Spiegelzeltblog 2013

9. Juni 2013


CHANSON IN BESTFORM


Wenn es so etwas wie eine Konstante in der Spiegelzeltgeschichte gibt, dann ist es das Duo „Pigor & Eichhorn“. Schon fünf Mal waren sie hier zu Gast, Thomas Pigor sogar noch einmal zusätzlich mit Cora Frost. Doch was das Publikum an diesem Samstag mit den beiden Chanson-Erneuerern samt Bandverstärkung erlebte, riss das Zelt fast aus den Angeln, und der Krrrtikrrr ist geneigt, dieses Konzert als das Beste zu werten, was er in dieser Saison erlebt hat.

Schon der Anfang ist ungewöhnlich. Die Musiker Jo Ambros (git), Björn Werra (b) und Jan-Peter Eckelmann (dr) stehen mit Benedikt Eichhorn diskutierend auf der Bühne (die sonst bei jedem Konzertbeginn quasi leer ist), Pigor agiert aus dem Saal heraus und Intendant Martin Kranz wird in den musikalischen „Soundcheck“ eingebunden. Und sofort ist man begeistert von der musikalischen und textlichen Qualität, dem flinken Rap und der Sachkenntnis („bei 200 Hertz verzerrt’s“). Es folgt ein Schlagzeugsolo, das Einzige des Abends, wie der Sänger betont, und dann verschwindet Pigor von der Bühne, um Benedikt Eichhorn ein linkisches Warm up zu überlassen. Das ist so komisch, so witzig und so satirisch entlarvend, dass das ausverkaufte Zelt den Künstlern verfallen ist. Viele kennen die Chansons des Duos auswendig, aber es ist nicht nur die Fankurve, die von dem Geschehen begeistert mitgerissen wird.

Der Abend gliedert sich in drei Teile und speist sich hauptsächlich aus vergangenen Produktionen, die aber durch die fantastische Live-Band in völlig neue Qualitäts-Dimensionen vorstoßen. Die „Wurstverkäuferin“ wird zum groovenden Rap, „Dein Freund ist doof“ zur funkigen Rocknummer und der aasige Song von der „Rabenmutter“ als atonales Konzertstück parodiert. Band und Sänger sind in allen Musikstilen überzeugend; das Spektrum spannt sich von Wagner-Ouvertüren bis zu Grunge-Klängen. Während musikalisch ein Hit dem anderen folgt, kann man sich über die Texte schlapplachen. Pigors Spezialität ist es, entweder dem Vertrauten eine völlig andere Richtung zu geben, wenn er beispielsweise die Flugangst, das Funkenmariechen oder das Zölibat thematisiert, oder er findet völlig neue Ansätze zum Heimatgefühl („Maulende Rentner“), oder zum Berliner Stadtschloss („Baut den Palast der Republik wieder auf!“) Das Ganze wird intelligent, witzig und spannend präsentiert. Eichhorn ist wieder der Loser, der jeden Wettbewerb mit Pigor verliert. Ob es um Wagner-Opern, Nudelsorten oder Päpste geht: der Pianist verliert sei Geld immer an den sarkastischen Sänger, und kann es erst durch die Publikumsunterstützung mit dem Absingen der zweiten Strophe der Nationalhymne wieder zurückgewinnen. Denn Benedikt Eichhorn ist der heimliche Sympathieträger. Als ihm gestattet wird, den dritten Teil solistisch einzuleiten, bringt er mit „Sternenhimmel“ eine derart lustige „Anbagger“-Ballade, dass ihm die Herzen entgegenfliegen - bis Pigor wieder das Steuer übernimmt, und ihn in seine Schranken weist. Höhepunkte sind das Lied zum „in den Brandenburger Sand gesetzten“ Berliner „Willy-Brandt-Flughafen“ („Wowereit, open the gate“), der Aufregersong („Nieder mit IT“) der Pigor in intensivste Rage bringt, und der in Weillscher-Manier vorgetragene „Song for the english native Speakers“ („The language of Shakespeare you can smoke in the pipe“). Aber eigentlich sind diese Höhepunkte nicht richtig auszumachen, da das ganze Programm nur aus Höhepunkten besteht. Der bisher längste Zugabenteil der Zeltsaison bringt die Wiederbegegnung mit Hitlers Deodorant, die bissige Chansonparodie vom „Hauptbahnhof in Paris“ und natürlich die Kevins, welche uns raushauen. So entfesselt habe ich das Publikum noch nicht erlebt, das Areal tobt. Und wer weiß, was „Pigor & Eichhorn“ an neuen Chansons noch in „der Hinterhand“ haben („Sie hassen uns wieder“) muss sich um zukünftige Abende dieser Art bei solcherart Produktivität, Esprit und permanentem Einfallsreichtum keine Sorgen machen. Das war meiner Meinung nach der „Marlene“-Abend: eine perfekte Show, mitreißende Musik und textliche Intelligenz genial verbunden. Und jetzt gehen mir die Euphemismen wirklich aus...


FAZIT

Zeltsternstunde und sicherer „Marlene“-Kandidat.


SPRUCH DES TAGES

„Der BER ist momentan der leiseste Flughafen der Welt.“

Thomas Pigor


SPLITTER

Nun ist es freudig-traurige Gewissheit: Martin Kranz verkündete, dass das Nachtigallmännchen nun nicht mehr singt. Denn es hat sein Weibchen gefunden. Da fehlt dann die Zeit zum Trällern, weil es ja mit Nestbau und Ähnlichen beschäftigt ist, wie Stefan Gwildis apostrophierte.


Der Sonntagmorgen war diesmal für Martin Kranz „Radio-Lotte-Zeit“. Beim „Sektfrühstück“ plauderte er, wie in den vergangenen Jahren, mit Svea Geske über das Spiegelzelt-Programm. Dass die Musikredaktion allerdings Wöhlers „Ich überleb’s“ mit der Refrainzeile „Hau endlich ab, da ist die Tür“ als Schluss-Song des Interviews wählte, brachte den „Krrrtikrrr“ dann doch zum Schmunzeln...

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