möchte ich Ihnen Menschen vorstellen, welche durch ihr Engagement das Spiegelzelt liebenswert gestalten. Heute: Conrad Hoffmann (42)

Welchen Beruf hast Du außerhalb des Spiegelzelts?

Ich bin Einzelhändler und betreibe in der Marktstraße in Weimar das kleine "Trödel- und Antikcafé". Außerdem spiele ich Bass bei der Band "Die Art" und singe und spiele im Duo "Behringsee".

Was ist deine Aufgabe im Spiegelzelt?

Ich arbeite als Einlasser und packe ansonsten überall im Zelt mit an.

Was macht dir hier am meisten Spaß?

Ich genieße es, nach den Auftritten abends im Zelt mit den Kollegen zusammenzusitzen, die Künstler noch von einer privaten Seite kennenzulernen und ein Bierchen zu trinken.

Welcher Abend hat Dir bis jetzt am besten gefallen?

Außer von Malmsheimer war ich auch vom "Ray Collins' Hot Club" begeistert.

Und dein nettestes Zelterlebnis?

Ich bin jetzt seit sechs Jahren im Zelt beschäftigt. Fast jeden Abend kommt eine alte Oma, und bringt einen kleinen Begrüßungsschnaps mit. Und sie verabschiedet sich mit den Worten: "Hoffentlich sehen wir uns das nächste Mal wieder". Und ich hoffe dann immer, dass der Spruch keine Hoffnung bleibt. Und das nicht nur wegen des Schnapses...




8. Juni 2011 JOCHEN MALMSHEIMER


Die hohe Kunst von Stimme und Sprache - Jochen Malmsheimer


Es gibt Menschen, die betreten die Bühne, fangen an zu sprechen, und der Raum ist erfüllt. Die Magie ihrer Diktion und Stimmlage fängt das Publikum ein, und man bleibt versessen, sie weiter reden zu hören. Dies, gepaart mit Witz, Intelligenz und aufrechtem Engagement ist Jochen Malmsheimer. Er selbst definiert sein Programm mit dem rätselhaften Titel: "Flieg Fisch, lies und gesunde! oder: Glück, wo ist Dein Stachel?!" als episches Kabarett, aber es ist viel mehr, was das ausverkaufte Zelt am Mittwochabend erleben kann.

Malmsheimer ist eine Urgewalt. Schon wenn er anfangs die Struktur des Abends und die Folgen noch aktivierter Mobiltelefone beschwört, bleibt im Auditorium kein Auge trocken, und gleichzeitig bekommt man einen Heidenrespekt vor der dynamischen Sprachgewalt des Meisters. Gäbe es den Begriff "Rampensau" noch nicht, müsste er für Malmsheimer erfunden werden, und dies ist im positivsten Sinne gemeint. Denn der Vollblutkomödiant dient ausschließlich seinem Text, und frönt keiner Eitelkeit. Das macht seine schauspielerische Lesung so faszinierend.

Malmsheimer beobachtet mit gnadenlosen Blick das Verhalten von Zoobesuchern und "Peripheriemenschen", wünscht sich mit stimmlichem Donnergrollen das wahre Wurstbrot und schildert hochdramatisch und in klassischer Versform den Mann vor dem Spiegel und seine Altersängste ("der silberne Gast"). Atemberaubend schnell, sprachakrobatisch formuliert und perfekt im schauspielerischen Gestus geraten seine Exkurse zu Kabinettstückchen originellen Humors. Der Zuhörer ist beständig gefordert, doch ist es ein geistiger Hochgenuss, Malmsheiners Erzählungen zu folgen.

Denn der grandiose Schauspieler hat zudem etwas, was auf den Bühnen selten geworden ist: eine Haltung. Wenn er kurz das Verhältnis Klarsfeld-Kiesinger im Fokus seiner jugendlichen Erfahrung schildert, dann merkt man, wie politisch klar dieser Mime denkt. Sein hauptsächliches Angriffsziel ist der oberflächliche Zeitgeist. So fordert er beispielsweise das Radio in den ursprünglichen Sendeauftrag zurück und geißelt deshalb brillant und zwerchfellerschütternd Expertenshows mit Hörerbeteiligung. Langweilige Reisetagebücher und beige Einheitskleidung bei Senioren werden ebenso zum Ziel seines Spotts wie tiefe Provinzialität in Salzgitter-Ringelheim. Letzteres führt ihn dann in antike Gefilde und liefert absurde Antwort auf museale Fragen.

Malmsheimer belehrt sein Publikum scharfzüngig und ohne Bevormundung über Genreunterschiede ("Cabaret ist das mit den Strapsen!") und Sitten im Theater, und er fährt bissig das elitäre Weimar auf seine Substanz zurück: "Weimar ist die Wiege des deutschen Geistes, aber eben nur die Wiege". Das ist herzerfrischend, kraftvoll und urkomisch. Deswegen erntet der ehemalige Buchhändler mit der Statur eines Hufschmieds oftmals frenetischen Zwischenapplaus, denn er geht in seinem Auftritt authentisch und bezwingend auf. Natürlich wird auch das Rätsel des Programmtitels vor und in der Zugabe gelöst, und weist damit den literarisch versierten Bildungsbürger Malmsheimer aus. Wobei der Bürger nur bedingt zutrifft, denn in seiner Seele schlummert auch ein unbedingter Anarchist, der in seiner medienbekannten Rolle als Hausmeister in der Kabarettsendung "Neues aus der Anstalt" nur mühsam bezwungen wird.

Seine eigenverfasste und pointierte Textauswahl endet mit einer kenntnisreichen Hommage an die Welt der Bücher. Nach dem hinreißendem Plädoyer an Gebundenes folgt eine Geschichte, die in ihrer Verbindung von Poesie und Humor seinesgleichen sucht. Und hier ist ein Kern von Malmsheimers Botschaft fundamentiert: der Sieg des Geistes und die Beschwörung hoher Werte. Denn sein misanthropischer Gestus verbirgt einen Moralisten mit starkem Rückgrat und eine Bühnenpersönlichkeit, die sich aus innerer Überzeugung speist. Insofern zählt Malmsheimer zu dem Kostbarsten, was deutsche Kabarettbühne aktuell zu bieten hat. Und deswegen ist seine jährliche Wiederkehr im Spiegelzelt so gut wie gewiss und zwingend angebracht.


Spruch des Tages

"Mint ist nur ein grünes Beige". Jochen Malmsheimer


Fazit

Anspruchsvolle Sprachmagier, gepaart mit Witz und Haltung. Stark Marleneverdächtig.


Die guten Seelen (2)

In dieser kleinen Rubrik möchte ich Ihnen Menschen vorstellen, welche durch ihr Engagement das Spiegelzelt liebenswert gestalten. Heute: Torsten Montag (50).

Welchen Beruf hast Du außerhalb des Spiegelzelts?

Ich leite eine eigene Firma als selbständiger Caterer.

Was ist deine Aufgabe im Spiegelzelt?

Ich bin der Gastronom im Spiegelzelt. Mindestens 30 Mitarbeiter führe ich in der Saison täglich in ihrem abendlichen Einsatz.

Was macht dir hier am meisten Spaß?

Zunächst die Herausforderung, hier individuelle Gastronomiekonzepte umzusetzen. Im Grunde genommen erkennen die Besucher das Spiegelzelt mittlerweile wie ein gut geführtes Familienrestaurant an. Ich kann experimentieren, und das Angebot erweitern. So gibt es in diesem Jahr beispielsweise zusätzlich Eis und frische Brezeln. Und bei jedem Künstler findet man neben der Hauptkarte ein auf den Abend speziell zugeschnittenes Zusatzangebot.

Was sind die meistbestellten Gerichte der Speisekarte?

Wir haben in diesem Jahr mit großem Erfolg mit asiatischer Küche erweitert. "Renner" sind momentan die Wokhähnchenpfanne und Mixgetränke mit Bionade.

Welcher Abend hat Dir bis jetzt am besten gefallen?

Außer vom heutigen Malmsheimer bin ich nach wie vor von "Malediva" begeistert.

Und dein nettestes Zelterlebnis?

Als in den Anfangszeiten meines Zeltengagements Alfred Biolek anlässlich seines Auftritts unsere Küche besuchte. Natürlich war ich aufgeregt, aber das Lob eines solchen Experten, was umgehend erfolgte, ist natürlich doppelter Ansporn.






7. Juni 2011 VENSKE & BUSSE


Routiniert, schwarzhumorig, vorhersehbar - das Duo Venske und Busse


Zwei alte Hasen treffen sich im Wartezimmer. Die Rollen sind dem Publikum sattsam vertraut: der Eine ein brummelnder Weltverbesserer, der Andere ein kalauernder Verteidiger. Was das Duo Henning Venske und Jochen Busse am Dienstagabend im Spiegelzelt bot, war weniger Kabarett denn perfektes Boulevardtheater. Die beiden Hauptdarsteller haben ihr Handwerk gründlich gelernt. Venske war lange kabarettistische nordische Hauptattraktion der alten Schule, während Busse seinen Herrenwitz im Privatfernsehen austobte.

Das ist schon länger her, und Busse betont an einer Stelle des Programms "Inventur", dass ihm zehn Jahre RTL nicht seine Würde genommen hätten. Das scheint ihm wichtig zu sein, denn Busse auf seine Spielmeistertätigkeit bei "Sieben Tage, sieben Köpfe" zu reduzieren, wäre doch sehr ungerecht. Aber er wird die Rolle nicht mehr los, weil dieser Gestus sein Personalstil ist: diese nachdrückliche Diktion des Sprechens und dieser große Hang zum Schmierentheater.

Venske agiert verhaltener, denn der große Kasper an seiner Seite braucht ja einen Widerpart. Insofern funktioniert das Duo perfekt. Venske ist eher der verschmitzte Grantler, der an den Weltläuften verzweifelt, und eigentlich nur Bestätigung für seinen Pessimismus sucht.

Beide sind knallharte Profis, da sitzt jeder Gang, jede Bewegung der Stühle und jede Pointe. Insofern ist ihr Programm eine Lehrstunde in schauspielerischem Können und kollektivem Spiel. Perfekt durchinszeniert und mit vielen erwartbaren Entwicklungen wird hier eigentlich Theater zelebriert, dass ab und zu in politische Gefilde driftet.

Und da liegt das Problem des Abends. Denn die Betrachtung der deutschen Politiklandschaft versinkt in Klischees und abgestandenen Witzen. Zwar kommen Freunde des schwarzen Humors reichlich auf ihre Kosten, etwa bei der Organabgabepflicht für Hartz-Empfänger oder der Terrorwarnung aus dem Emsland. Die Aussagen der FDP werden zum running gag, und andere Parteien bekommen paritätisch ihre Breitseiten ab. ("Der Blackout hat bei den Unionsparteien Tradition") Venske wartet, dass die UNO den Vatikan schließt, während Busse immer mal Apolda-Bashing betreibt. Und so gibt es viele Lacher auf Kosten anderer: "Gäbe es in Deutschland Burkapflicht, wäre die Kässmann nicht erwischt worden".

Dass Vattenfall Ikea-Reaktoren liefert, die mit Imbusschlüssel verschraubt werden, ist noch lustiges Schwedenklischee. Doch Sarrazin als geistig minderbemittelt zu stempeln, ist dann doch zu platt, ebenso wie Künast auf ihre Frisur zu reduzieren. Das ist einfach nur dumpfe Comedy, und da beide Rampensäue betonen, dass sie Kabarettisten seien, eigentlich an diesem Abend obsolet.

Vernetzte Haushaltsgeräte und ungebrauchte Organe des Papstes, die Jammermentalität der vielen Melkkühe unserer Nation sowie Politiker-Plattitüden gehören zum Themenspektrum des Abends, der durchaus unterhaltsam, aber kaum überraschend wird.

Wäre da nicht Frank Grischek, der Akkordeonist. Virtuos beherrscht er sein Instrument, und spielt furiose Interpretationen von Tango bis Klassik von Brahms, Mozart und Händel. Stoisch erträgt er die inszenierten Angriffe der Platzhirsche und gibt den Pausenmusiker. Das ist programmatisch klug gesetzt, und so fliegen ihm in seiner Verlierer-Rolle die Sympathien des Publikums zu.

Letzendlich gibt es herzlichen Applaus und keine Zugabe. Und die Erkenntnis, das große Namen ab und zu auch nur solides Wasser kochen. Und manchmal dadurch auch allzu abgebrüht sind.


Spruch des Abends

"Fernsehen macht blöde ist falsch. Blöde machen Fernsehen!" Venske und Busse


Fazit

Perfekt inszenierter und gespielter Politboulevard


Kartenausverkauf und Publikumsempfehlungen


Die "Tosca"-Übertragung am Pfingsmontag im Spiegelzelt ist  schon im Vorfeld der Renner der Saison geworden. Innerhalb einer halben Stunde waren alle Karten, welche die Stadtinformation kostenlos verteilte, restlos vergriffen. Wollen wir hoffen, dass nicht nur die Schnäppchenjäger unterwegs waren, und die Opernfreunde in den Genuss kommen.

Neue Erfahrung für den Kritiker: diesmal bekommt er etwas von den Gästen an seinem Tisch empfohlen. "Maybebop" gastierte nämlich gestern schon bei einem privaten Firmenjubiläum im Zelt, wozu meine Nachbarn geladen waren. Kritiker-Vorfreude ist also angesagt.




5. Juni 2011 FLORIAN SCHROEDER


Frisches und intelligentes Kabarett

Er kommt jung, gutaussehend, dynamisch wie ein angrifflustiger Boxer auf die Bühne. Und er teilt zunächst einmal scharfzüngig und tagespolitisch aktuell aus:  zum Kachelmanns Freispruch ("Die Gurke des Fernsehens, unschuldig aber mit fadem Nachgeschmack"), seinen Vorteilen ("Alice Schwarzer, der Yuppiehesters des Feminismus, hält endlich wieder die Klappe") und zum Kirchentag ("Kirchentag mit EHEC heißt Gottvertrauen"). Schnell und pointiert geht Florian Schroeder offensiv auf sein Publikum zu, und erobert es in Sturm. Das liegt vor allem daran, dass er seine eigene Branche treffsicher refektiert und karikiert. Das tut er mit intelligentem Wortwitz und durchdachten Parodien, und unterscheidet sich damit wohltuend von platten Comedians a la Matze Knop. Denn Schroeder hinterfragt Systeme statt Äußerlichkeiten, und kreiert damit eine neue, und erfrischende Form des Kabaretts. Zwar bewegt er sich in gewohnten Themenkreisen, aber er stößt auch schnell und überzeugend auf neues Terrain: Grüne Selbstbefindlichkeiten nach der Baden-Württemberg-Wahl ("Die Grünen kaufen auf dem Gemüsemarkt, und holen sich damit das Dorf zurück, dass sie früher verlassen haben") und vor allem die unpolitische und netzabhängige Haltung seiner Generation: "Wir werden alles glauben, solange es richtig designt ist."

Und so bekommen Apple-Jünger (der Kritiker bekennt hiermit, zu dieser Gruppe zu gehören), und windige Unternehmensberater gekonnte Breitseiten. Schroeder verquickt einfallsreich und witzig das Zeitgeschehen, schlägt beispielsweise Gaddafi als neuen "Gorch Fock"-Kapitän vor, und weiß, warum Bin Laden so schnell gefunden wurde: er war Sony-Playstation-Kunde. Er geißelt das "Powerpointprekariat" und rechnet erbarmungslos Facebook-Praktiken und hochtrabende englische Berufsbezeichnungen auf das herunter, was sie oftmals sind: Bauernfängerei.

Schroeder bringt dem begeisterten Publikum anspruchsvolle und geistreiche Unterhaltung, und er biedert sich nicht an. Im Gegenteil, er fordert sein Auditorium auf der Bühne, indem er seine Reaktionen begutachtet. So beginnt der zweite Teil mit einer Art Auswertung des ersten Programmteils, bis er dann authentisch und wahnsinnig komisch von seinen Erfahrungen mit örtlichen Veranstaltern erzählt. Er persifliert die "Abonnentengrundhaltung", parodiert passgenau Mario Barth, geht spontan auf die Goethefixierung Weimars ein, und läuft zu Höchstform auf, als er Fernsehformate wie 9live-Rateshows und "Ottis Schlachthof" aufs Korn nimmt. Jenseits von persönlichen Eitelkeiten mimt er die Marotten seiner Kollegen zwerchfellerschütternd und bissig nach, und entlarvt damit, aus eigenen Erfahrungen gespeist, Mechanismen des medialen Betriebs. Zum Ende seines Programms "Du willst es doch auch" legt Schroeder noch einem drauf, indem er in einer Art Coaching-Persiflage sein Publikum schwer verunsichert, als er die Institution Ehe angreift, und zu sofortigen Scheidungen rät. Diese Irritation ist gewollt und zeichnet den Kabarettisten umso mehr aus. Denn Schroeder will kein alleswissender Verkündiger sein, sondern sein Publikum wirklich zum Denken anregen. Abschließend beantwortet er als Zugabe auch Publikumsfragen, bevor er Oettinger im Originaltext entlarvt.

Mit Florian Schroeder strahlt ein neuer Stern am deutschen Kabaretthimmel, und den verehrte das Zelt am Sonntagabend mit frenetischem Applaus. Bravo!


Spruch des Abends

"Meine Generation fährt permanent mit Vollgas im Leerlauf." Florian Schroeder


Fazit

Frisches und durchdachtes Spitzenkabarett


Kabarettkenner und Autogrammjägerinnen


Schroeder stellt dem Publikum in seinem Programm viele Fragen. Der Weimarer EDV-Supporter Andreas erriet ein Matthias-Deutschmann-Zitat, und wies sich damit als profunder Kabarettkenner aus. Doch Wissen ist nicht immer nützlich, Andreas musste sich dann auch noch pointierte Fragen zu seinem Berufsalltag gefallen lassen. Aber der Weimarer ertrug die Tiraden mit Humor und Gelassenheit. Und wies sich damit als würdiger Vertreter unseres Kulturstädtchens aus.

Schroeder offerierte zur Zugabe, dass er auch Autogrammkarten kostenlos verteilen würde. Schnell und freundlich signierte er für die vielen Frauen, die sich an seinem Tisch sammelten. Ein Beweis, dass gutes Aussehen bei Kabarettisten keinesfalls schadet.



4. Juni 2011 ANDREAS REBERS


Der Wanderprediger Andreas Rebers und seine Botschaft

Er kommt diesmal als Prediger, aber er ist immer noch der alte Hausmeister. Und er erklärt wieder die Welt mit seinen Mitteln, und diese Mittel sind meist rabiat, außerhalb politischer Korrektheit und gnadenlos witzig. Andreas Rebers gehört zu dem Besten, was deutsches Kabarett zu bieten hat, und das Spiegelzelt kann sich auf die Fahnen schreiben, ihn bei seinem Aufstieg begleitet zu haben. Deswegen wird der Samstagabend quasi zum Heimspiel, denn wer Rebers einmal gesehen hat, wird süchtig. Und um es gleich vorwegzunehmen: es wird eines der besten Programme dieser Spiegelzeltsaison.

Rebers baut diesmal auf seine schlesische Herkunft, und versucht das Publikum sogleich in seine neue Religionsgemeinschaft, die Bitokken, einzubinden. Das Sammelbecken von "Teilzeitmoslems und Ein-Euro-Christen" bietet 36 Arbeitstage und Rabbiner-Schweinebraten sowie Kassler-Couscous bei den Gottesdiensten. Und selbstverständlich ist Rebers der neue Messias der Bewegung, der in salbungsvollem Ton Bibelzitate rezitiert und seine weltpolitischen Ansichten gleich mit als Credo verkauft.

Der Alltag des Predigers ist allerdings schwierig, denn Sabine Hammer, seine ökologisch korrekte Nachbarin ist wieder mit im Erzählboot. Und da ein Feindbild des engagierten Hausmeisters nun mal die Grünen sind, scheitern die Schlichtungsgespräche schon an der Essenseinladung. Köstlich, wie Rebers über die Unmöglichkeit von Holzofenbrot und Biowildlachs referiert, bis Frau Hammer "mit den Füßen scharrt". Doch die alleinerziehende Mutter mit dem "Hammerkind" hat ihre Eigenheiten, die Rebers natürlich bekämpft: Toskanaerweckungen mit Spiegelböden, Pferdekopfgeigen aus der Mongolei oder die fehlende Medienerziehung des Nachwuchses. Da weiß der Hausmeister natürlich Widerstand entgegenzusetzen, und nachdem Frau Hammer vom Elektroauto überfahren wird, nimmt er sich mit Mickymaus-Erziehung und Brachialtaufe des Sprößlings an.

Rebers ist gewiefter Dramaturg, denn seine Geschichten sind intelligent verquickt, und zitieren sich an anderen Stellen des Programms. Das Publikum lacht sich schlapp, als er Zusammenhänge von Lithium-Auto-Akkus zur Pharmazie herstellt, wie er eine neue Grünenhymne schrecklich falsch piepst, und neue Geschäftsideen mit Wasser aus dem Adlon-Hotel entwickelt. Dabei bleibt er permanent politisch, geißelt nebenbei Edellinke wie Wagenknecht und Ernst und ihre Upperclass-Marotten, ungerechte Pfandbonurteile bei Tengelmann und dumme Afrikaklischees.

Wenn Rebers singt, erweist er sich am Keyboard sowohl als kreativer Komponist, als auch als pfiffiger Soundtüftler. Seine Liedbegleitungen sind modern und intelligent arrangiert, und seine Texte sind zwischen herzhafter Blödelei und moralischer Ansprache immer originell. Er besingt Linienrichter und Elektriker sowie Tengelmann-Kassiererinnen, welche nach Herzen fragen. Ein Amoklauf wird bei ihm zur analytischen Medienkritik, und sein Ikonenbild der schlesischen Romantik zum Generalangriff auf katholische Heuchelei. Im Vergleich zum Vorabendprogramm mit Wilfried Schmickler stelle ich verblüfft fest, dass Beide die gleichen Themenkreise behandeln. Doch Rebers macht das eben um Längen besser. Und es gibt diese wunderbaren Sätze wie: "Je sorgfältiger wir planen, um so wirkungsvoller trifft uns der Zufall".

Rebers gelingt die perfekte Verbindung zwischen politischem Anspruch und intelligentem Humor. Wenn er zum Ende seines Programms "Ich regel das", seine Erweckung bei einer Kochsendung offenbart, gibt er dem Nonsenssatz "Die Ente ist weiter" zwerchfellerschütternde Deutungen. Drei furiose Zugaben beenden den  Abend und da hat Rebers wirklich alles gegeben. Das jubelnde Publikum wird sicher schon jetzt fragen, ob dieser geniale Kabarettist wieder ins Zelt kommt. Rebers ist eben in Weimar wirklicher Kult. Das muss man erstmal schaffen!


Spruch des Abends

"Fällt die Kanzlerin vom Traktor, explodiert grad ein Reaktor." Andreas Rebers


Fazit

Spitzenabend und schwer Marlene-verdächtig.


Spezialspeisen und Bühnengeheimnisse

Das hat sich Zeltgastronom Torsten Montag nicht nehmen lassen: das Spezialgericht bei Andreas Rebers war natürlich ein "Hammer-Steak". Das hat den Künstler so amüsiert, dass er das auch ausdrücklich auf der Bühne lobte. Und damit schon wieder Lachsalven erntete.

Zuschauer sind natürlich neugierig, und so fragte man mich in der Pause, was denn da auf Rebers Keyboard für Geräte stehen. Der rechteckige Kasten war eine Beatbox, mit der Rebers seine fantastischen Begleitrhythmen kreiert. Und das Teil, welches wie eine alte Fahrradlampe aussieht, war kein Latsprechermonitor, wie der Kritiker annahm. Es ist eine Uhr.



3. Juni 2011 WILFRIED SCHMICKLER


Sprachakrobat mit klaren Feindbildern - Wilfried Schmickler


Wilfried Schmickler ist ein Pausenloser. Er redet sich am Freitagabend im Spiegelzelt sofort in Rage und macht erstmal einen Rundumschlag in Richtung Merkelmehringuttenberg. Das kommt gut an im vollbesetzten Raum, denn da sagt einer schnell, wo es langgeht. Und es ist auch einfach, mit Vergleichsformulierungen Lacher zu ernten. Schmickler bombardiert mit Wortkaskaden und kommentiert Zeitgeschehen: die unfähigen Politiker, das öde Fernsehprogramm, die technisierte Gesellschaft, die unmoralische Lebensmittelindustrie und die katholische Doppelmoral.

Wer im letzten Jahr keine Zeitung gelesen hat, für den mag Manches neu sein. Aber es gibt ja auch noch die alten rheinischen Feindbilder, wobei Schmickler durchaus auch an die Grünen und den einsamen SPD-Ortsverein austeilt. Zirkus Sarrazin wird ebenso durch das kabarettistische Dorf getrieben wie der Jugendslang und die "Schlagerdudelnudel" Andrea Berg, und das Ganze hat den Charme einer schmissig formulierten Politinformation. Schmickler vermag griffig und schnell zu formulieren, und ist auch durchaus tagesaktuell. Zwischendurch singt er mit rockigem Halbplaybacksound erbauliche Moralismen wie die Wachstumskritik "Weiter", welche seinem aktuellen Programm auch den Namen gibt. Der Stammgast bei den WDR-Mitternachtsspitzen ist Sprachfeuerwerker und Rampensau.

Dem Publikum bleibt nichts übrig, als atemlos zu folgen, denn dass Pointenstakkato lässt keinen Raum zum Innehalten. Sonst würde man schnell bemerken, dass Analyse nicht zu den Stärken Schmicklers gehört. Er doktert sich an Oberflächen ab, und verunglimpft verbal. Heutiges Kabarett ist da schon weiter, erzählt Geschichten und schafft Sinnzusammenhänge plus Erkenntnis. Schmickler dagegen belehrt und setzt auf Schnelligkeit. Manchmal verunglimpft er einfach nur platt, und ist damit nicht allzuweit entfernt von den Seichtigkeiten, die er anprangert.

Trotzdem bekommt er viel Szenenapplaus, denn formulieren kann er wirklich gut. Und das Regenwaldnachwachsbeschleunigungsgesetz ist eine der Wortschöpfungen, die ihm so schnell keiner nachmacht. Sein Plädoyer fürs Rauchen und Genießen spricht aus der Seele, aber es sind eben mehr Bestätigungs- als Denkprozesse, die er auslöst. Launige Sätze wie: "Der Koch geht so lange ins Fernsehen, bis der Zuschauer bricht", oder das beschworene "Kalifat Dütschlünd" sind nicht unoriginell, aber eben auch nicht gerade tiefschürfend. Gegen Ende des Abends gibt es seine Predigt, und man konstatiert, dass sein Programm eigentlich nicht viel Anderes gewesen ist. Die routinierte Zugabe beendet den routinierten Abend, doch die große Begeisterung bleibt aus. Dazu hat man an diesem Ort einfach Besseres gesehen.


Spruch des Abends

"Lieber einen Blender, als gar keine Lichtquelle." Wilfried Schmickler


Fazit

Formulierungskabarett der alten Sorte: routiniert und schnell, aber nicht spannend.



Die guten Seelen (1)

In dieser kleinen Rubrik möchte ich Ihnen Menschen vorstellen, welche durch ihr Engagement das Spiegelzelt liebenswert gestalten. Den Reigen eröffnet Jessica Goldschmidt (24).

Welchen Beruf hast Du außerhalb des Spiegelzelts?

Ich bin Restaurantfachfrau und arbeite sonst in Erfurt. Momentan suche ich eine neue Stelle.

Was ist deine Aufgabe im Spiegelzelt?

Ich bin eine der sechs Stationskellnerinnen. Ich nehme Bestellungen auf und kassiere, und habe dadurch viel Publikumskontakt.

Was macht dir hier am meisten Spaß?

Ich kann hier bei der Arbeit viele Künstler und ihre Programme erleben. Deswegen arbeite ich schon das vierte Jahr hier.

Welcher Abend hat Dir bis jetzt am besten gefallen?

Das war der Tanzabend mit dem "Ray Collins Hot Club". Toll wie die Leute im Zelt abgegangen sind, und die Band war einfach stilecht und klasse.

Und dein nettestes Zelterlebnis?

Dass mich Stammgäste auch nach vier Jahren immer wiedererkennen und sich freundlich nach mir erkundigen.



2. Juni 2011 RINGSGWANDL


Verschmitzt und kaum altersmilde: der leise Spötter Georg Ringsgwandl


Ringsgwandl ist eine bayerische Institution. Deswegen braucht er auch keinen Vornamen mehr. Früher, als alles noch besser, aber auch schon irgendwie schlecht war, ist er als geschminkter Bürgerschreck durch die Säle gezogen, und hat sich nach eigenem Bekunden aufgeführt wie "die Deppen vom MTV", um die Frauen aufzureißen. Er war bissig, unversöhnlich und witzig, und hat sich damit einen großen Fankreis erobert.

Nun also als Vorpremiere sein Programm "Untersendling" am Männertagsabend im Spiegelzelt, und es wird das Beste, was einem an so einem Tag passieren kann. Ringsgwandl ist ruhiger geworden, ebenso verschmitzt wie früher und kein bisschen altersmilde. Er spielt Akustikgitarre und Zither und singt von den kleinen Leuten und Randgruppen, die in dieser kalten Welt bestehen müssen. Anfangs entführt er das achtbar gefüllte Zelt nach Reichenhall, dem "Ort, wo ich aufgewachsen wurde", und erzählt von Kneisels Hinrichtung, einem Randständigen, der "heute vom Sozialbetreuer aufgesucht würde". Und sofort merkt man Ringsgwandls Gespür für Menschen, seine genaue Alltagsanalyse und seinen humorvollen Filter.

Der Barde und Texter ist sowohl genauer Beobachter als auch Zeitzeuge des Zerfalls des "Dahoam" und er wird später davon singen, wie die Einkaufscenter die Metzger und Bäcker vertreiben, und wie hinter Designerwänden das psychische Elend haust. Wenn Ringsgwandl ins Erzählen kommt, dann ist das ein Genuss ihm zuzuhören, denn jede seiner Geschichten entwickelt sich so humorvoll und teilweise absurd, dass die Lachmuskeln der Zuhörer beständig gefordert sind. Wenn er von einer Wurzelsprengung in seiner Jugend erzählt, dann weiss man, warum er nie einen Fernseher gebraucht hat. Und wie schwierig das Parken für ihn in Untersendling, einem Stadtteil Münchens auch sein mag: es springt immerhin noch ein Liebeslied für Vroni, die Politesse raus, und erspart ihm 6000 Euro Gerichtsgeld. Er berichtet von Unglück der Dermatologin, die bei den Haarverpflanzungen nur Oberflächen findet und geißelt die "Wiesngänger" mit seinen Oktoberfest-Impressionen. Er beschwört die alten und wahrhaftigen Werte, ohne in Spießerseligkeit zu verfallen.

Seine neue Band mit Azhar N. Kamal an der E-Gitarre und Mandoline, Kontrabassist Christian Diener sowie Schlagzeuger Bastian Jütte begleitet ihn zuverlässig mit vielen Country und Funkklängen. Das passt gut, denn er singt ja von den kleinen Leuten, und das rückt ihn würdig in die Nähe des altersweisen Johnny Cash. Und auch wenn man sich manchmal musikalisch noch nicht einig ist, wirkt das durchaus sympathisch, und zeigt, wie frisch das Programm noch ist.

Wenn Ringsgwandl sich an seine Zither setzt, dann wird es richtig böse. Der Volksmusikstadl bekommt sarkastisch sein Fett weg, und sein Lied "Feng shui", welches den Zugabenteil beendet, attackiert gekonnt und aberwitzig esoterische Auswüchse.

Viele der Songs sind Wiederbegegnungen mit seinem früheren Schaffen, und er präsentiert das so gekonnt, sympathisch und entspannt, dass der Abend viel zu schnell vergeht. Mit einem begeistert erklatschten Zugabensong bringt er sein Credo auf den Punkt: man kann allen Reichtum anhäufeln, im Angesicht des Todes kannst du "nix mitnehme". Und so liebt ihn das Zeltpublikum trotz seiner "harten Dialektattacken". Nur in Bayern versteht man ihn nicht, sagt er trocken. Und der Schalk blitzt wieder in seinen Augen...


Spruch des Abends

"Anfangs siehst du nur die Brust deiner Mutter, und du denkst: da bleibe ich". Georg Ringsgwandl


Fazit

Weise, witzig, unwiderstehlich: Ringsgwandl ist immer gut gewesen, aber jetzt ist er noch besser.


Gewissensfragen und große Autos


Darf der Kritiker das Zeltpublikum schelten? Die fleißigen, flinken und engagierten Kellnerinnen haben nämlich mit einigen Gästen ein ernstes Problem. Manche verlassen das Zelt nämlich, ohne zu bezahlen. Zwar bewegen sich die Zechpreller noch im geringen Bereich, aber das schmälert dann schon das Trinkgeld, und das haben die netten Damen nicht verdient. Deswegen wäre kollektive Aufmerksamkeit wünschenswert, um den Nassauern ihr böses Spiel zu verderben. Denn die Alternative wäre sofortiges Kassieren, und das würde die Abende ungemütlicher machen. Aber der Kritiker darf das Zeltpublikum auch loben: der weitaus  überwiegende Teil ist ehrlich, und begleicht seine Zeche.

Wer beim Ringsgwandl-Abend in der Tiefgarage parkte, sah sich von lauter Rolls Royce umringt. Nicht, dass das Spiegelzelt ein elitäreres Zielpublikum avisierte, aber im Dorint-Hotel machten die Besitzer für einen Autokorso Rast. Wer das Vergnügen haben will, sich mal in eine der Edelkutschen zu setzen, sollte einfach mal spätabends vor dem Hotel auftauchen. Da stehen die stolzen Besitzer und fachsimpeln, und freuen sich offensichtlich über einheimische Bewunderer. Jedenfalls hat mir eine freundliche Oberbayerin nach dem Konzert einen Platz im Fond angeboten, und da konnte der Kritiker nicht widerstehen. So endete mein Männertag mit einem wahrhaft königlichen Erlebnis.



1. Juni 2011 JAN PLEWKA


Mitreißende Ausnahmezustände - Jan Plewka


"Jan Plewka singt Rio Reiser" steht am Mittwochabend auf dem Programm des Spiegelzelts. Damit wäre eigentlich schon fast alles gesagt. Der Abend ist restlos ausverkauft, denn sowohl der Frontmann von "Selig" als auch die Legende Reiser sorgen für ein sachkundiges Fanpublikum aller Altersgruppen. Zudem wartet das Konzert mit drei Ausnahmezuständen auf: am Eingang wird vor hohen Dezibelwerten gewarnt, Ohrenstöpsel werden bei Bedarf gereicht, und es gibt keine Zwischenpause.

Mit kleiner Verspätung geht es los, und man hört Jan Plewka solo aus dem Off  "Stiller Raum"  singen. Seine Stimme ist charismatisch und rauchig, und fängt die Zuhörer magisch ein. Dann erscheint der Sänger mondän mit weißem Schal und Mantel und begleitet sich auf der Akustikgitarre zu "Ich werde dich lieben", bis seine phantastische Begleitband, die "Schwarz Rote Heilsarme" kraftvoll und funkrockig mit "Mein Name ist Mensch" einsetzt. Der Abend ist perfekt durchchoreografiert, und es werden fast alle großen Reiser-Hits mitreißend interpretiert. Die Bühne bleibt nicht statisch; mal ziehen die fünf Musiker bettelnd durch den Saal, mal erwecken sie Lagerfeuer-Stimmung und das Publikum singt Hausbesetzer-Refrainzeilen wie "Ihr kriegt uns hier nicht raus" dabei gerne und ausdauernd mit.

Der Abend setzt auf Eindrücke und untermalt den Song "Irrenanstalt" mit Beamereinspielen, die Plewka interagierend untermalt. Und dann gibt es natürlich die großen und unvergänglichen Liebeslieder wie "Zauberland" und "Für immer und Dich" und man fühlt schmerzhaft den Verlust und die Lücke, welche der viel zu frühe Tod des genialen Rio Reiser gerissen hat. Diese unbedingte Ehrlichkeit, das unmittelbare Politstatement und der unpathetische Gestus schreiben den Frontmann von "Ton Steine Scherben" berechtigt und dauerhaft in das deutschkollektive Gedächtnis.

Plewka wird in seiner Huldigung von kongenialen Kollegen unterstützt. Marco Schmedtje steht wie ein Fels hinter seiner Gitarre und produziert sowohl eingängige Riffs, als auch kraftvolle Verzerrungen. Bassist Dirk Ritz sorgt für solide und ostinate Basis, und Schlagzeuger Martin Engelbach sorgt souverän und oftmals auch sehr filigran für Wassertropfen-Feuerwerk und Polyrhythmen. König des Rings war für mich allerdings Lieven Brunckhorst. Was dieser Multiinstrumentalist an Klavier, Akkordeon und Saxophon zaubert ist von solch furioser Virtuosität und harmonischer Intelligenz, dass er seinesgleichen in der Szene wohl kaum finden dürfte. Einfallsreich arangiert und mit viel Spaß an der Sache zelebrieren Musiker und Band über zwei Stunden ein Gedächtniskonzert, dass das Zeltpublikum zu frenetischem Applaus verführt und letztlich nicht mehr auf der Bestuhlung hält.

Doch bei aller Begeisterung: Reiser wird verkauft. Wer den Sänger mit seinen Liedern erlebt hat, wie er die Inhalte intensiv herausgeschrieen hat, und mit fast selbstzerstörerischer Hingabe sein Publikum in den Bann zog, der wird keine Berechnungen entdecken können. Plewkas Konzert ist kalkuliert, und das vermeintlich spontane Fangedicht, dass in der Zugabe vertont wird, ist persönliche Inszenierung, und das war Reiser eben weitestgehend fremd. Und wenn bei der Zugabe der "Junimond" als Reggeae erschallt, ist das sicher schmissig und geht ins Tanzbein, aber ist der wunderbaren Melancholie des Textes leider kaum entsprechend.

Trotzdem ist Plewka großes handwerkliches Können und gekonntes Bemühen zu attestieren, und er erliegt nicht der Versuchung, den Meister allzu platt zu kopieren. Deswegen fehlt wohltuend auch der "König von Deutschland" in der Hitsammlung, und das zeugt von ehrlicher Reiserverehrung. Reißer wie "Alles Lüge" und das nochmalige "Der Turm stürzt ein" beenden einen schweißtreibenden und rockigen Ausnahmeabend im Zelt. Und ohne Sperrstundengesetze hätte die Spiellaune der Musiker sicher noch bis in die Morgenstunden gereicht.


Spruch des Abends

"Das ist schon wieder ein völlig anderes Zeltpublikum." Martin Kranz


Fazit

Einfallsreiche und musikalisch hochwertige Heldenverehrung, die noch etwas mehr Seele vertragen könnte.


Anwohnertücken und Empfangsquittungen

"Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben..." heißt es in einem abgedroschenen Schlager, und das gilt auch für das Spiegelzelt. Zum Ende des Reiserabends schaut Martin Kranz doch schon mal auf die Uhr, und verrät mir wehmütig, dass die Musiker gerne noch zwei Stunden Musik aufgelegt hätten. Leider ist das nicht möglich, denn einem medienschaffenden Anwohner ist das Treiben auf dem Beethovenplatz seit Jahren ein zuverlässiger Dorn im Ohr. Man ist hier eben nicht Hamburg, sondern in Weimar. Ob wegen solcher Beschwerden auch mal der Zwiebelmarkt ausfällt?

Post aus Bayern: Die Managerin von "Quadro Nuevo", der Band, welche die diesjährige Spiegelzeltsaison so hinreißend eröffnete, hat mir das Reisebuch "Grand Voyage" gesendet, in dem das Quartett seine Reiseeindrücke und die Entstehungsgeschichte schildert. Reich bebildert ist diese Edition mein tägliches Lesevergnügen. So ehrlich, ungefiltert und authentisch kann man selten von Musikern lesen. Wenn sie ihre Reiseerfahrungen mit Bus "Ferdinand" beschreiben, über merkwürdige Konzerterfahrungen in Politkreisen reflektieren oder über den tragischen Unfall des ehemaligen Gitarristen trauern: man nimmt Anteil und ist gleichzeitig unspektakulär unterhalten. Doch leider hat das Buch, ähnlich dem Konzert eine Nebenwirkung: schwer stillbares Fernweh. Das sollte allerdings von Kauf und Lektüre nicht abhalten...

Quadro Nuevo "Grand Voyage" ISBN 978-3-475-54080-6



29. Mai 2011 GEORG KREISLER UND BARBARA PETERS



Georg Kreisler – eine Legende beehrt erstmalig Weimar


Es schwebt eine Stimmung wie Heldenverehrung im sonntäglichen Zelt, als am Abend Georg Kreisler die Bühne betritt. Der Nestor des deutschsprachigen Kabaretts weilt das erste Mal in Weimar, und solche Ehre wussten die Besucher mit einem ausverkauften Spiegelzelt zu würdigen. Es wird ein Leseabend werden, und das enttäuscht jene, welche Kreislers Chanson-Lizenzplatte noch in DDR-Zeiten erworben haben. Das brillante Klavierspiel wird es an diesem Abend nicht geben, denn der Meister pianiert seit zehn Jahren nicht mehr. Stellt man in Rechnung, dass Kreisler zum Jahrgang 1922 gehört, ist ihm das allerdings verziehen.

Der weise Spötter hat seine Ehefrau Barbara Peters mitgebracht, eine Vollblutschauspielerin, die ihm bei der Lesung ebenbürtig assistiert. Zunächst gibt es Gedichte aus dem Band „Zufällig in San Francisco“. Es sind leise und stellenweise bittere Reflexionen über Kritiker („Der Tausendsassa“), Konsumdenken und gesellschaftliche Fesseln („Wofür sind wir da“). Er grantelt über Dichterkollegen, welche ihrer Kriegsbegeisterung literarisch Ausdruck gaben, und dabei bekommen sogar Größen wie Ludwig Ganghofer, Thomas Mann und Sigmund Freud ihr Fett weg. Zudem gibt es provokante Thesen: „Wie Hitler kamen die Autos über uns.“

Der „Erlkönig“ wird zynisch variiert, doch manchmal gibt es auch kämpferische Ermunterungen („Ich habe eine Faust gefunden.“)

Kreisler formuliert knapp, sarkastisch und präzise seine Wut über Antisemitismus („Er ist ein Wiener, und ein Jud, zusammen ist das tödlich!“) und versucht zu verstehen, warum ein Kriegstreiber wie Henry Kissinger den Friedensnobelpreis bekommen konnte. Mit seiner klaren, knarrenden Stimme und aasigen Wiener Schmäh referiert er über das Wesen von Gedichten, und Barbara Peters interpretiert seine literarischen Streiflichter mit Engagement und Humor.

Manchmal pauschalisiert Kreisler ein wenig, um seine Pointen zu platzieren, aber es überwiegt die leise Melancholie und Resignation, welche den genauen Beobachter der Zeitläufe kennzeichnet. Mit „Anfänge“ wird es dann lustiger. Die Literaturparodien karikieren Krimis, Familienromane und musiktheoretische Ergüsse. Köstlich auch die Vorschläge des Regisseurs an den Intendanten über seine Ideen zu einer Hamlet-Inszenierung. Da bekommt das moderne Autorentheater eine verdiente Breitseite. Auch die bürokratischen Bedenken der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten geißelt Kreisler mit sicherer Feder.

Nach der Pause wird es ein Erinnerungsabend, denn die Beiden lesen Liedtexte Kreislers aus den 50er bis 70er Jahren. Da gibt es dann Wiederbegegnungen mit den vergifteten Tauben, dem brennenden Zirkus, dem „Bluntschli“ und dem „Weihnachtsmann auf der Reeperbahn“; und diese zeigen, dass seine Chansons zeitlose „Everblacks“ sind. Der „Staatsbeamte“ wird die Zeiten im Darm wohl immer überleben, die „Blumengießerin“ immer politikfern bleiben, und wenn die Liebe dick wird, dann ist das nicht nur ein Wohnstandsproblem. Mit „Unheilbar gesund“ beenden Kreisler und Peters den Rückblick. Das Publikum applaudiert frenetisch, aber es bekommt keine Zugabe, und auch das sei dem Meister aus Altersgründen verziehen. Und so werden sich die Zuhörer an die geistreiche und treffende Bilanz des großen österreichischen Kabarettisten erinnern: „In die Wiege und die Bahre müssen wir gelegt werden, und zwischendurch fallen wir immer wieder um“. Eben!


Spruch des Abends

„Wer ein Gedicht schreibt, darf nicht sterben, denn er muss es ständig überarbeiten“. Georg Kreisler


Fazit

Geistreicher Abend, der von vielen Erinnerungen lebt


Entspannte Bayern und ätherische Geheimnisse


Am Samstag füllte Ottfried Fischer mit seinen „Heimatlosen“ das Spiegelzelt, und nach Bekunden der Mannschaft, soll es ein sehr lockerer und entspannter Abend gewesen sein. Dass ist dem verschmitzten Bayern nach der Pressehatz auf ihn und seine Lüste auch wahrlich zu wünschen. Manchmal bedeutet Provinz eben auch Erholung...

Der Spiegelzelt-Intendant gastierte im Radio-Lotte-Talk „Sonntagsfrühstück“ bei Svea Geske und redete über seine Eindrücke der ersten Saisonhälfte. Dabei sprach er auch davon, dass er von einem der Abende wenig angetan war, und das warf natürlich Fragen auf. Geske bohrte nicht nach, aber dem „ Krrrtikrrrtsch“ blieb auf Nachfrage nicht verborgen, welche Künstler Martin Kranz enttäuschten. Wer neugierig ist, kann mich ja in den nächsten Vorstellungspausen befragen...



28. Mai 2011 PIPPO POLLINA


Mitreißende Bilanzen - Pippo Pollina erobert zum zweiten Mal das Zelt


Solch einen Menschen möchte man gerne zum Freund haben. Pippo Pollino ist bescheiden, aufmerksam, poetisch und kreativ. Seine 50 Jahre merkt man ihm nicht an. Es ist selten, dass ein Künstler seine Autobiographieauf der Bühne aufbereitet. Aber Pollina darf das.

Der Liedermacher gastiert zum zweiten Mal im Spiegelzelt und füllt es fast bis auf den letzten Platz. Obwohl er in unseren Breiten noch als Geheimtipp gilt, hat er schon mit vielen Großen der Liedermacherszene zusammengearbeitet, von denen hier wahrscheinlich Konstantin Wecker der Bekannteste sein dürfte.

Pollina begleitet sich selbst an Keyboard und Gitarre, und einmal bearbeitet er auch furios den Tambourin, ein sizialianisches Traditionsinstrument, dass in Deutschland meist "von Turnlehrern missbraucht wird", wie er spöttisch anmerkt. Der Liedermacher mit der betörend rauchigen und sanften Stimme entspricht so gar nicht dem gängigen italienischen Troubadour-Klischee.

Jenseits aller Süßlichkeit und fern der Eitelkeit zeigt hier ein großer Künstler Streiflichter seines abwechslungsreichen Lebens, was ihn von seiner Geburtsstadt Palermo über Wien, Luzern und Amsterdam zu seinem jetzigen Wohnort Zürich führt.

Pollinas Bilanzen sind trunken vor Poesie, wenn er das frühe Fußballspiel mit Freunden und das Ausfliegen der Marienkäfer beschreibt. Er trifft in Amsterdam auf einen musikbegeisterten Fan, der ihm Bleibe und geheime Geschichten bietet, er beschreibt sein Kennenlernen von Konstantin Wecker, und in allem schwingt viel Humor und Lebensweisheit mit. Pollino ist aber auch politisch engagiert. Wenn er seine frühe und stellenweise gefahrvolle Zeitungsarbeit authentisch beschreibt, dann berührt das tief. Zumal in einem Filmeinspiel das letzte Fernsehinterview mit seinem Chefredakteur zu sehen ist, bei dem dieser die Verquickung von Mafia und Politik anprangert, was eine Woche später mit seiner Hinrichtung durch die "Cosa Nostra" endet.

Drei Jahre Straßenmusik führen Pollina durch die Welt, und er lernt viele neue Lieder kennen und schätzen. Leider schätzt nicht jeder Anwalt seine italienischen Coverversionen, und so muss der wunderbare "Rain song" von Led Zeppelin in der Schublade bleiben. Dafür bekommt er von Jaques Brels Witwe grünes Licht, und interpretiert kraftvoll und adäquat das große Chanson "Amsterdam". Zwischendurch liest er immer wieder in symphatischem Deutsch aus seiner Autobiographie "Über die Grenzen trägt uns ein Lied", welche auch seinem Bühnenprogramm den Namen gab. Und er findet solche wunderbaren Sätze wie: "Der Wein soll uns nicht reichen um auf dein Glück zu trinken".

Nicht nur für solche Herzlichkeiten liebt ihn sein Publikum, sondern für die fast unspektakuläre, aber gewinnende Präsentationsart. Begleitet wird Pippolina von dem versierten Saxophonisten und Klarinettisten Roberto Petroli, der den melodiösen und harmonisch anspruchsvollen Kompositionen weitere Tiefe und Leichtigkeit verleiht. Petrolis Sopransaxophon erinnert vom Ton manchmal an den großen Charlie Mariano, und die jazzigen Einsprengsel passen perfekt zu der leisen Melancholie von Pollinas Liedern. Manchmal interagieren die Beiden auch zu Filmeinspielern aus Pollinas Leben. Das aktuelle Projekt des Liedermachers mit einem Züricher Orchester ist in einem Dokumentarfilm verewigt, der in Ausschnitten und im Live-Zusammenspiel mit den Bildern das Programm beschließt.

Es folgen noch drei frenetisch erklatschte Zugaben bei denen das Publikum vergnügt einen kniffligen Ohrwurm pfeift. Schließlich verkündet der stimmlich etwas angeschlagene Barde noch, den tollen Abend nicht ohne ein paar Anmerkungen zu Berlusconi beenden zu können. Und so klagt er das schändliche Wirken des Regierungschefs zunächst gekonnt verbal an, um schließlich mit der großen Protesthymne "Bella ciao" lyrisch zu enden.

Dann weiß das begeisterte Publikum, wo Pippos Herz schlägt, und auch dafür möchte man ihn gerne zum Freund haben.


Spruch des Abends

"Ich bin fast zum Engländer geworden". Pippo Pollina nach gefühlten 50 Liter Tee, um seine Stimme zu heilen.


Fazit

Großartiger und menschlich überzeugender Künster mit Können, Botschaft und Witz


Zeitbestimmungen und Abwesenheitsnotiz

Pippo Pollinas Konzert läutet die zweite Halbzeit der diesjährigen Spiegelzeltsaison ein. und mit der Zwischenbilanz können alle sehr zufrieden sein. Sicher hätte man Reichow und Fonsi ein volleres Zelt gewünscht, aber trotzdem ist die Auslastung schon jetzt mehr als beachtlich. Allerdings ist hier noch mal der Hinweis angebracht, dass es an der Abendkasse bis jetzt an jedem Abend noch Restkarten gegeben hat. Die Weimarer können also ruhig ein bisschen mehr Spontaneität riskieren...

"Otti und die Heimatlosen" müssen am heutigen Samstagabend leider ohne mich auskommen, da den Kritiker einen private Familienfeier ruft. Trotzdem trauere ich dem Termin im Zelt etwas nach. Und ich hoffe, dass sich eine Befürchtung des Veranstalters nicht erfüllt: dass manche Besucher Otto Waalkes erwarten. Denn seinen Otti hat der Ostfriese nun mal nicht alleine gepachtet...



26. Mai 2011 LARS REICHOW


Lars Reichow - ein Magier mit großer Klasse


Da gibt es das Paar, was sich inniglich liebt, jahraus, jahrein, und eines Tages klopft eine Frau an die Tür. Sie heißt Routine, und sie breitet sich aus, bis die Liebe auszieht. Solche Geschichten sind es, die Lars Reichow am Donnerstagabend im Spiegelzelt erzählt, und zeichnen ihn damit als einen der Besten der Branche aus.

Denn der Mainzer beherrscht sowohl die Conference, das Klavierspiel und seine Stimme derart perfekt, dass er Größen wie Wecker souverän in den Schatten stellt. Er nennt sein Programm einen Liederabend, und das ist sowohl treffend, als auch Untertreibung, denn Lars Reichow kann viel mehr. Schon wenn er anfangs sein Publikum interaktiv einbindet und befragt, zieht er das Auditorium mit Intelligenz und dramaturgischem Geschick in den Bann. Und dann singt er über Frauen, und offenbart dabei eine musikalische, kompositorische und textliche Brillanz, dass man ihm nur noch zuhören will. Die weiche, modulationsstarke Soulstimme, die perlenden und virtuosen Arpeggien und die faszinierende Interpretation seiner Songs kommen spielerisch leicht von der Bühne.

Wenn er plaudert, dann erlebt man Humor, gepaart mit Tiefgang. Seine Themen sind nicht abgedroschen, und wenn er sich dem deutschen Spießer und seinem Wesen nähert, dann passiert das immer auf originelle Weise. Etwa, wenn der Weltreisende die Länder anhand der Buffets charakterisiert, wenn die Schönheitschirugie als "Schicksalsmelodie" innere Leere füllen soll, oder die Queen mangels Aufstiegschancen ihre Mundwinkel senkt, dann erkennt das Publikum amüsiert die kluge Analyse, die aus der Banalität eine Weltbetrachtung macht.

Und Reichow packt auch diffizile Themen wie Kirche und Kindesmisshandlung an. Das kommt leise und intensiv, und geht ganz tief an die Seele.

Reichow manipuliert sein Publikum, und er tut das mit perfekter Beherrschung der Mittel. "Weißt du noch" ist da so ein wunderbares Beispiel. Die Ballade thematisiert eine Trennung und die verbundenen Erinnerungen, und in dem Moment der Sentimentalität bricht Reichow das Ganze wieder komisch auf. Das Wechselbad der Gefühle erinnert an Hermann van Veen oder Randy Newman, um nur ein Paar Größen zu nennen. Aber Reichow ist ebenbürtig, denn er hat einen eigenen Stil entwickelt, der das Zelt über zweieinhalb Stunden in Atem hält.

Reichow liebt natürlich auch die Blödelei. "Dicke Deutsche" oder oder die Geschichte mit der Card, welche das Anstehen verhindert, sind Paradebeispiele absurden Humors. Doch sind auch die Albereien nie flach, sondern konfrontieren mit überzogenem Anspruchsdenken und nationaler Großmannssucht. Natürlich gibt es eine Zugabe, und die hat es noch mal in sich. Denn Reichow erklärt die Möglichkeiten bis er mit dem Lied vom Glück das Publikum poetisch beseelt in den Abend entlässt. Ein großartiges Programm, ein großartiger Künstler, der ein volleres Zelt sicher verdient hätte. In Bayern spielt er nur noch vor ausverkauften Sälen. Hier in Weimar muss man erst noch lernen, was man an Reichow hat. Jedenfalls sollte er unbedingt wiederkommen. Bravo!


Spruch des Abends

"Es ist unglaublich, wie sich Weimar seinen Gebäuden angenähert hat." Lars Reichow


Fazit

Weltklasseabend mit einem magischen Star


Das Zelt und die große Oper

Am Pfingstmontag gibt es im Spiegelzelt eine zusätzlich Attraktion: eine "Tosca"- Aufführung mit Starbesetzung und Zubin Mehta am Pult wird live übertragen. Das europäische Highlight wird zudem für die Besucher kostenlos sein. Auf großer Leinwand wird die Oper im Zelt unter erfahrener Beteiligung von Lichthausbetreiber Dirk Heinje übertragen. Um den Besucherstrom zu steuern, wird es eine Woche vorher, am 6. Juni in der Weimarer Touristinformation Karten geben. Kritiker und Martin Kranz sind schon voller Vorfreude...



25. Mai 2011 GABI DECKER


Gabi Decker – Powerfrau und Rampensau

Ja, das Rollenspiel, das liegt ihr, und gut singen kann sie auch. Das Spiegelzelt ist auch an ihrem zweiten Auftrittstag am Mittwoch gut gefüllt, und Gabi Decker gibt den Leuten, was sie haben wollen: Amüsement, ein wenig Lebensweisheit und volle Zote. Schon wenn sie eingangs die martialische Krankenschwester mimt, zeigt das die Stärke und Schwäche des Programms. Sie kann darstellen und ist wandelbare Rampensau. Ihr macht das sichtlich Spaß, die Leute zum Lachen zu bringen, doch leider sind die Mittel dazu doch recht vorhersehbar.

Viele lockere Sprüche reihen sich aneinander („Rosetten gehören nicht vergoldet, sondern ans Revers“), und Decker geht in ihren persönlichen Conferencen locker auf das Publikum zu. Doch große Bühne ist das eben nicht. Eher so ein Abend mit Fips-Asmussen-Touch, und ein bisschen Desiree-Nick-Flair ist auch dabei.

So redet Gabi Decker über die „Analität des Alltags“, doubelt ZZ-Top und singt sich in einem Schlagermedley durch ihre ersten Discoerlebnisse. Sie spielt die begehrte und männerverschlingende Frau in besten Jahren, aber zur Diva fehlt eben doch ein wenig Klasse. Dabei wird der Abend nie langweilig, denn Decker ist eine Powerfrau, und das merkt man spätestens, wenn sie als Sicherheitschefin des Vatikans ihr bulligen Statements gibt. („Was Vatikan kann Mutti schon lange.“)

Gut, das ist für manche schon beleidigend, wie sie die Katholiken als Schwulengruppe abkanzelt, aber es ätzt eben nicht so wie beispielsweise bei Pigor oder „Fonsi“. Eher wird da eine gewisse Homophobie bedient, und auch sonst bleibt sie in bürgerlichen Gefilden. Da kitzelt sie gerne die Verrufene raus, ist komisch als die Domina aus dem Schwäbischen. Das Publikum reagiert begeistert, und klopft sich auf die Schenkel. Und Gabi Decker genießt das, weil sie das richtig gut kann: die Leute zum Lachen zu bringen. Sie schauspielert und singt mit Leidenschaft, und lebt ihre eigene Frohnatur authentisch aus. Dafür wird sie auch vom Auditorium geliebt, und das scheint sie auch zu brauchen.

Videoeinspielungen, mit  denen sie ihre Umziehpausen überbrückt, ziehen sich durch den ganzen Abend, und dabei machen Hella von Sinnen, Jürgen von der Lippe und Nicole gerne und komisch engagiert mit. Man kennt sich eben, die Szene ist übersichtlich.

Der zweite Teil ist eine Art Castingshow, bei der Decker  ihrem Affen richtig Zucker geben kann. Wie furios sie Gestus und Dialekt wechselt, wie souverän sie zwischen Black music und Schlagerparodie pendelt, das ringt Bewunderung ab. Doch insgesamt bietet das Programm „Das Beste“ doch wenig Überraschendes, ist eher ein hochtalentiert vorgetragener Witzeabend („Immer mehr Rentner verschwinden im Internet weil sie „Alt“ und „Entfernen“ drücken). Aber er will auch nicht mehr sein, und so kommen die Fans auf ihre Kosten.

Als Zugabe schmettert und tanzt sie sich als Tina Turner noch einmal in die Herzen des Publikums, und genießt den starken Applaus. Später wird sie noch geduldig und etwas einsam am Verkaufstisch stehen: auch das ein Los des Künstlers. Das wird ihr mit ihrer Lebenserfahrung nicht fremd sein. Aber sie wird das Rampenlicht immer lieben, und garantiert wieder ein jubelndes Publikum finden. Denn eines scheut Gabi Decker nicht: sich lustvoll zum Affen zu machen. Und das ist ja auch mal was.



Spruch des Abends

„Wir sitzen alle in einem Boot, also hören sie auf zu schaukeln“. Gabi Decker


Fazit

Man kann viel mit Gabi Decker lachen. Muss man aber nicht. Aber als Sängerin und Rollenspielerin ist sie klasse.


Große Kugel und süße Verführung

Als Zugabe bei Gabi Decker gibt es Discofeeling mit Tina Turners „Simply the best“. Und während die Powerfrau über die Bühne wirbelt, wandern an den Zeltwänden Tausende von Sternen, denn die große Spiegelkugel an der Zeltdecke ist wieder mal im Einsatz. Mit einem Meter Durchmesser zählt sie zu den fast Größten ihrer Art. Wäre auch der Tipp für Romantiker: nachts im Spiegelzelt in die Sterne schauen...

Die Sommerabende sind noch etwas kühler, aber das hält die Naschkatzen kaum von ihrer Lieblingsbeschäftigung ab: in der Pause am Stieleis zu knabbern. Auch Angelika Kranz, die PR-Chefin des Zelts, und nebenbei Ehefrau des Intendanten, frönt dieser Leidenschaft. Hat sie sich auch verdient, nach der anstrengenden Tagesarbeit zwischen Tochter und Telefon...



22. Mai 2011 CHRISTIAN SPRINGER ALIAS FONSI


Kabarettist „Fonsi“ kommt auf die leise Tour

Er redet, er grantelt, er fabuliert, er meckert. Pausenlos. Manchmal singt er und begleitet sich dabei auf seiner  Zither. „Fonsi“, alias Christian Springer ist ein kabarettistisches Phänomen. Solch atemlose Plauderei begegnet einen in diesem Genre selten, und dabei wird es auch nie langweilig. Seine Wortkaskaden sind keine Aneinanderreihungen von flotten Sprüchen, obwohl es die auch gibt, sondern eine beständig doppelbödige Analyse deutschen Befindens.

Springer pendelt generös zwischen Größen wie Gerhard Polt und Emil Steinberger, und baut dabei auf Strukturen des Volkstheaters auf. Seine Figur ist eigentlich nur durch seine Bühnenuniform umrissen, er könnte Postbote, kleiner Beamter oder der gesprächsbereite Nachbar sein. Aber er verkörpert den Kassenmann von Schloss Neuschwanstein, und damit wäre seine Herkunft geklärt. „Fonsi“ zieht sein Publikum leise aber beständig in seinen Gesprächsfluss hinein und ist dabei so politisch, dass man es kaum merkt.

Ob er über die absurden Essgewohnheiten von Politikern während einer Lebensmittelkrise philosophiert („Dioxin ist nicht giftig, trägt aber auf.“), als Muttertagsgeschenk und Wertanlage drei Liter Benzin empfiehlt, den Atomkraftunfall als Beitrag zur Artenvielfalt zählt, ein „Marterl“ für Westerwelle aufstellen will, oder nach dem Fall des Zölibats Anzeigen formuliert („Hochwürden sucht Monsignorin“) sowie eine Papsthochzeit mit ihren Folgen ausmalt: alles geschieht so liebenswürdig, so beiläufig erzählend, dass man eigentlich erst am Ende des Abends merkt, wie klug „Fonsi“ seine Botschaften verpackt hat. Schon mit dem „Geschwätzgesetz“ zeigt er in Orwellschen Dimensionen die Regelwut des Staates auf, geißelt den hofierenden Umgang des Münchner Polizeipräsidenten mit Gaddafis Sohn.

Nach einer furiosen Geschichtenkette über den fernen Krieg, die absurden Riten einer Anne-Will-Talkshow und den „Geländegewinnen“ in Afghanistan, toten deutschen Soldaten und medialen Beerdigungsinszenierungen hält er abschließend inne, um echte Trauer von Freunden zu beschreiben. Das geht plötzlich ganz tief, und erreicht etwas Wertvolles: wirkliche Betroffenheit.

Christian Springers Programm „Jetzt ist gut“ ist eine sehr intelligente und trotzdem populäre Form des politischen Kabaretts, und beweist, dass aus Bayern nicht nur stotternde „Minibsterpräbsidenten“ sonders auch Spitzenkünstler kommen. Zwei Zugaben beenden den Abend, bei denen „Fonsi“ über Probleme bei Autogrammstunden referiert, und auf die Melodie von „Schlaf, Kindlein, schlaf“ seine Bitte „Einbrecher, kumm“ singt. Komisch, unterhaltsam, politisch und menschlich tiefgründig: mehr kann man von einem Kabarettabend kaum erwarten.



Spruch des Abends

„Es weiß heute niemand mehr, dass man im Wald auch ohne Stöcke spazierengehen kann“. Christian Springer, alias „Fonsi“


Fazit

Intelligentes Kabarett auf leisen Sohlen


Konkurrenz und städtische  Beziehungen

Dass bei „Fonsi“ das Spiegelzelt nicht so gut wie gewohnt gefüllt war, lag an der innerstädtischen Konkurrenz: während Georg Schramm in der Weimarhalle 1200 Gäste sammelte, blieb natürlich für den Bayern nicht mehr so viel übrig. Doch da Martin Kranz sich als Fan von Christian Springer outete, kann man eine Begegnung im nächsten Jahr vielleicht nachholen.

Der „Krrrtikrrrtsch“ entwickelt sich immer mehr zum begehrten Zelttisch. Dabei sitzen statistisch meist Jenaer hinter mir. Die freuen sich zwar auch schon auf ihre Kulturarena, aber empfinden  das Spiegelzelt als ideale Ergänzung. Eine schöne Form von Thüringer Kulturaustausch...




20. und 21. Mai 2011 HERBERT FEUERSTEIN UND RAY COLLINS‘ HOT CLUB


Seniorenabend mit Witz und ein Zeltfeuerwerk

Herbert Feuerstein ist eine Fernsehinstanz. Sowohl als Harald Schmidts Prügelknabe  als auch öffentlich-rechtlicher Reisekader steht der gebürtige Salzburger für gewitzten und sarkastischen Humor. Dass der Freitagabend im Spiegelzelt zudem eine Premiere war, kam sicherlich überraschend. Aber die Besucher, welche sich auf ein Woody-Allen -Programm Feuersteins eingestellt hatten, wurden sicher nicht enttäuscht.

Der mittlerweile über 70jährige las aus eigenen Werken scharfzüngig formulierte Impressionen und Autobiographisches. Feuerstein ist partiell ein Neurotiker: er mag keine Zelte, keinen Sport und Thomas Bernhard konnte er auch nicht richtig leiden. Was er von seinen Erfahrungen mit  Stierkämpfen, Alaskabären oder dem New-York-Marathon fabuliert, kommt geistreich, manchmal derb und immer aus der Position des Berufssarkasten. Das Publikum lauscht begeistert Exkursen über sein Herz für Tiere („Ich bremse auch für Bandwürmer.“), seine Ernährungsgewohnheiten („Ich esse alles, was nicht vom Teller fliegt“) und Salzburger Mozart-Vermächtnisse.

Man lernt von dem ausgebildeten Pianisten viel über die Anatomie der Küchenschabe, Ohren von Surfern und klassische Musik. Das geschieht stets unterhaltsam und stellenweise komisch. Der Abend wäre jedoch nicht so reizvoll gewesen, wenn Feuerstein nicht seine Musiker Manuel Munzlinger (Oboe), HD Lorenz (Kontrabass) und Herbert Götz (Klavier) mitgebracht hätte. Denn das Trio bereicherte die Lesung mit originellen, witzigen und textbezogenen Adaptionen aus Pop und Klassik auf hohem musikalischen Niveau. Nach Feuersteins allegorischen Betrachtungen der Beziehungen von Flug-Getier und Rampenlicht bei einer Schiffsreise in Birma, forderte das Publikum die angekündigte Zugabe ein, und so endete die Premiere  mit einem Rap zu Mozarts fünften Bäsle-Brief. Viel Applaus für einen geistvollen Nestor und seine Band ließ den Abend harmonisch ausklingen.

Wesentlich schwungvoller wurde der Samstag an gleichem Ort, denn der „Ray Collins’ Hot Club“ spielte zum wiederholten Male auf. Neun hochmotivierte Musiker ließen in passendem Outfit und mit hochklassiger Musikalität die wilde Zeit des Rhythm n’ Blues stilvoll auferstehen. Mit Schmalzlocken, Pomade und hellen Anzügen begeisterte die kleine Bigband durch präzise  Bläsersätze und dem Sänger Andreas Kollenbroich alias Ray Collins. Schon die ersten Takte brachten das Zelt ins Bewegen auf der Tanzfläche, und selbst die eifrigen Gastronominnen der Montags Catering rocken später beschwingt bei der Arbeit.

Die Band ist einfach mitreißend, und auch wenn nur gecovert wird, gerät das so perfekt, dass es schon wieder hohe Kunst ist. Dabei bedient sich das Ensemble mit Stefan Baues (Klavier), Sascha Haack (Bass), den Bläsern Tom Pospiech, Arne von Röpenack, Martin Störkmann und Andreas Reitz sowie Gitarrist Tilmann Schneider und Schlagzeuger Thomas Gier nicht an allzu bekannten Songs, sondern zaubert mit der „Elefantenparade“ oder „I know your name“ auch  Unbekannteres aus der Tanz-Schatzkiste. Bis kurz nach elf tobt das Zelt, und nach mehreren schweißtreibenden Zugaben ist man sich einig: das wollen wir unbedingt wieder haben!


Spruch des Abends

„Nach dem Willen meiner Mutter sollte ich Führer werden. Da hat die Menschheit noch mal Glück gehabt.“ Herbert Feuerstein


Fazit

Netter Abend mit Feuerstein, wenn auch wenig überraschend. Perfektes Tanzfeuerwerk vom Ray Collins’ Hot Club.


Kleine Kampagnen und große Luftblasen

Oliver Wickel, gute Seele und Kartenmeister des temporären Kulturtempels lebt  zwischen Weimar und Berlin. Zelt-Gastronom Torsten Montag befürchtete aufgrund der Pendelei Wickels Weggang. Doch Montag kann getröstet werden: Wickel bleibt dem Spiegelzelt verlässlich erhalten. Um einen Berliner Politiker zu zitieren: Und das ist auch gut so!

In einheimischem Munde war am Samstagabend die in der TLZ angekündigte Nike-Wagner-Nachfolge beim Kunstfest. Thomas Quasthoffs angebliche Kandidatur war ein vorschnelles Windei, und wird durch die Pressefreiheit sicher nicht gedeckt. Aber was tut man nicht alles , um sich ins Gespräch zu bringen. Für Spiegelzelt-Intendant Martin Kranz, der mit Quasthoff befreundet ist, wird wahrscheinlich langes sensibles Arbeiten zunichte gemacht, denn den Starbariton für eine künstlerische Zuarbeit zu gewinnen, wäre für Weimar sicher bereichernd gewesen. Nun ist der Supersänger erst einmal berechtigt sauer. Doch wird so auch klar, dass Kranz mit seiner beruflichen Erfahrung schon ein idealer Kunstfest-Leiter wäre. Aber Weimar hat sich ja selten für richtig gute Leute entschieden...




19. Mai 2011 PIGOR & EICHHORN


Eine witzige Wiederbegegnung mit Pigor & Eichhorn


Es war eine Art Heimspiel, dass Pigor und Eichhorn mit ihrem mittlerweile siebenten Bühnenprogramm ablieferten. Das Spiegelzelt war demzufolge am Donnerstagabend bis auf den letzten Platz gefüllt, und man konnte viele Einheimische entdecken. Pigor leitet zunächst mit der Ballade vom Platzhalter ein. Er ist der Einsame, am Restaurant-Tisch Zurückgelassene, denn die Raucher müssen sich ja gesetzlich bestimmt draußen vergnügen, und machen das auch ausdauernd. Es ist immer wieder diese ungewöhnliche Erzählperspektive, welche das Duo so einzigartig und witzig macht.

Diesmal bekommt Pianist Benedikt Eichhorn Verstärkung, denn der Posaunist und Tubist Stephan Gocht und Schlagzeuger Emmanuel Hauptmann sind die coolen Jazzer, und werden von den Beiden eben dafür linkisch bewundert. Alles, was Bläser und Drummer abliefern und äußern ist so lässig, dass sich Pigor und Eichhorn in fast jungenhafter Manier daran ein Beispiel nehmen wollen, und das sorgt für zusätzlichen Witz. Denn Pigor verkündet, dass man ab jetzt die Kleinkunst aus dem Programm und überhaupt verbannen will, und stattdessen „Cool Cabaret“ angesagt ist. Das ist zwar nur neue Verpackung für altbewährte Qualität, klingt aber besser. Und so fabuliert Pigor in Rap-Manier über überparfümierte Zeitgenossen und  flugängstliche Panikmacher. Er ätzt über Wutbürger und Realpolitiker und geißelt die Regenbogen-Skandalpresse in einer sehr spannend arrangierten Fassung des Volkslieds von der „grünen Au“.

Mit Eichhorn und den anderen Musikern nimmt er die iPhone-Manie und den manchmal zweifelhaften Nutzen von Google aufs Korn, erläutert beispielhaft die Beliebigkeit neuer deutscher Poptexte und die Probleme des Künstlers bei der Fussballweltmeisterschaft. Gewohnt sarkastisch und mit hoher Musikalität geht das Quartett kritisch den Zeitgeist an, ohne belehrend zu wirken. Die Jazzer machen das Konzept erfrischend freier und lockern die strenge Perfektion der Programmvorgänger. Das tut den Akteuren sichtlich gut. Im Mittelteil lässt man sich in bewusst holprigen Englisch zwerchfellerschütternd über Verluste („You stole my hard disc“) und Fremdsprachen („The language of Shakespeare you can smoke in the pipe“) aus, erklärt in ebendiesem Kauderwelsch ironisch den Unterschied von Comedians und dem Nockerlberg, und liest damit scharfzüngig der Zunft die Leviten.

Das Publikum geht begeistert mit, auch wenn es stellenweise stark gefordert ist. Im letzten Teil des Abends brilliert Eichhorn pianistisch mit einer Lektion über das Klavierüben, aber er wird natürlich trotzdem wieder vom Meister Pigor niedergemacht. Dass Piloten, Chirurgen, Handwerker und Friseure lügen ist die bittere Erkenntnis, die Pigor am Ende des Programms süffisant darreicht, und das Publikum entlässt ihn erst nach einigen Hits über die „Kevins“, „Heinz“ und „Heidegger“. Obwohl die Naturgewalten über dem Zelt wüteten, blieb es ein entspannter und großartiger Abend.


Spruch des Abends

„This is not a song for, sondern against you!“ Thomas Pigor


Fazit

Gewohnt witzig und musikalisch entspannt.


Tropfenzählungen und Geburtstagskinder


Als Pigor von der eventuellen Aufhebung des Zölibats und den Folgen sang, öffneten sich die Himmelsschleusen, es regnete in Strömen, donnerte und blitzte. Als es dann auf der Bühne ein klein wenig tropfte, stellte Pigor einen Flaschenkühler unter das Leck, hielt sein Mikrofon dran, und forderte seine Band auf, nach dem Rhythmus der Wassertropfen zu spielen. Unwetter bringen eben bei solchen Künstlern Kreatives hervor.

Zu den Gästen des Abends zählte zu meiner Freude auch Jürgen „Josch“ Hoffmann, der zu Pigor & Eichhorns  Performance seinen Geburtstag feierte. Eine schöne und kulante Geste, war doch „Josch“ der gastronomische Vorgänger von Torsten Montag, und damit ein verdienter Mann der ersten Stunden des Spiegelzelts. Glückwunsch.



18. Mai 2011 WILLY ASTOR


Der Kauz und Wortakrobat Willy Astor

Zur der Polonaise, bei der alle fünfhundert Zeltbesucher am Zimmer des Dorint-Hotels von Willy Astor nackt vorbeimarschieren sollten, ist es dann noch nicht gekommen. Aber ehrlich: man war kurz davor! Denn Astor hatte an diesem Dienstagabend im Spiegelzelt sein Publikum voll im Griff und sichtlich Spaß an seiner Arbeit.

Willy Astor ist ein Münchner Kauz, ein Schelm und er ist in seinen 25 Bühnenjahren noch viel besser geworden. Als Poet unter den Komödianten hinterfragt er auch bei seinem aktuellen Programm „Tonjuwelen“ die deutsche Sprache, erschließt neue Wortbedeutungen durch seine Dialekte und ist dabei sowohl anspruchsvoll, etwas derb als auch mitreißend komisch. Beispiel: „Wer ist Andre?“ fragt er die Goethekenner im Zelt, und als er verwundertes Kopfschütteln erntet klärt er auf, dass er über eine Inschrift des Meisters aus dem „West-Östlichen Divan“ sinniert: „Wer sich selbst und and(e)re kennt“. Darauf muss man erst einmal kommen, und mit solcher niveauvollen Blödelei geht es in rasanter Folge für fast drei  Stunden weiter.

Damit sollte der erste von zwei Astor-Auftritten der bisher längste der diesjährigen Spiegelzeltsaison werden. Dabei fängt er ziemlich indiskret für die ersten Reihen an: Astor fragt offensiv ins Publikum nach Name und Arbeit, bastelt daraus in Stand-up-Comedy-Manier Komplimente und Affronts. Aber dann ist die Bühne ganz die Seine, und man kommt aus dem Staunen die enorme Gedächtnisleistung und dem Lachen über seine absurden Wortdeutungen kaum heraus.

Astor ist zudem ein Musikvirtuose, begleitet sich selbst an Keyboard und Klavier und versieht verschiedenste Pop-Hits mit neuen Texten. Da wird der Papst zum „Rat-Singer“, der Dusch-Abfluss ist bei seiner „Volare“-Interpretation leider voll Haare und die Männerunterhose kann bei ihm auch Rüsselsheim heißen. Er fabuliert über seine literarischen Erfahrungen in der offenen „Büchatrie“ über Autoren wie Bohlen und Küblböck, und das „Leiden der jungen Wörter“, welches sie verursachen. Und er stellt verblüffende Fragen, wie beispielsweise „War Hermann Hesse?“ Eine der faszinierendsten Nummern ist die Konstruktion einer Geschichte aus 124 Filmtiteln in vier Minuten. Verschmitzt und mit Gespür für deutsche Dialekte zelebriert er „Fränkischen Country“, eine hessische Hymne sowie eine österreichische Ballade mit viel Schmäh, und das Publikum amüsiert sich königlich über die Wortkaskaden und lokalen Eigenheiten, die Astor geißelt.

Mit dem Synthesizer zaubert er mehrstimmige Effekte, und sein Techniker Guido ist des Öfteren gefordert, wenn die Elektronik den Vollblutmusiker verlässt. Doch sein Helfer kann schließlich alles wieder zur Zufriedenheit des Solisten richten, denn es ist ja auch ein „Männerplan, und kein Frauenplan“, wie Astor den Weimarern sein Stadtwissen zueignet. Er scheint wirklich in die Klassikerstadt verliebt zu sein, denn er erzählt oft von seinen Erlebnissen in dem Örtchen, und zeigt sich dabei ziemlich bewandert mit Geschichte und Geographie. Wenn das Zelt mit ihm begeistert „Grilling me softly beim Pingpong“ schmettert ist der Abend noch nicht an seinem Ende, denn mehrere Zugaben verdeutlichen, warum es keinen Hummelhonig gibt und was Astor mit der Gitarre vom Rockklang bis zur meditativen Meeresstimmung alles zaubern kann. Ein toller und lustiger Abend mit einem sympathischen und hochintelligenten Künstler, der sicher auch nächste Spiegelzeltjahre bereichern wird.



Spruch des Abends

„Wenn Jesus nicht gekreuzigt sondern ertränkt worden wäre, würden in bayerischen Klassenzimmern nur Aquarien stehen.“ Willy Astor



Fazit

Komödiantisches und musikalisches Highlight mit einem verschmitzten Kauz.


Lateinamerikanisches Feeling und renitente Rentner

Kennen Sie den Hit „Guantanamera“? Das Zeltpublikum sang sich zu einer  Zugabe bei Willy Astor noch einmal warm, und man staunt, wie viel Energie nach 23 Uhr noch in den Leuten steckt. Und so trällern alle kichernd von „Kaulquappensocken“ und „Zeitschriftenständern“. Letztere bekommt man laut Astor, wenn man in Wartezimmern den „Playboy“ liest...

Willy Astor war schon des Öfteren in Weimar, und er erzählt mit Freude eines seiner schönsten Erlebnisse. Im vorigen August kühlten und bespritzten sich junge Abiturientinnen mit dem Brunnenwasser des Frauenplans. Das war so schön anzusehen, dass mehrere männliche Rentner nicht zu bewegen waren, die geplante Stadtführung mitzumachen. Erotik schlägt eben Klassik. Obwohl sich ja Beides eigentlich nicht ausschließt...



15. Mai 2011 ANNAMATEUR & ZÄRTLICHKEITEN MIT FREUNDEN


Anarchisch, virtuos und brüllend komisch: „Annamateur“ und „Zärtlichkeit mit Freunden“


Der kulturelle Schmelztiegel um Dresden kreiert immer wieder Spannendes, Anarchisches und vor allem Humorvolles, und so war zu erwarten, dass der sonntägliche Spiegelzeltabend mit „Annamateur“ und „Zärtlichkeiten mit Freunden“ grandios werden würde. Zunächst wird durch den Schlagzeuger Christoph Walther in die Struktur des Abends eingeführt, und schon dass ist so brüllend komisch und intelligent gesetzt, dass das Publikum sofort in dauerhafte Erheiterung versetzt wird. Walther ist Teil des Duos „Zärtlichkeiten mit Freunden“ aus Riesa, und zusammen mit Gitarrist Stefan Schramm geben sie eine hinreißende Persiflage als eine Schlagerband, welche ihren Job durchschnittlich abliefert, aber trotzdem vor Sendungsbewusstsein strotzt.

Nach der Aufwärmphase, in der schräg und linkisch animiert wird („Du ich glaube, das könnte gut werden“) gibt es einen absurden Soundcheck mit allen möglichen  Pannen, Richtfunkproblemen bis man dann endlich zum Opus-Hit  „Live is life“ ansetzt. Später, in dieser halben Stunde wird es noch Neil Youngs „Heart of Gold“ geben, bei der Walther dann sein Schlagzeug abmontiert, und schon alleine diese Idee ist eine Spitzenleistung absurder Blödelei. Dabei teilen die beiden auch durchaus politisch aus, wenn sie den Rechten aus Bad Schandau ihre T-Shirts der Größe „S“ verkaufen („weil die immer zwei davon nehmen“), aber das ist sehr pfiffig verpackt und Teil eines Konzepts, welches den beiden Sachsen schon eine Menge verdienter Kleinkunstpreise einbrachte.

Kehlkopfkünstler Jan Heinke sorgt für einen sinnvollen Bruch des Abends und setzt nach der absurden Blödelei seine Stimmkunst in Szene: faszinierend als auch komisch, aber auf einer musikalisch virtuosen Ebene. Das irritiert wohltuend, doch man lauscht gebannt der „Europahymne“ als Obertongesang, dem Didgeridoo in Techno-Version und dem Urlaubslied mit Beatbox-Klängen.

Dann kommt die Königin Anna-Maria Scholz alias „Annamateur“ mit ihren Vollblutmusikern und „Außensaitern“ Stephan Braun am Cello und Eckart Poser (git). Die Diva ist schlecht gelaunt, weil der Gitarrist sie verlassen hat, und das lässt sie ihn spüren bei ihrem „Black coffee“-Bluescover. Wie sie das spielt, den Scat als Aggressionsschub blödelt, dass ist einfach sensationell. Das Publikum reagiert entsprechend, und so werden die „Orakelqueen aus Neuruppin“ oder ihre furiose Interpretation von Michael Jacksons „Bad“ zu Selbstläufern. Man ist anspruchsvoll amüsiert durch  die Texte und gleichzeitig baff vor Staunen über die gesangliche Stärke und Wandelbarkeit dieser Frau: ein Kraftpaket mit Seele und Humor, dem jede falsche Attitüde fremd ist. Westernsongs und Chick Coreas „Spain“ auf der Blockflöte offerieren die Kreativität und Virtuosität der drei Musiker, die sich nach der Pause mit einem weiteren Höhepunkt fortsetzt.

Denn nun agieren alle Künstler in „Dreckiges Tanzen“, einer schrägen Version des Kinohits „Dirty dancing“ und sorgen damit für einen furiosen Ausklang. Christoph Walther als Johnny Castle und Anna-Maria Scholz als „Baby“ Houseman mimen das Filmpaar exzellent und irrwitzig. Die Zitate aus dem Film werden neu gewürfelt und ergeben dadurch einen mitreißenden Unsinn, während die anderen Musiker durch Songbegleitung mit Xylophon, Didgeridoo, Cello und Gitarre sowie Satzgesang überzeugen. Intelligent arrangiert und mit vielen witzigen Einfällen gespickt, ist die Zugabe ein Muss, und setzt mit einer sächsischen Version des Kinoklassikers noch einen drauf. Das Publikum klatscht euphorisch, und das ist auch das Mindeste, was dieser Abend verdient hat. Bravo!


Spruch des Abends

„Der Techniker ist etwas einfach. Er kommt aus Apolda.“ Christoph Walther von „Zärtlichkeiten mit Freunden“


Fazit

Dem Kritiker gehen die Superlative aus. Einfach grandios!


Trageleistungen und Lobeshymnen und das Lob der Kneipe


Produktionsleiter Kristjan Schmidt war vor dem „Dreckigen Tanzen“ schon etwas aufgeregt. Die überdimensionale Hebefigur in dem Stück stellte die Crew vor technische Herausforderungen. Doch da das neue, größere Spiegelzelt solche Großproduktionen jetzt verkraften kann, ging mit diesem spektakulären Bühnengag alles glatt.

Das Spiegelzelt hat nach diesem gelungenen Abend einen Fan mehr. Mein Journalistenfreund Jörg Niggemann zeigte sich von Programm, Ambiente und Organisation hellauf begeistert, und würde sich solch ein Zelt auch in seiner Heimatstadt Höxter wünschen. Doch zuerst wird er versuchen, sich hier einen Wunsch zu erfüllen: er wird extra noch einmal zum Abschlusskonzert mit Stefan Gwildis anreisen.

Natürlich haben sich viele im Publikum gefragt, wie es zu der Idee und Zusammenarbeit der Teams von „Annamateur“ und „Zärtlichkeiten mit Freunden“ und  Jan Heinke gekommen ist. Christoph Walther gab bereitwillig Auskunft. Die Idee zum „Dreckigen Tanzen“ ist den Musikern in einer Dresdner Kneipe bei einer Blödelei über den Film „Dirty dancing“ gekommen. Da sieht man mal wieder, dass Kreativität auch feste Zufluchten braucht.



14.  Mai 2011 ETTA SCOLLO


Etta Scollo und die Spielarten der Liebe


Sie fängt das Publikum mit sehr leisen, aber intensiven Tönen ein. Zierlich und wenig exaltiert kommt sie auf die Bühne und singt mit “Sopra i vetri” eingangs von einer verlassenen Frau und ihrer Wahl der hinterlassenen Selbstmordinstrumente, bis sie sich schließlich entscheidet, den Treulosen anzuzeigen.

Und darum geht fast immer in ihrem neuen Programm “Cuoresenza”: um den Schmerz und die Leidenschaft der Liebe, verpackt in unbedingter Poesie. Der einsame Junggeselle, der zwar kultiviert ist, aber verurteilt “wie ein Hund zu sterben” ist ein bitteres Chanson von Paolo Conte, und überhaupt dominieren diesmal bei Etta Scollo die Coverversionen. Da warnt sie mit Domenico Modugnos “La donna riccia” vor Lockenköpfen, lässt sich von Franco Battiatos “La cura” beschützen und erfährt durch die Blumen von Betrug ihres Liebhabers (“I tuoi fiori”). Die Tradition der Cantautori aus den Sechzigern und Siebzigern lässt sie wieder aufleben, mit all ihrem Überschwang, Schmerz und der großen alten und neuen Hoffnung.

Dann zelebriert sie „Der Novak“, ein Chanson des Österreichers Hugo Wiener in deutsch und mit lippenstiftverschmiertem Mund, und das kommt so verloren, und gleichzeitig kraftvoll, dass das ausverkaufte Spiegelzelt in laute Ovationen ausbricht. Und wenn Scollo den Mina-Hit „Se telefonando” schmettert, ein Lied, dass nach ihrem Bekunden leider in heutiger SMS-Zeit nicht mehr ganz zeitgemäß ist, dann hat sie das Publikum schon längst erobert. Scollo erklärt ihre Interpretationen vorher auf deutsch, dass auch die italienisch Unverständigen dem Abend folgen können. Hinter ihr wirken die Akkordeonistin Cathrin Pfeifer, die ab und zu auch das Klavier solide bedient, die Cellistin Susanne Paul und Hinrich Dagefür, der neben Gitarre und Mandoline auch als Schlagwerker für kraftvolle Rhythmen sorgt.

Doch musikalisch bleibt das Programm eher schmalspurig. Es hat zwar manchmal den Mut zur Dissonanz, aber die Musiker agieren vorwiegend sehr verbissen und tragen nicht Überraschendes in Arrangement und Chorus bei. Scollo selbst lässt dagegen schon mal zu tradierter sizilianischer Folklore (“Un solo bacio”) ein Weinglas erklingen und begleitet sich selbst mit Gitarre, Mundharmonika oder Ukulele, aber das eigentlich Faszinierende ist ihre wandelbare Stimme zwischen rauchigem Alt oder lyrischer Soprancanzone. Mit dem titelgebenden Chanson “Cuoresenza” bringt sie die Essenz des Abends auf den Punkt: das Herz, das seinen Körper sucht, da es sonst nicht lieben kann. Denn Scollos ganzer Körper ist Herz, und diese unbedingte Haltung bringt ihr noch drei begeistert erklatschte Zugaben ein.

Mit “Curuna”, dem Lied über das Mädchen, dass wegen großer Liebe keine Prinzessin werden will, und dem innigen “Una luna” klingt ein Abend der Liebesbetrachtung aus. Und für die Menschen, welche gerade an diesem Gefühl leiden, hat die jetzige Wahlberlinerin Etta Scollo bei der Tarantella “Abballati” einen Tipp parat: “Tanzen ist die Lösung aller Probleme. Ich wünsche ihnen, dass sie ganz viel Tanzen”. Mal sehen…


Spruch des Abends

„Dich zu lieben ist wie eine Tonsilbe, die kreischt. Sie fügt uns beim Erwachen wieder zusammen, nach dem Tacet.“ Etta Scollo zitiert eine Definition der Liebe


Fazit

Intensiver und melancholischer Folkloreabend mit viel Leidenschaft.


Badeplatzierungen und Vorgeschmäcker


Es ist vollbracht: das Anbaden im Schwanseebad bei herrlichen 18 Grad Wassertemperatur und sommerlichen Anklängen ist geschafft. Während der Kritiker leer ausging, konnte sich Spiegelzelt-Intendant Martin Kranz über einen Blumenstrauß, ein Handtuch und eine Gummi-Ente freuen. Mals sehen, wann Letzteres in den Händen der kleinen Tochter, den Papa aus dem Schlaf quietscht...

Viele Künstler verkaufen bei ihren Konzerten die CD oder DVD, welche den Abend noch einmal Revue passieren lässt. Für Etta Scollo dagegen ist die Bühne ein wichtiger Versuchsballon für ihre neue CD „Cuoresenza“. Denn sie wird erst Ende Mai erscheinen. Doch wie man schon hören konnte: die Geduld wird sicher belohnt.



13. Mai 2011 GAYLE TUFTS


Energiebündel

Vielleicht muss man sie einfach lieben, diese Gayle Tufts. Wie sie sich und ihre fünfzig Jahre zum Thema macht, und das ausverkaufte Spiegelzelt damit fast zwei Stunden bestens unterhält. Sie ist eine wandelnde Bühnenpräsenz, und sie kann pausenlos erzählen. Tufts hat sich als Markenzeichen den amerikanischen Fokus auf deutsche Mentalität und den hiesigen Blick über den Teich gewählt, und parliert in Staccato-Denglisch über ihre Erlebnisse und Erfahrungen in beiden Ländern.

Dass die Deutschen etwas steifer sind, und die überbordende Lebenslust nicht gepachtet haben, dürfte eigentlich hinlänglich bekannt sein, aber Tufts findet trotzdem noch ein paar passende Beispiele: wie an den schönsten Orten der Welt moniert wird, dass es kein gutes Brot gibt, warum man an autofreien Strassen trotzdem bei roter Ampel stehen bleibt, und dass Alleinunterhalter eher eine nationale Spezies sind. Man erfährt, dass die Spargelsaison in Amerika ganzjährig ist, dass Christine Neubauer ein Wunschtraumleben führt und weshalb das Lüften die germanische Seele auf den Punkt bringt. Zwischendurch singt Tufts mit Halbplayback. Das kann sie wirklich gut und ausdrucksstark, denn sie ist eine vielseitige Entertainerin, und mehr will sie offensichtlich auch nicht sein.

So geißelt sie das Spartendenken und die Verfallszeit von einstmals geliebten Stars wie Lena und umarmt die ganze Welt wie ein Eurovision Song Contest. Diese Schlagereinrichtung streift sie während des Programms „Some like it heiß!“ des Öfteren, weshalb sie als Zugabe auch Joy Flemings Beitrag von 1975 nachsingt. Tufts liest aus ihrem neuen Buch „Miss Amerika“,  lästert über Lady Gagas Songtexte und Madonnas ewige Jugendshow und wünscht sich die Oberarme von Michelle Obama. Das ist alles ganz lustig, oft schon andernorts gehört und sicher nichts Tiefschürfendes.

Und so ist Gayle Tufts eben auch ein treffliches Produkt dieser aktuellen Medienwelt: schillernd, unverbindlich und immer gut drauf. Das ist legitim und rein unterhaltsam, und heizt, ähnlich wie beim Fasching, die Massen an. So beugt man sich dieser unbedingten Frohnatur, der man schon deshalb nichts übelnehmen kann, weil sie nirgendwo richtig aneckt. Allerdings wäre diese Labertaschen-Comedy auch nicht mehr als zwei Stunden erträglich, denn das Konzept erschöpft sich irgendwann. Aber Gayle Tufts ist eine wirklich klasse Sängerin, und das versöhnt ein bisschen. Aber eben nur ein bisschen, besonders wenn man am vorigen Abend einen Gegenentwurf mit „Malediva“ erlebt hat. Trotzdem viel Applaus. Halten wir uns also an den  Zugabensong: „Ein Lied kann eine Brücke sein“.



Spruch des Abends

„Weimar ist das Hollywood in Thüringen.“ Gayle Tufts


Fazit

Amüsante Dampfplauderei mit überzeugenden Gesangseinlagen


Wassermeldungen, Netzentdeckungen und Baumschäden


Wie schon in diesem Blog angekündigt, wird dem Spiegelzelt-Intendanten Martin Kranz und seiner Mannschaft am Samstagmorgen das Wasser bis zum Hals stehen. Und dass ist keine Weimarer Missgunst-Meldung. Denn im Schwanseebad wird angebadet. Produktionsleiter Kristjan Schmidt wird allerdings fernbleiben. Denn an seinen wenigen kinderfreien Tagen nutzt er die Chance, mal auszuschlafen.

Manchmal gibt es bei der Recherche schöne Entdeckungen. Als ich gestern auf die Website von „Malediva“ surfte, fand ich sehr witzige Kolumnen von Lo Malinke. Unbedingte Leseempfehlung! http://www.malediva.de/html/kolumne.html

Die nette Kollegin von der OTZ saß vor der Programmpause etwas unruhig am Kritikertisch. Ihr Mann war mit dem Zug aus Göttingen unterwegs, die Karte bezahlt, aber der Platz unbesetzt. Doch der vorerst Vermisste hat es trotz Bahnausfall noch zum zweiten Teil geschafft, sodass sie den Prosecco nicht alleine trinken musste. Grund für die Verspätung war übrigens ein umgekippter Baum. Was den Begriff „Schlagbaum“ wieder einmal hinreichend erklärt...



12. Mai 2011 MALEDIVA


Titelverteidiger


Es soll Kaninchen in Schokoladensauce bei „Malediva“ geben, und so sitzen die Beiden am großen Tisch und parlieren über ihre problematischen Gäste. Denn „Fremde Leute in der Wohnung“, der kraftvolle Eingangssong ist für das Männerpaar ein Dilemma. Eigentlich mimt man den Gastgeber nur, weil man „dran“ ist, zudem lebt ein Teil des eingeladenen Freundeskreises inzwischen in Trennung, ist zu sehr verliebt oder eventuell Vegetarier.

Was Tetta Müller und Lo Malinke, überzeugend unterstützt von Florian Ludewig am Klavier in ihrem mittlerweile siebenten Programm „Die fetten Jahre“ präsentieren, ist Boulevardtheater in einer ausgefeilten Perfektion, die man selten sieht. Beide Bühnenfiguren wirken so authentisch, dass man ihnen jegliche Frotzelei über Gäste und Anwesende amüsiert und atemlos abnimmt. Die Screwball-Comedy fasziniert durch sehr schnellen Wortwitz und schlüssige Inszenierung und zeigt, dass der vorjährige Publikumspreis „Marlene“ wieder mühelos verdient werden könnte.

Das ausverkaufte Spiegelzelt reagiert auf kleinste Nuancierungen und kommt aus dem Lachen kaum heraus. Ein Bonmot jagt das Nächste, und so konstatiert „Malediva“ zunächst, dass das Kochen der Sex der Vierzigjährigen; und das Glück der schwulen Pärchen meist ein Klischee ist. Die Beiden ätzen einfallsreich und pointiert über unsere Eigenheiten, Verlustängste und Prägungen, und erweisen sich dabei als analytische Beobachter des Alltags. Sie präsentieren ihre Einsichten mit unnachahmlicher Leichtigkeit, jeder Übergang sitzt und Tetta und Lo erstarren trotzdem nicht in Routine. Alles wirkt persönlich, man ist Zuschauer und zugleich Zeuge und merkt, dass die Vollblutkomödianten entgegen eigenem Bekunden mehr als verkaufen wollen. Und es gibt diese Momente, in denen sie ernster werden, über den Tod singen und die Gleichgültigkeit der Langzeitpaare. Doch weil beide Romantiker sind, geben sie der Hoffnung Raum, wie in dem wunderbaren Song „Viel Glück ihr Zwei“.

Selbstverständlich gibt es wieder Lebenshilfen: wie man auf Blumengeschenke reagiert, welche Gemeinsamkeit Lesben und Weihnachtsmänner haben (Vorliebe für festes Schuhwerk) und warum man nur Stoffservietten auf den Tisch bringen sollte. („Wer Papierservietten aufdeckt, sollte sich nicht wundern, wenn sich seine Gäste damit den Arsch abwischen!“)

Im zweiten Teil des Abends sind die erwarteten Gäste nicht gekommen, und so trösten sich die Beiden mit Horoskopen, Porzellanpüppchen, Alkoholwünschen und genüsslichem Rauchen. Ludewig wird ab und zu einbezogen, ist aber vor allem der geniale Hitschreiber, der mit seiner Komposition „Mein Herz schlägt immer noch für dich“ als Abschlusssong den furiosen Abend krönt.

Folgerichtig gibt es noch Zugaben mit einer hinreißenden Interpretation des „hundertjährigen Frühlings“ und einem sehr malediven-eigenen Dank für die „Marlene“. Und so verabschiedet sich das Publikum begeistert klatschend wie von guten Freunden. Bravo!



Spruch des Abends

„Wahrscheinlich ist Weimar schief. Vielleicht rutscht die ganze Scheiße in die Ilm.“ Lo Malinke von „Malediva“


Fazit

Leichtes und tiefsinniges Boulevardtheater in hoher Perfektion.



Eigentumsfragen, neue Linien und Ersatzmenüs

„Wem gehört das Zelt?“ fragte mich ein Besucher am Krrrtikrrrtsch, und das soll heute nachreichend beantwortet werden. Das „Spiegelzelt“ kommt aus Belgien. Insgesamt gibt es davon fünfzehn Stück, allerdings ist das diesjährige Modell einmalig und insgesamt das größte seiner Art. Wer sich so etwas von der Firma „Magic Mirrors“ ausleihen will, muss sich langfristig kümmern und eine Menge Geld berappen...

Seit gestern gibt es eine Neuerung im Spiegelzelt - die weißen Linien. Ehe jetzt die Drogenbeauftragten wegen Kokaingebrauchs einschreiten wollen: es handelt sich um Bodenmarkierungen, welche die Gänge einfassen. Und die Gäste wandeln dazwischen, wie auf dem „Walk of fame“, beobachten die Zeltmitarbeiter...

Das ausgefallene Abendmahl der „Malediven“ wären achtzehn Kaninchen in Schokosauce gewesen. Wem dabei das Wasser im Mund zusammenlief, bekam von Torsten Montag eine wesentlich kalorienfreundlichere Kost: einen speziellen Salat mit Honigdressing. Und da Tetta Müller und Lo Malinke keine Figurprobleme bekommen wollen (die sie auch nicht haben, um Protesten vorzubeugen!), wird den Künstlern solches Kost-Angebot wohl auch ganz recht gewesen sein.




11. Mai 2011 HELMUT EISEL & BAND


Furiose Musikwelten


Die Klarinette wird von Kennern oft als das sprechendste Instrument bezeichnet. Wer Helmut Eisel am Mittwochabend im Spiegelzelt erlebt hat, weiß warum. Denn wie begnadet Eisel mit diesem Instrument umgeht, zeugt von höchster technischer und musikalischer Perfektion. Dazu hat sich der leise Magier eine Band zusammengeschneidert, die seinen Intentionen kongenial folgt. Angesiedelt zwischen Jazz, Tango, Musette, Swing und Soul pendeln er und seine Kollegen souverän zwischen den Tonwelten.

Gut eingespielt und mit ausgefeilter Dynamik tritt das Quintett in einen Dialog, der durch Klezmermusik geprägt ist, sich aber jegliche stilistische Option offen hält. Eingangs noch mit sanften Tönen, die sich in eine Art Bolero steigern („Rondo alla Klez“) findet das Ensemble schnell zu den typischen Rhythmen. Akkordeonistin Irina Kawerina steuert dazu harmonische Gerüste bei, und überzeugt mit Eisel und Gitarrist Michael Marx auch in rasanten Unisono-Passagen. Stefan Engelmann am Kontrabass sorgt für den soliden und groovenden Hintergrund und Schlagzeuger Amby Schillo trommelt mit Händen und Sticks souverän und einfallsreich zwischen fernöstlicher und jazziger Rhythmik.

Neben vielen Eigenkompositionen Eisels fühlt man sich auch der frühen Swing-Ära im Sinne von Duke Ellington und Cab Calloway verbunden, und hier ist Michael Marx dann vollends in seinem Element. Wie er mit Scatgesang und seiner Version von „Minnie the Moocher“ die Bälle an die Klarinette zuspielt, und der Wettbewerb auch die humorvolle Seite des Quintetts hervorzaubert, begeistert das Publikum nachhaltig, und so gibt es oft den verdienten Chorusapplaus.

Emotionaler Höhepunkt des Abends ist  Eisels „Phoenix“, ein Auftragswerk, welches in sinfonischer Form am vergangenen Sonntag mit der Weimarer Staatskapelle seine erfolgreiche Uraufführung erlebte. Eisel thematisiert mit seiner Komposition den Holocaust an den Klezmorim, und schmiedet eine kraftvolle Wiederauferstehung musikalischen Geistes. Hier zeigt sich die archaische Potenz des Klezmers. Unter dem Diktat des Melodiösen entwickelt sich eine Imagination, die ehrliches Mitgefühl auslöst; das ist doch das Beste, was man mit Musik erreichen kann.

Zwei furiose Zugaben bereichern die Bühne des nicht ganz ausgelasteten Spiegelzelts noch einmal mit kraftvollen und ausgelassenen musikalischen Dialogen, und setzen wiederum die virtuosen Fähigkeiten der „Platzhirsche“ Eisel und Marx unter Beweis. Mit langem und höchsten Klarinettenton endet der Abend und birgt das Versprechen der Musiker, gerne wieder an diesem Ort aufzutreten.


Spruch des Abends

„Perkussionisten und Schlagzeuger sind die friedlichsten Menschen der Welt - sie werden alle Aggressionen an ihrem Instrument los“. Helmut Eisel


Fazit

Jiddischer Traditionsabend mit stilistisch vielseitigen Elementen auf hohem musikalischen Niveau.



Heimatgefühle, frühe Anbader und Arbeitserleichterungen

„Ich fühle mich schon fast wie ein Weimarer“, gestand Klarinettist Helmut Eisel. Schließlich hat er die letzte Zeit viel mit der hiesigen Staatskapelle für seine Uraufführung geprobt, und die Stadt dadurch intensiver kennen und lieben gelernt. Damit dieses Gefühl nicht überbordet, gab es in typischer Weimar-Manier einen Dämpfer. Denn durch die recht herablassende Wertung eines Kritikerkollegen über das Konzert am Sonntag fühlte sich Eisel so verletzt, dass er mit einer kurzen Ansage seinem Ärger Luft machte. Den zustimmenden Applaus quittierte der Musiker mit den Worten: „Schön, sie lesen also Zeitung!“ Na, das wollen wir doch hoffen!

Weimars Alt-Oberbürgermeister Volkhardt Germer und seine Frau zählten zu den prominenten Gästen des Abends. Mancher wird sich gefragt haben, warum die Beiden so frisch und jugendlich aussehen. Des Rätsels Lösung: Germers haben schon im April in einem kleinen See angebadet. Das steht dem Autor und einem Teil der Spiegelzeltmannschaft noch bevor: am Samstag früh kann man uns im Schwanseebad schwimmend erleben.

Kritiker haben es manchmal doch leichter. Eisel bescherte dem Spiegelzelt ein angenehmes Novum: einen Programmzettel mit Titelfolge, Komponisten und Besetzung. Ein Beispiel, welches Schule machen könnte. Jedenfalls war mir diese Arbeitserleichterung sehr willkommen. Und auch das Publikum nahm den Kompass des Abends dankend an. Man weiß dann eben besser, was gespielt wird...



8. Mai 2011 TOK TOK TOK


Virtuose Jazzcover zum Relaxen


Dass Beatles-Melodien schier unerschöpfliches Material bergen, ist unter Musikern eine Binsenweisheit. Nun hat sich das deutsche Quartett „Tok Tok Tok“ den Evergreens in ihrer souljazzigen Art angenommen und so konnte es nur ein toller Konzertabend werden. Schon das Eröffnungscover von „Eleanor Rigby“ brachte das vollbesetzte Zelt in die groovende Entspannungsphase, was nicht nur an der sanften Stimme der Sängerin Tokunbo Akinro lag. Denn mit Morten Klein an Tenorsaxophon, Schlagzeug und Gitarre sowie Keyboarder Jens Gebel und Kontrabassist Christian Flohr hatte sie drei höchst inspirierte und musikalisch versierte Mitspieler mitgebracht, die mit harmonischer und rhythmischer Raffinesse die Beatles-Hits gegen den Strich bürsteten.

Würde man „Tok Tok Tok“ in ein Genre pressen, so wäre der Sound der Band am ehesten unter der Bezeichnung „Smooth Jazz“ zu verorten. Doch abseits von Seichtigkeit oder purer Unterhaltungsattitüde überzeugt das Quartett durch seine homogene Spielweise und sein stilsicheres Hinterfragen bekannter Melodien. So wird aus „Come together“ einmal eine soulige Ballade, später ein griffiger Funktitel. „Help“ bekommt eine wesentliche ruhigere Gangart und damit höhere Intensität. Besonders gelungen: „Dear prudence“ als meditativer Exkurs mit intelligentem Interpretationshintergrund.

„Tok Tok Tok“ präsentiert sich locker, mit sparsamen und kenntnisreichen Ansagen und bleibt bei dem Konzert am Sonntagabend nicht nur bei den Beatles-Covern. Eigene Kompositionen für Ray Charles („Oh Lord“)  oder über die Hölle einer Beziehung („The big hell“) zeigen eindrucksvoll die Potenz der Band, die mit solcherart Konzept schon fünfmal den „German Jazz Award“ einheimsen konnten. Die Zeltbedingungen boten dafür einen eindrucksvollen Rahmen, was wiederum dem unaufdringlichen Ton von Jens Voigtländer und dem einfallsreichen und sensiblen Licht von Marco Müller zu danken war. Als beispielsweise Morten Klein in einer kurzen Ansage bedauerte, nur die Tischlampen zu sehen, war das Zelt so schnell erleuchtet, dass der Multiinstrumentalist wohl selbst überrascht wieder die dunklere Variante einforderte. Dafür gab es denn beim mitreißenden Schlusstitel mit Mitsingmöglichkeit auch einen Einsatz der großen Discokugel an der Zeltkuppel, welche das Areal mit eindrucksvollen Sternen übersäte. Mit zwei Zugaben endete ein entspannter und zugleich musikalisch hochkarätiger Abend, und trug dem warmen Sommerwetter vollendet Rechnung.



Spruch des Abends

„Da ist unsere Gage drin.“ Sängerin Tokunbo Akinro von „Tok Tok Tok“, was sich ihrer großen Handtasche befand, die sie zum Auftritt immer auf die Bühne mitbrachte


Fazit

Entspannter Jazz vom Feinsten als lockerer Cocktail zum Sommerabend


Berufsethos, Kartenprobleme  und Edelburger

Wissen Sie, was „ Diplmuspäds“ sind? Morten Klein von „Tok Tok Tok“ gab auf der Bühne zu verstehen, dass in seiner Band Diplom-Musikpädagogen vertreten sind, die von ihrem Bildungsauftrag Gebrauch machen. So konnten denn auch zwei Zuschauer für ihr Beatles-Fachwissen jeweils eine kostenlose CD der Band nach Hause nehmen.

Manchmal kann Erfolg auch Probleme bringen: Spiegelzelt-Intendant Martin Kranz muss jetzt gegen dass Image angehen, dass alle Veranstaltungen schon ausverkauft sind. Denn potentielle Besucher werden im Internet durch die Verfügbarkeitsanzeigen nur über den bisherigen Stand informiert, doch das kann sich am Abend sehr schnell ändern. Manche erscheinen trotz gekaufter Karten doch nicht, so passiert bei dem Eröffnungskonzert mit „Quadro Nuevo“: acht Plätze waren dadurch noch zu vergeben. Und außerdem hält das Spiegelzelt am Abend immer noch ein winziges Kontingent bereit. Wer das Risiko nicht scheut, kann also bei allen Angeboten sein Eintrittsglück versuchen.

Ein ganz anderes Kartenproblem hat der Zeltgastronom Torsten Montag: da seine Speisekarten von Aussehen mit den Programmheften geradezu identisch sind, haben einige Besucher diese Offerten meist irrtümlich mitgenommen. Dabei sind Programm- und Speisekarte zuverlässig zu unterscheiden: das Programmheft ist kleiner.

Torsten Montag ist bemüht, der jeweiligen künstlerischen Darbietung auch lukullisch Rechnung zu tragen. Und so gab es zu dem neuen Beatles-Cover-Album von „Tok Tok Tok“ namens „Revolution 69“ drei verschiedene „Revolution-Burger“: die fast klassische Variante, eine Variation mit Thunfisch und Kapern sowie für den Gourmet-Gaumen den Burger mit Hühnchen, Koriander und Zitronengras. „Kulturburger“ hat es im Zelt allerdings nicht gegeben. Wahrscheinlich ist das in Weimar sowieso eine imaginäre Größe, welche aus Zeitungsfedern entsprungen ist...



6. Mai 2011 TAILED COMEDIANS


Perfekte und humorige Kopierer


Sie kokettieren mit ihrem Alter, denn sie sind in die Jahre gekommen. Schon 1985 schlug in Wiesbaden die Geburtsstunde für die „Tailed Comedians“. Das Gesangsquintett plus Pianisten hatte sich schon damals auf das Schlagerliedgut der 20er und 30er Jahre eingestellt, und galt mit seinem homogenen Klang bald als Perfektkopie der „Comedian Harmonists“.

Stillen Ruhm erlangte das Ensemble durch ihre gesangliche Mitwirkung in dem Vilsmaier-Biopic über diese legendäre Formation, welche ja durch nationalsozialistische Doktrin letztendlich ein kulturpolitisches Opfer dieser Diktatur wurde. Die „Tailed Comedians“ sind sich dieser Tradition bewusst, und weisen in ihrem aktuellen  Programm „Kassenschlager“, welches am Freitagabend das „Spiegelzelt“ wieder vollständig füllte auf diese schmerzhafte deutsche Geschichte mehrmals hin. Und so erklingt, jenseits falscher Schellack-Seligkeit ein Gassenhauer nach dem anderen: der Onkel Doktor mit seinem Kussverbot, die Isabella aus Kastilien, deren Utensilien vom Ensemble sehr zum Gaudi des Publikums präsentiert werden und natürlich der kleine grüne Kaktus, welcher eingangs sehr virtuos auch rückwärts gesungen wird.

Mit dem „Maskenball im Hühnerstall“ oder „Wenn die Sonja russisch tanzt“ bringt das Sextett auch unbekanntere Arrangements der „Comedian Harmonists“ zu Gehör, beschränkt sich aber nicht nur auf das Repertoire dieser Gruppe. Mit Rühmanns Herzensbrecher, der die Frauen schmelzen lässt, Versionen von Duke-Ellington-Standards und dem Zwergenchor aus Disneys „Schneewittchen“ bringen die Tenöre Roman Hölzle und Günther Vögelin, die Baritone Peter Eichenberg und Henning Brühl und Hauptmoderator und Bassist Tobias Gall (Bass) vokal internationale Klasse in den Konzertabend. Souverän begleitet wird die Hitfolge von Dirk Sobe und damit spannt sich der neue Bogen zu Weimar. Denn Sobe ist ja Solorepetitor am DNT und damit durch die dortige Erfolgsproduktion „Veronika, der Lenz ist da“ mit solcherart Musik bestens vertraut. Zugegeben, er kommt etwas steif daher mit seinem beständigen Blick auf die Notenblätter, doch das ist insofern entschuldbar, da er erst seit einem halben Jahr den ursprünglichen Pianisten, der mit dem Ensemble ein Vierteljahrhundert verbunden war, ersetzt. Dementsprechend wirkt Henning Brühl, der partiell mit der Gitarre begleitet, schon souveräner.

Spielbein der „Kassenschlager“ ist der Humor. Kontrastierend zu dem würdigen Auftritt im Frack sind die Requisiten sparsam und effektiv gesetzt. Die Conférencen sind komisch und dramaturgisch gut ausgelotet. Besonders Gall glänzt mit sardonischem Humor, und seine abschließende, penetrante CD-Nötigung gehört zu dem Lustigsten, was die Szene zu bieten hat. Drei Zugaben forderte das begeisterte Auditorium, und trotzdem blieb die absolute Begeisterung aus. Denn der Abend erfüllte die Erwartungen, und das war sowohl seine Stärke, als auch sein Problem. Denn es gab eben keine wirklichen Überraschungen, dafür hohe Perfektion, und deshalb war der Applaus durchaus verdient.



Spruch des Abends

„Wir sehen dieses Programm als Therapie gegen unsere Alterseinsamkeit“

Tobias Gall von den „Tailed Comedians“


Fazit

Gelungener Abend mit Wiedererkennungshits, viel Humor und ohne Überraschungen


Glockenschwund, fliegende Höschen und Abwesenheitsnotiz

Kristjan Schmitt, der Produktionsleiter des Spiegelzelts hat ein Problem: ihm ist seine Glocke abhanden gekommen, mit der er die Vorstellung sonst einläutete. Inzwischen ist für doppelten Ersatz gesorgt, von denen 50 Prozent der Krrrtikrrrtsch trägt. Sonst ist diese Glocke nur zu Weihnachtsauftritten genutzt. Wollen wir also hoffen, dass Schmitt kein weißer Bart wächst...

Die „Isabella aus Kastilien“ ist natürlich einer der Hits des Abends gewesen. Doch wurden die „Tailed Comedians“ dabei vom Pechteufel verfolgt, als sie Isabellas Utensilien präsentieren wollten. Der Riesen-BH blieb in Peter Eichenbergs Fracktasche stecken, und Günther Vögelin warf das überdimensionierte Höschen so schwungvoll hinter sich, dass es sich deutlich sichtbar bei den Scheinwerfern verfing. Was dazu führte, dass sich das Publikum noch mehr amüsierte...

Der Krrrtikrrrtsch bleibt an diesem Abend bei Jocelyn B. Smith unbesetzt, da ich selbst einen Auftritt habe. Ich wünsche aber aus Ilmenauer Ferne viel Vergnügen bei dieser temperamentvollen Sängerin...




5. Mai 2011 QUADRO NUEVO


Furioser Einstieg

Ist es die ungewöhnliche Besetzung, die instrumentale Vielfalt oder die bestechende Virtuosität? Jedenfalls hätte die diesjährige Spiegelzeltsaison mit „Quadro Nuevo“ am Donnerstag kaum besser eröffnet werden können. Vor ausverkauften Areal spielten sich zunächst Intendant Martin Kranz, Stefan Ditt als Köstritzer Hauptsponsor und ZGT-Geschäftsführer Klaus Schrotthofer vergnügliche rhetorische Bälle zu, bis das mit hochkarätigen Preisen geehrte  Quartett aus Bayern schon vom ersten Titel an das Publikum verzauberte. „Quadro Nuevo“ ist viel auf Reisen, und bringt seine Eindrücke durch die Saxophone von Mulo Francel, den Kontrabassisten D.D. Lowka, Andreas Hinterseher am Akkordeon und Harfinistin Evelyn Huber größtenteils eigenkompositorisch auf die Bühne.

Melodiöse Improvisation und punktgenaue Unisono-Passagen prägen das musikalisch international fundierte Gesamtbild und fügen sich zu einem harmonischen Konglomerat, dass den Zuhörer sanft und anspruchsvoll an Sehnsuchtsorte imaginiert: den Khanspalast der Krimtataren, Antiochia, Batumi, dem schwarzen Meer, italienischen Landwegen und korsischen Stränden.

Mulo Francel führt verschmitzt und humorvoll durch den Abend, erzählt von Reiseerlebnissen und seinem Mitleid mit Goethe und belebt mit dem „Samba para Parapente“, der Samba für einen Gleitschirm, mit seinem kopfstehend singenden Akkordeonisten die Operette neu. Stilsicher und spannend arrangiert verbinden sich osteuropäische Folklore mit Latino-Rhythmen, Belcanto mit Swing und jazziger Chorusarbeit. Zudem erweisen sich die Musiker als Multiinstrumentalisten und brillieren auf selten gespielten Instrumenten wie der Psalter (einer Urform der Geige), dem Vibrandoneon (einer Mischung aus Saxophon und Bandoneon) oder dem Salterio (Hackbrett) und der Bassklarinette.

Und weil das Quartett aus Genuss spielt, dürfen natürlich auch Gewürze nicht fehlen, und so vertont man schwungvoll den Biopaprika edelsüß und sehr romantisch den Mohn. Zum Gelingen des Abends tragen zusätzlich das stimmige Licht von Jens Voigtländer und der brillante Ton von Marco Müller bei. Dem abschließenden „Goaz boq Muzik“ aus Transsylvanien folgen noch zwei Zugaben bei der das Quartett „aus der Stille der Nacht“ mit Lowkas sanftem Scatgesang das beseelte Publikum entlässt. Was bleibt ist ein überragendes Konzerterlebnis und Fernweh.


Spruch des Abends

Wissen sie, dass wir in der beständigen Angst leben dass uns das Spielen mehr Spass macht als das Zuhören? (D.D. Lowka von „Quadro Nuevo“)


Fazit

Top-Abend mit grandiosen Musikern sowie stimmigen Licht und Ton.


Zuweisungen und Mitleidsbekundungen

Spiegelzelt-Intendant Martin Kranz, Stefan Ditt als Marketing-Chef und Köstritzer Hauptsponsor und ZGT-Geschäftsführer Klaus Schrotthofer hatten zu Beginn des Abends sichtlich Vergnügen, die Spiegelzeltsaison zu eröffnen. Während Ditt mit einem Ringelnatz-Zitat punktete, bei dem die schönsten Gläser, durch die man die Welt sieht, jene sind aus denen man trinkt, konnte Schrotthofer noch einen draufsetzen. Nachdem er sich vergewissert hatte, das Nike Wagner nicht zu den Gästen zählte (was zu erwarten war) sprach er lobend: „Das Spiegelzelt ist das Bayreuth Weimars“ und heimste damit viel Applaus und Zustimmung beim Publikum ein. Eine späte Genugtuung auch für Martin Kranz, denn Wagner hatte es damals abgelehnt, das „Bierzelt“ (O-Ton Wagner) ist das Kunstfest zu integrieren.

Die Musiker von „Quadro Nuevo“ erwiesen sich als profunde Goethe-Kenner. Nachdem Sie ein Hörbuch über die „Italienische Reise“unter anderem mit Ulrich Tukur aufgenommen hatten, verwies Saxophonist Mulo Francel auch auf die „Venezianischen Epigramme“ und drückte sein Mitleid mit dem Dichterfürsten aus: hatten Goethe doch so viele italienische Damen unerbittlich nachgestellt...

Den musikalischen Genussmenschen war es das wert: auf der Bühne lobten sie ausdrücklich das leckere Mahl, welches ihnen Torsten Montags Catering-Crew bereitet hatte: drei mal Fisch und einmal Penne. Solcherart Anerkennung will ja bei den vielgereisten Gourmets etwas heißen. Ob ihnen aber nach dem Konzert ebensoviel Schnaps in Colaflaschen wie in Transsylvanien angeboten wurde, entzieht sich meiner Kenntnis...



3. Mai 2011


Klimawechsel und Grubenlampe

Die Eröffnungs-Pressekonferenz am Dienstag im Spiegelzelt lässt die Journalisten etwas frösteln, daher ist auch mehr der Kaffee als das Köstritzer Schwarzbier gefragt. In den nächsten Tagen kommt die Heizung, verspricht Intendant Martin Kranz, denn man will für alle Witterungsbedingungen gewappnet sein. Und das wird man sicherlich auch schaffen.

Im vorigen Jahr gab es ja bei Hitzegraden im Spiegelzelt immer den „Saunaeffekt“: erst hieß es Schwitzen für Gäste , Künstler und Gastronomie, im Laufe des Abends kühlte es sich ab, und die Zeit für Stolas und Jacken war gekommen.

Das neue Zelt ist nicht nur größer, sondern viel besser klimatisiert. Das höhere Zeltdach sorgt für besseren Luftaustausch, zudem hat man drei Lüfter eingebaut, die zusätzlich für angenehme Temperaturen sorgen.

Kennen Sie den Film „Hancock“? Da läuft der Superheld, gespielt von Will Smith, mit einer markanten Wollmütze durch die Gegend, um zu retten, was zu retten ist. Ein Déjà-vu-Erlebnis hatte ich, als mir der technische Produktionsleiter Kristjan Schmitt begegnete, denn der trug auch so eine Wollmütze, verziert mit einer kleinen Grubenlampe. Schmitt muss eben noch viel im Zelt-Untergrund arbeiten, da wird er solche Beleuchtung wohl brauchen. Mal sehen, was die „Malediven“, die letztjährigen Publikumslieblinge zu Schmitts Outfit sagen. Eigentlich wollten sie ihn ja schon im vorigen Jahr mitnehmen, doch das Spiegelzelt-Team lässt ihn sicher nicht ziehen: Sie wissen schon, was sie an ihm haben...



3. Mai 2011

Neue Dimensionen

Im siebenten Jahr erobert es  neue Dimensionen: das Weimarer „Spiegelzelt“, welches morgen mit den rasanten Tangorhythmen von „Quadro Nuevo“ eröffnet, ist größer und nicht nur klimatisch luftiger geworden. Fünfhundert Sitzplätze garantieren eine neue arena-artige Größenordnung und machen die Bühne von jedem Nischenplatz einsehbar.

Im diesjährigen Angebot setzt man den Schwerpunkt auf politisches Kabarett mit Hochkarätern wie Andreas Rebers, Willy Astor und dem legendären Georg Kreisler. Zudem begrüßt man wieder liebgewonnene Bekannte wie Tim Fischer, Pigor & Eichhorn, Alfons und die letztjährigen Publikumslieblinge „Malediva“.

Neben geist- und humorvoller Unterhaltung gibt es auch internationale musikalische Bandbreite mit dem wild swingenden Ray Collins Hot Club, verschiedenen Klezmer-und Chansonformationen, bestechendem A-cappella-Gesang mit HaBanot Nechama (die schon beim Folkfest in Rudolstadt abräumten) und dem deutschen Soulgott Stefan Gwildis, der am 19. Juni den Reigen beschließt.

Insgesamt 38 Veranstaltungen, und eine aktuelle Auslastung von  83 Prozent mit bisher 16000 verkauften Karten schreiben eine Erfolgsgeschichte fort. Erstmals kann der Publikumspreis „Marlene“ online abgestimmt werden, während die Gastronomie in den bewährten Händen von „Montag-Catering“ mit wechselnden Spezialangeboten je nach Künstler und Land verbleibt.

Intendant Martin Kranz sieht das „Spiegelzelt“ als bundesweite Größe angekommen, was der wachsende touristische Zuspruch beweist. Neben täglicher Online-Berichterstattung dieser Zeitung gibt es noch meinen Tipp: der Franke Matthias Egersdörfer (16. Juni): keiner zelebriert so komisch seine schlechte Laune wie er.





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